Niehaus über Sarasin: Hygiene über Hygiene

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Michael Niehaus

Hygiene über Hygiene

  • Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914. (stw 1524) Frankfurt / M.: Suhrkamp 2001. 510 S. Kart. € 17,-.
    ISBN 3-518-29124-6.


So, wie das Wort >Polizei< im 18. Jahrhundert mehr und anderes umfaßte, als heute mit ihm assoziiert wird, so verhält es sich auch mit dem Wort >Hygiene< im 19. Jahrhundert. Für uns meint Hygiene unser Verhältnis zur Sauberkeit. Im 19. Jahrhundert ist Hygiene ein "Zauberwort" (S. 27), das es sehr wohl rechtfertigt, einer Untersuchung, die sich mit ihr beschäftigt, den Untertitel einer "Geschichte des Körpers" zu geben. Der Hygienediskurs – so führt uns Sarasin vor Augen – hat mehr als alle anderen Diskurse beigetragen zur "Konstruktion des modernen Körpers" (S. 27). Er war deshalb so "außerordentlich wirkungsvoll, weil er neuartiges universitäres Wissen mit Traditionsbeständen und populären Vorstellungen zusammen in ein diskursives Schema brachte" (S. 27) und sich damit prinzipiell an jeden richtete, der es sich leisten konnte, Hygieneschriften zu erwerben.

Schon deshalb, weil es so viele dieser Hygieneschriften gibt, hat sich Sarasin mit "Reizbare Maschinen" sehr viel vorgenommen (die Rede ist von einem Sample von 1041 zugrundegelegten deutschen und französischen Texten [vgl. S. 151]). Vor allem aber involvieren diese Schriften und die in ihnen behandelten Themen verschiedene im 19. Jahrhundert sich entwickelnde Wissensgebiete (wie etwa die Physiologie) und verschiedene neuere Wissenschaftsbereiche (wie etwa die Geschlechterforschung).

Erschwerend kommt hinzu, daß das betreffende Gebiet von der übermächtigen Figur Michel Foucaults beherrscht wird, der bekanntlich den ersten Band von "Sexualität und Wahrheit" unter dem Titel "Der Wille zum Wissen" der Formierung des von ihm so genannten Sexualitätsdispositivs im 19. Jahrhundert gewidmet hat. Auch Sarasin verfolgt einen sehr konsequent durchgehaltenen diskursanalytischen Ansatz. Dabei ist die Auseinandersetzung mit Foucault stets spürbar die Hintergrundfolie seiner Darstellung, die im "Epilog" (S. 452–465) dann in eine konkrete Bewertung des Foucaultschen Ansatzes der "Sorge um sich" mündet. Sarasins Untersuchung hat einen weit ausholenden Aufbau, der aber so umsichtig und wohlüberlegt ist, daß er in den folgenden Ausführungen beibehalten wird.

Und auch dies sei noch vorweg gesagt: "Reizbare Maschinen" ist abgesehen von seinen sonstigen Vorzügen ein kompetenter und ergiebiger Führer durch die umfangreiche und vielgestaltige neuere Forschungsliteratur, die sich mit den Fragen des Körpers in unserer Kultur befaßt (dem allerdings nicht zuletzt deshalb ein Sachregister gut zu Gesicht gestanden hätte).

Die Genealogie
des hygienischen Diskurses

Der erste der fünf Teile (S. 32–94) beschäftigt sich mit der Genealogie des hygienischen Diskurses im 18. Jahrhundert. Eine solche Genealogie muß es natürlich geben, weil der Umgang mit dem Körper schon immer zum Gegenstand eines die Medizin im engeren Sinne überschreitenden Wissens gewesen ist. Die Galenische Medizin kennt den Bereich der sogenannten (im 18. Jahrhundert modernisierten) >sex res non naturales<. Dabei handelt es sich um sechs Felder "der auf das Individuum wirkenden Einflüsse und des gesundheitsrelevanten Handelns".

Diese Felder (erstens Licht und Luft, zweitens Essen und Trinken, drittens Bewegung und Ruhe, viertens Wachen und Schlafen, fünftens die Ausscheidungen und sechstens die Gemütsbewegungen) gehen als "Ort der Hygiene" (S. 36) ebenso in den neuen Hygienediskurs ein wie die überkommene Lehre von den vier Temperamenten. Vor allem aber referiert Sarasin die neuen Theorien der Lebenskraft, wie sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts besonders im Gefolge der Reiztheorie Albrecht von Hallers hervortreten. Die Reizbarkeit der Organe, die Hallers Experimente nachwiesen, bahnen den Weg für das hygienische Konzept des Körpers als >reizbarer Maschine<.

Von hier aus attestiert Sarasin dem entstehenden Hygienediskurs, ein "Under-cover-Materialismus" (S. 64) zu sein (erst am Ende des Buches wird man sich so recht darüber klar, daß der Hygienediskurs eigentlich nur unter völlig diesseitigen Voraussetzungen möglich ist). In einer Abhandlung von Pierre-Jean-Georges Cabanis (1802) erblickt Sarasin sogar einen "Vorgriff auf die Subjekttheorien der Postmoderne", weil sie "das Bewußtsein als einen vom Symbolischen strukturierten Ausdruck komplex organisierter Materie versteht", was "jeden Gedanken an eine metaphysische Seele" verunmögliche (S. 87). Die Kehrseite dieses Materialismus ist allerdings ein weiteres grundlegendes Moment des hygienischen Diskurses, mit dessen Skizzierung Sarasin seine Ausführungen zur Genealogie beschließt: die "Biologisierung des Geschlechterunterschiedes", die nicht mehr mit der oberflächlichen "dimorphen Anatomie der Geschlechtsorgane" begründet wird, sondern aus der Tiefe einer geschlechtsspezfischen Irritabilität und Sensibilität emporsteigt (S. 92).

Der Diskurs selbst

Der zweite Teil hat ebenfalls noch mehr oder weniger vorbereitenden Charakter, sondiert aber ein ganz anderes Terrain. Die Rede ist etwa von der häufig an den >sex res non naturales< orientierten und bis ins kleinste vorangetriebenen Systematik der Hygiene-Handbücher, von der institutionellen Verankerung durch Hygiene-Lehrstühle und ihrem Verhältnis zur Physiologie und später zur Bakteriologie. Wichtig und zukunftsweisend ist vor allem der diskursive Raum selbst, den sich die Hygieneschriften erschließen: der Raum der Populärwissenschaft. Sarasin führt aus, daß der hygienische Diskurs "in Nähe und zugleich in Distanz zu der nach Disziplinen spezialisierten wissenschaftlichen Medizin" entsteht – er ist "gleichsam strukturell populärwissenschaftlich" (S. 124). Von diesem Befund aus beleuchtet Sarasin auch die Stellung der Populärwissenschaft in der >Ordnung des Diskurses< (im Sinne Foucaults). Der populärwissenschaftliche Diskurs ist nach seiner Auffassung ein Interdiskurs, der erst dann möglich wird, "wenn sich wissenschaftliche Disziplinen mit ihren Institutionen, Zugangslizenzen und Ausschließungsmechanismen etabliert haben" (S. 125).

Vor dem Hintergrund dieser funktionierenden Ordnung entsteht dann im 19. Jahrhundert ein schnell wachsender literarischer Markt, der sich zu einem nicht geringen Teil mit Fragen zur Medizin und zur Hygiene beschäftigt. Für den diskursiven Status dieses Schrifttums ist entscheidend, daß es zwar antritt, um korrigierend auf die Gewohnheiten und Verhaltensweisen der Leserschaft einzuwirken, daß es dafür aber nicht "auf die Machtverhältnisse des Arzt-Patienten-Verhältnisses in der Klinik abstellen" kann, sondern "von seinen Adressaten >Einsicht<" erwartet, "ohne diese erzwingen zu können" (S. 137).

Mit anderen Worten: Es spricht das Selbstregulierungspotential der Leser an. Viel Mühe gibt sich Sarasin mit dem Nachweis, daß die so ansprechbare Leserschaft das niedere und höhere Bürgertum war. Empirisch – etwa über die Buchpreise – läßt sich zeigen, was ohnehin niemand bezweifeln würde: "Allein schon die bloße Materialität, die reine Äußerlichkeit der Medien dieses Diskurses verrät die Anstrengung der Produktion eines spezifisch bürgerlichen Körpers im Raum des Bürgertums und des Kleinbürgertums" (S. 162) – auch wenn (und gerade weil) sich die Hygienetexte gerne an alle richten möchten.

Der Körper des Subjekts

Eine merkwürdige Eigenschaft dieses Buches besteht darin, daß man nicht so recht weiß, wo sein Zentrum ist. Das mag zunächst als ein Schwachpunkt erscheinen, erweist sich aber dann rückblickend als eine Stärke, die zusammenhängt mit Sarasins großem Geschick, verschiedene Fäden gleichzeitig zu handhaben und mitzuführen. Der Nachteil besteht vielleicht darin, daß man den größten Teil des Buches ein wenig das Gefühl hat, die Hauptsache stünde noch bevor, ohne sich freilich so recht darüber Rechenschaft abzulegen, was denn die Hauptsache sein soll.

Das Ende des zweiten Teils hat den dritten sehr elegant vorbereitet, der sich – so der Untertitel – mit der "Individuierung und Semiotik des bürgerlichen Körpers" beschäftigt (S. 173–259) und von der Gesamtkonzeption des Buches her wohl der anspruchsvollste ist. Zunächst gilt das Augenmerk den vom Hygienediskurs bereitgestellten Differenzen, die es dem Subjekt erlaubten, den eigenen Körper in seiner Individualität (oder genauer: in seiner Besonderheit) zu beschreiben. Erstaunlicherweise war es nicht zuletzt die überkommene Lehre von den vier Temperamenten, die diese Funktion erfüllte (und die aus diesem Grunde auch heute noch nicht völlig außer Gebrauch ist). Sie stellt für die einzelnen Körper ein Raster dar, das – gerade weil es nie ganz paßt – die Möglichkeit bietet, den eigenen Körper (mit einer ihm eigenen, relativen Gesundheit) zu verorten, ohne ihn dabei als Abweichung von einer verbindlichen allgemeinen Norm begreifen zu müssen.

Daneben werden aber vier starke Differenzen benannt, die dem Körper über die Statuierung eines Normkörpers eine "imaginäre Identität" (S. 187) verleihen: Klasse, Geschlecht, Rasse und Die Monster erschaffen den wohlgeformten, weißen, bürgerlichen, männlichen Körper als "Goldstandard" (S. 251). Der Körper des Proletariers ist durch den Exzeß korrumpiert, die Frau wird in ihrer Abweichung vom Mann beschrieben, die sogenannten >niedrigen< Menschenrassen verweisen auf die sogenannten >höheren< Tierrassen, und die monströse Andersheit schließlich "ist so etwas wie ein >Platzhalter<", der – wie Sarasin unter Verweis auf lacanistische Theoriebildungen ausführt – die "auch durch intensivste Hygienepraktiken nicht erreichbare >Identität< bezeichnet und dem hygienischen Körper seine >phantasmatische Konsistenz<" gibt. (S. 211)

Die Frage, was für diesen Körper normal und was für ihn natürlich wäre, ist damit freilich noch nicht beantwortet. An dieser zentralen Frage läßt sich die immanente Widersprüchlichkeit der hygienischen Wahrnehmung des Körpers am genauesten festmachen. Der reiztheorische Ansatz, wie er sich zu Anfang des 19. Jahrhunderts prominent bei Karl Friedrich Burdach in der "Diätetik für Gesunde" (1811) und Charles Londe in den "Nouveaux éléments d'hygiène" (1827) ausbildet, geht von der Vorstellung aus, "dass Krankheit nur das Resultat mangelnder oder übermäßiger Reize" (S. 214) ist, die auf die betreffenden Organe ausgeübt werden. Organe können aber auch auf künstliche Weise neuen Reizen ausgesetzt werden. Auf diese Weise entwickelt sich das Organ und bildet neue Gewohnheiten aus.

In der Konsequenz der Reiztheorie steht ein entgrenzter radikaler Materialismus, den Sarasin im Abschnitt "Mehr-Lust" (S. 217–225) nicht umsonst mit einer an Lacan orientierten Terminologie beschreibt.

Reiz, Gegenwirkung und das Begehren des Organs nach neuen Reizen, nach weiteren Dingen, die auf das Organ einwirken, treiben […] nicht nur den Körper an, sondern ergeben auch die Grammatik einer Sprache, in der die Natur spricht und die das Subjekt verstehen kann. (S. 217)

Konstitutiv für diese Logik des Reizes ist ein "Überschuss […] über das Notwendige, ein encore, ein Zusätzliches, das als Zeichen fungiert, welches immer mehr ausdrückt als das bezeichnete Bedürfnis". Auf diese Weise "entsteht jenes individuelle Wissen von sich, dem Körper und seinen Lüsten, welches das Handeln auch künftig auf jenes Ding lenkt, das ein Organ zum weiteren Genießen braucht" (S. 218), wobei als die "Organe der Lust" "die Haut, die Körperöffnungen und die Schleimhäute" (S. 219) gelten. Auf diese Weise legt die Reiztheorie, in der nichts über das "Genießen der Organe" geht, letztlich ein "blankes Stück Reales frei", das die Hygieniker "nie wieder ganz zudecken können" (S. 226).

Das Problem der Hygieniker im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts ist damit klar umrissen: "Wie kann man den Exzess vermeiden, wie kann man übermäßige Lust als das gefährliche Außerhalb der >natürlichen< Befriedigung eindämmen", wenn überdies "die Angemessenheit eines Reizes nicht anders als durch ein subjektives Empfinden von Lust und Schmerz erkannt wird", wenn es keine Instanz des Verbotes gibt? (S. 225) Die vorläufige Antwort der Hygieniker liegt in einem Regime des Maßhaltens, in einer prekären Balance zwischen dem Zuwenig und dem Zuviel an Reizen – eine "Mitte des Gleichgewichts und der Mäßigung" freilich, die nicht die "Mitte des Durchschnitts" ist, sondern eher eine Art "Mittelstandsprogramm für den Körper" (S. 236). Der Sex ist das Modell, über den dieses Mittelstandsprogramm an den Mann und an die Frau gebracht wird, wobei sich das "Wissen um das richtige Maß […] aus der Erfahrung schrecklicher Folgen" im Falle der geschlechtlichen Ausschweifungen ergeben soll, während derjenige, der sich wohl fühlt "seiner natürlichen Bedürfnisse gewiss sein" darf (S. 239).

Innerhalb des "Normalismus"-Konzeptes von Jürgen Link, auf das Sarasin in diesem Zusammenhang kritisch Bezug nimmt, wird die Hygiene als >protonormalistische< Strategie verortet. Sarasin hingegen würde dem Modell der Hygiene eher das Prädikat >flexibel-normalistisch< zuerkennen wollen, da hier "die Vorstellung einer einheitlichen Norm fehlt und das Moment der >Selbst-Adjustierung< […] eine besondere Rolle spielt" (S. 255). Der hygienische Diskurs erscheint als zukunftsweisend, insofern er sich nicht auf "Sozialdisziplinierung" (S. 256) reduzieren läßt, sondern – obzwar auf aporetische Weise – die relative Autonomie der Subjekte in Anspruch nimmt, an die er sich richtet. Das "gehäufte Auftauchen des Begriffs >normal< seit den 1870er Jahren" bringt Sarasin eher umgekehrt damit in Verbindung, daß die Perspektive der Rassenhygiene die der Individualhygiene zu überlagern beginnt.

Haut, Muskeln und Nerven

So ist der vorletzte Teil betitelt, in dem der Leser nun endlich – nachdem er so lange mit Regularien, Theorien, Modellen und Konzepten aufgehalten wurde – auch mit den ganz konkreten Ratschlägen vertraut gemacht wird, die die Hygieneschriften für seinesgleichen bereit gehalten haben. Aber diese Vorbereitungszeit war nicht umsonst. Die Kapitel über die Haut, die Muskeln und die Nerven (den ganzen Bereich der Ernährung spart Sarasin wohlweislich in seinem Buch aus) dienen nicht bloß der Illustration eines sich wandelnden Körperverständnisses. Vielmehr setzen sie die Theoriearbeit voraus und setzen sie fort.

Allen voran das überaus lesenswerte Kapitel "Geschichte auf der Haut" (S. 264–313), in dem Sarasin uns sozusagen die >Sauberkeit selbst< nahe bringt, also den Kernbereich der Hygiene, obwohl er versucht ist "sich dem Wiedererzählen dieser vollständig überdeterminierten Ursprungslegende des modernen Körpers zu verweigern": "Ist es nicht ein überaus glanzvoller Sieg der Hygieniker, wenn noch 150 Jahre später selbst die kritischsten Kritikerinnen und Kritiker glauben, Segen und Fluch der Zivilisation hingen vom modernen Waschen ab?" (S. 266)

Seiner eigenen maßvollen Einstellung entsprechend versucht sich Sarasin im Gegenzug eher an einer Rekonstruktion, "wie diese ungeheure Bedeutungszuschreibung zustande kam" (S. 267). Sie verdankt sich nicht nur der langsamen "Wiederkehr des Wassers" (S. 267), das in der frühen Neuzeit als Reinigungsmittel völlig zugunsten der Trockenreinigung diskreditiert war, sondern auch einer grundlegenden Verschiebung: Das Ancien Régime rückte die Sauberkeit der sichtbaren, repräsentierenden Teile des Körpers in den Mittelpunkt, während im Hygienediskurs des 19. Jahrhunderts allmählich das stets Verhüllte zum zentralen Gegenstand der Reinigungsprozeduren wird: "Vom Gesicht zum Geschlecht, von der offenen Wahrheit des gewaschenen Antlitzes zur verborgenen Wahrheit der parties sexuelles". (S. 273)

In diesem Zusammenhang analysiert Sarasin den Status der sogenannten crasse (vgl. S. 282 ff.). Für die Apologeten der hygienischen Sauberkeit im 19. Jahrhundert erfolgt die Reinigung der Haut, indem man ihr im buchstäblichen Sinne eine Abreibung verpaßt, bei der sich nach vorheriger Befeuchtung der Haut die "ominösen crasse-Rollen" bilden, die "bei allem möglichen Schmutz nicht unwesentlich auch aus der obersten Schicht der Haut selbst" (S. 292) bestehen. Hier geht es darum, die Empfindsamkeit der Haut zu erhöhen und alles Zweideutige von ihr zu entfernen: Die abgeriebenen kleinen schwarzen Röllchen sind daher "ein ziemlich unfassbares >Etwas< vom Körper des Subjekts" (S. 291):

Die schmutzigen, mit Sexualität konnotierten, wenn nicht überhaupt schwarzen Spuren der Körperlichkeit, die hier von der Haut geschrubbt werden müssen, lassen sich auch als Spuren dessen lesen, was sich manchmal bis zur Fratze des Fremden verdichtet, meist aber nur ein kleines Unbehagen auslöst, ein beunruhigendes Gefühl, nicht ganz sauber zu sein... (S. 298).

Das ist eine Beunruhigung freilich, die die Kultur des täglichen Duschens weggespült hat. Sarasin wagt die Behauptung, daß "mit der crasse zugleich vom Genießen und vom Tod die Rede ist", vom "objet a" (S. 298) in der Terminologie Lacans, und belegt dies durch eine verblüffende Relektüre von Freuds Deutung seines Traumes von den >drei Parzen< in der "Traumdeutung", in der seine Mutter durch Reiben der Handflächen tatsächlich jene "schwärzlichen Epidermisschuppen" hervorbringt, "als eine Probe der Erde, aus der wir gemacht sind" (Traumdeutung. Studienausgabe. Bd. 2, S. 215).

Auch das zweite Kapitel des vierten Teiles, das sich mit der "Modernisierung der Muskelfaser" (S. 313) beschäftigt, dient nicht nur der Illustration, sondern hat auch einen systematischen Stellenwert. Denn einerseits geht es hier um die Frage der Trainierbarkeit und der Steigerung körperlicher Leistungsfähigkeit in ihrem Spannungsverhältnis zu den Gleichgewichtsidealen und Erschöpfungsbefürchtungen der Hygieniker, andererseits wird die Modernisierung der Muskelfaser in den Kontext einer Modernisierung des Geschlechterverhältnisses gestellt. Dabei kommt Sarasin zu dem vielleicht nur auf den ersten Blick erstaunlichen Ergebnis, daß die Muskeln in ihrer Thematisierung durch die Hygieneschriften als ein "androgynes Zeichen für Kraft, Jugend und Schönheit" erscheinen, und also "kein Zeichen für die Differenz zwischen den Geschlechtern" sind (S. 343). Das gendering der Muskeln und der Haut hat die Hygieniker kaum interessiert.

Während also auf der einen Seite die Geschlechterdifferenz in den Hygieneschriften biologisiert und in der Tiefe verankert wird, impliziert der hygienische Diskurs auf der anderen Seite, insofern er sich auf den konkreten Umgang mit dem Körper bezieht, eine Entdifferenzierung der Geschlechter. Die Gesamtkonzeption der Untersuchung legt nahe, daß Sarasin – ohne es allerdings explizit auszuführen – das eine als Gegenstück des anderen und beides zusammen als ein wesentliches Strukturelement der Genealogie unseres zeitgenössischen Körpers begreift.

Am ehesten ließe sich über die Geschlechterdifferenz anhand des dritten Bereiches sprechen, den Sarasin hier thematisiert – nämlich die Nerven. Es zeigt sich aber, daß die Hygieniker über die Nerven, die sich nach dem Modell des Telegraphennetzes vorstellen, an sich nicht besonders viel zu sagen haben. Im allgemeinen propagieren sie eben nur die "Nerven- und Gehirnhygiene" (S. 354) und warnen vor der Überreizung der Nerven. Daher stimmen sie zum Beispiel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein in den Chor derer, die vor den schädlichen Folgen einer Überlastung der Kinder in der Schule warnen. Im Grunde aber geht es, wenn bei den Hygienikern von Nervenüberreizung die Rede ist, immer um die eine Sache, auf deren Erörterung der Leser schon die ganze Zeit gewartet haben wird, und dem der Verfasser nun seinen letzten Hauptteil widmet – um den Sex.

Der gefährliche Sex

Über den gefährlichen Sex gibt es natürlich viel zu sagen. Was Sarasin darüber zu sagen hat, sagt er in Auseinandersetzung mit Foucault, dessen Grundhaltung und Grundannahmen er im Prinzip teilt, von dem er sich aber andererseits auch kritisch distanziert. Insbesondere kommt er, was die diskursiven Effekte der Hygieneschriften betrifft, zu einer Einschätzung, die von der in Foucaults "Der Wille zum Wissen" vorgebrachten abweicht, indem sie das Modell der "Sorge um sich" des späten Foucault ins Spiel bringt:

Ich vertrete die These, dass die zur Regulation des Sex und zur Produktion der >Sexualität< angelegten hygienischen Diskurse im 19. Jahrhundert eine Dynamik freisetzten, die mehr mit Fieber, Neugier und Ergötzen zu tun hatte als mit Gesundheitsrücksichten, eine Dynamik allerdings, die den Sex auch in neuer, vielfältiger Weise >gefährlich< erscheinen ließ. (S. 361)

In dieser Perspektive läßt sich der hygienische Blick auf den Sex nicht mit dem Hinweis auf die >Mikrophysik der Macht< erledigen.

Die "Fragen nach Mäßigung und Exzess", die in diesen Texten immer wieder gewälzt werden, führen Sarasin zufolge "nahtlos hin zur Beschäftigung mit den Technologien der Lust" (S. 362). Denn der Ansatz der Hygieneschriften impliziert eine Ablösung des Geschlechtsverkehrs von der Fortpflanzungsfunktion. Die als reizbare Maschinen gedachten Körper benötigen die eheliche geschlechtliche Betätigung nicht zur Zeugung, sondern eben zur Hygiene. Einerseits gibt es den gesunden Sex und andererseits ist ein Leben ohne Sex ungesund (vgl. S. 386 ff.). Trotz aller Schwierigkeiten, die die Hygieniker im 19. Jahrhundert mit der sprachlichen Bewältigung dieses Gegenstandes hatten, gehören sie "zu den Ersten, die den Sex zu einem Gegenstand des Wissens, der Sorge, ja der ungeteilten Aufmerksamkeit machten" (S. 386).

Das größte Augenmerk gilt dabei der (als Attribut des Mannes gedachten) Kontrolle über die geschlechtliche Betätigung, der Vermeidung des Exzesses, für den es allerdings – da der Gleichgewichtsszustand der reizbaren Maschine das einzige Regulativ ist – kaum mehr als eine vage objektive Richtschnur gibt. Sarasin gibt ein staunenswertes Zitat aus Paul Mantegazzas "Hygiene der Liebe" zum besten, das nach 1887 in Deutschland zwölf Auflagen erreichte. Der Autor stellt ein elfstufiges "Geschlechtsdynamometer" vor, dessen Nullpunkt ("Keine Begierde. Erektion unmöglich") sich in der höchsten Stufe zu einem phantasmatischen Furioso potenter Selbstkontrolle steigert, in dem die "Erektion […] dermassen vom Willen beherrscht werden kann, dass sie mehrere Umarmungen hintereinander, mit oder ohne Ejakulationen aushält, ohne dass zwei Umarmungen durch eine Erschlaffung unterbrochen werden." (S. 369)

Allein die eheliche und genitale geschlechtliche Betätigung ist in den Augen der Hygieniker gesund und geboten – und auch nur dann, wenn sie nicht durch wolllüstige Vorstellungen künstlich gereizt wird. Alles andere rückt letztlich in die Nähe der Onanie, deren verheerende Folgen nun schon verschiedentlich Thema wissenschaftlicher Erörterungen geworden sind. Sarasin weist darauf hin, daß für Foucault über die Kontrolle des onanierenden Kindes der Macht-Wissenskomplex des modernen Sexualitätsdispositivs entstanden sei (vgl. S. 411).

Die Hygieniker des ausgehenden 19. Jahrhunderts beschäftigen sich aber ebenso mit den Folgen der Onanie im Erwachsenenalter und fassen – wie etwa in einem Traktat mit dem Titel "L'Onanisme seul ou à deux" von 1891 – unter diesen Begriff "alle sexuellen Handlungen, die dazu dienen, sich alleine oder zu zweit ohne Penetration Lust zu verschaffen" (S. 407). Sarasin hält es für kennzeichnend für die Hygieneschriften, daß etwa in diesem Traktat zwar die "raffinertesten Techniken der Autoerotik" (S. 407) ausgebreitet, dann aber die schrecklichen gesundheitlichen Folgen ausgemalt und brachiale Gegenmittel vorgeschlagen werden. In schlüpfriger Pointierung dieses ambivalenten Status wird in "L'Hygiène des Sexes" (1890) erklärt, man werde die verschiedenen Perversionen nicht im einzelnen beschreiben, denn "dieses Buch ist nicht für Heranwachsende gedacht, die es mit einer Hand lesen" (S. 386)

Die Erklärung, die Sarasin für den hygienischen Diskurs über die Onanie gibt, ist bedeutsam für die Ausrichtung seiner Untersuchung. Seit der Aufklärung galt die Onanie als die Reinform des Exzesses und der Verschwendung. Entscheidend ist, daß auch die Hygieniker den Exzeß nicht quantitativ bestimmt haben. Es geht nicht einfach um die Verschwendung einer begrenzten Ressource: Der etwa bei Prostituierten verschwendete Samen ist etwas anderes als der bei der Onanie verschwendete, weil es sich in letzterem Falle um eine unkontrollierbare Selbststimulierung handelt: "Der Sex wird den Hygienikern dort unheimlich, wo er sich nicht auf der Ebene des Körpers, sondern auf der Ebene der Vorstellung abspielt" (S. 415) und aufgrund dieser jederzeit gratis zuhandenen Selbstaffektation außer Kontrolle gerät.

Im Grunde – so könnte man die Überlegungen Sarasins weiterführen – gerät der hygienische Diskurs beim Problem der Onanie an seine Grenze, weil sich die Onanie auch als Konsequenz des hygienischen Umgangs mit dem eigenen Körper auffassen läßt – als ein ausgezeichneter Modus der >Sorge um sich<, eine Selbsttechnik, die dort gepflegt wird, wo die Hygieniker den Körper ins Visier nehmen, nämlich jenseits des sozialen Feldes. Die von den Hygienikern entworfenen Schreckensbilder (die übrigens im Szenario vollständigen Kontrollverlustes kulminieren) wären dann nur die Kehrseite dieser Konsequenz und damit ein Insistieren auf der Ebene des Symbolischen, das sich auch in den etwa von Freud analysierten Krankheitsfolgen der Onanisten niederschlägt, die ja nicht Folgen des realen Exzesses, sondern – wie Sarasin darlegt – des sie prophezeienden Diskurses sind.

Könnte man in diesem Lichte auch den "Epilog" lesen, in dem Sarasin seine Untersuchung abschließt? Er fragt sich dort, ob der Begriff der "Sorge um sich", den der späte Foucault aus der Antike gewinnt, "nicht überaus direkt jenem Gestus verwandt ist, mit dem die Hygieniker des 19. Jahrhunderts sich auf die Antike bezogen haben" (S. 464):

Die Selbstregulierung des heiklen Verhältnisses zwischen Freiheit, Gesundheit und Genießen ist nicht nur in Foucaults Antike das Ziel; sie war auch genau das, was die Hygieniker ihre Leser anzustreben lehrten. (S. 465)

Sarasin kann also vom "großen Hygieniker Michel Foucault" (S. 465) sprechen, aber auch vom "Charme eines hermeneutischen Zirkels" der eigenen, auf diese Weise würdig zu Ende gebrachten Untersuchung des >souci de soi<, der "meine eigene Analyse ermöglichte und sie zugleich untergräbt" (S. 464).

Und wir?

Die Überlegungen, mit denen dieses Buch schließt, machen einen Sprung ins ausgehende 20. Jahrhundert und zu uns. Warum aber endet Sarasins eigentliche Darstellung im Jahre 1914? Müßte man sich nicht wünschen (da man sich nun einmal das Wünschen nicht abgewöhnen kann), daß die Darstellung eines vergangenen Hygienediskurses (mit seinen in unseren Augen in mancher Hinsicht befremdlichen Anschauungen und Überzeugungen) ein wenig mehr zur Konfrontation mit unserer eigenen Hygiene genutzt worden wäre?

Sarasin hält sich in dieser Hinsicht maßvoll zurück (und damit also an die Regeln des Hygienediskurses). Am Ende seiner Einleitung begründet er die Zäsur, für die die Zahl 1914 steht, mit dem Aufkommen der den Standpunkt der "Individualhygiene" langsam verdrängenden "Rassenhygiene" am Ende des 19. Jahrhunderts (S. 30). Es sei dahin gestellt, ob sich diese Einschätzung nicht auch aus einer bestimmten Beschreibungsperspektive ergibt. In jedem Falle scheint der Diskurs der Rassenhygiene eine grundlegende Verschiebung zu beinhalten, weil er sich nicht mehr an den einzelnen als solchen richtet. Er adressiert sich vielmehr an den Staat als Regulierungsbehörde des Volkskörpers und an den Einzelnen als sein Organ.

Aber gehört dies nicht wiederum der Vergangenheit an? Nicht umsonst fragt sich Sarasin, ob seine "Rekonstruktion" vielleicht "grundlos mitten in der Geschichte abbricht", da doch "die Faszination für die Hygiene […] bis heute ungebrochen" ist, "wenn auch unter neuen Namen – Körperkultur, sexuelle Revolution, Öko-Bewusstsein oder Wellness" (S. 29f.) – und hier könnte man weitere Namen und weitere Sachen hinzufügen. Und man könnte sagen, daß wir geradezu unter dem Zeichen der Individualhygiene leben. Nur tritt sie nicht mehr unter diesem Titel, sondern unter zahlreichen anderen Titeln auf. Und daher wissen wir nicht, was all das bedeutet, was der hygienische Diskurs in Wahrheit ist. Und vielleicht ist sogar die Rassenhygiene im Begriff, in Gestalt der Gentechnik zu einer Sache der Individualhygiene zu werden. Wohlweislich hat der Verfasser der "Reizbaren Maschinen" darauf verzichtet, sich in den Abgrund dieser Fragen zu stürzen.


PD Dr. Michael Niehaus
Ruhr-Universität Bochum
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Ins Netz gestellt am 02.09.2002
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