Jutta Osinski
Michael Andermatt: Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose. Die
Ordnung der Motive in Achim von Arnims Erzählwerk. Bern u.a.: Peter Lang
1996. 629 S. Geb. DM 105,-.
In seiner Habilitationsschrift verfolgt Michael Andermatt die Leitfragen, nach welchen
Regeln sich die "Fülle an semantischen Informationen" in Arnims Texten
organisiere und welche "diskursive Relevanz" diese Organisation habe (S. 11). Es
geht ihm darum, Grundlagen für einen sinnvoll strukturierten Werküberblick und
eine brauchbare epochengeschichtliche Einordnung zu schaffen; ein angemessenes
Verständnis von Arnims Erzählkunst werde möglich, "sobald die
strukturelle Widerständigkeit der Arnimschen Texte sich dem Diskurs der Litera-
turwissenschaft nicht mehr sperrt" (ebd.). Die literarische Sperre durchbricht der Verf.
dann mit Hilfe von detaillierten und umsichtigen Strukturanalysen im theoretisch-methodischen
Rahmen von Teun A. van Dijks Textlinguistik 1
so gründlich, daß die "Ordnung der Motive" ohne Schwierigkeiten
wahrgenommen und bedacht werden kann.
Untersucht werden sechs Erzählungen, die für Arnims Gesamtwerk
repräsentativ sein sollen. Die beiden großen Romane "Armut, Reichtum,
Schuld und Buße der Gräfin Dolores" (1810) und "Die
Kronenwächter" (1817) bleiben aus poetologischen Gründen, die leider nicht
näher erläutert sind, unberücksichtigt. Man darf aber annehmen, daß
umfangreiche Romane sich für textlinguistische Verfahren kaum eignen. Andermatts
Auswahl folgt chronologischen Prinzipien, damit ein Querschnitt durch Arnims Schaffen
gewährleistet sei. Im Zentrum (Kap. 2) steht ein sehr kurzer Text, "Die
Einquartierung im Pfarrhause" (1816/17), an dem Theorie, Methode und Begrifflichkeit
demonstriert und erläutert werden.
Funktion der Motive
Die Befunde zum Motivkosmos, zu den Regeln der
Motivkombinationen und zur formalästhetischen Funktion der Motive werden
anschließend an fünf weiteren Erzählungen überprüft und im
intertextuellen Zusammenhang bestätigt: an "Hollins Liebeleben" (1801),
"Mistris Lee" (1809), "Isabella von Ägypten" (1811),
"Seltsames Begegnen und Wiedersehen" (1816/17) und "Die Ehenschmiede" (1803/30).
Die inhaltsbezogenen Analysen der Motive und ihrer Ordnung
nehmen den größten Teil der Arbeit in Anspruch (Kap. 3, S. 159-468); es folgen
Untersuchungen von funktional-narrativen Aspekten und deren stilgeschichtlichen Einbindungen
(Kap. 4) sowie von epochenspezifischen Eigenarten des Arnimschen Erzählens (Kap. 5).
Zur Kontextualisierung der textanalytisch gewonnenen Befunde wird van Dijks Ansatz durch
Foucaults - ein wenig umakzentuierte - historische Diskursanalyse ergänzt.
Andermatt kommt zu folgenden Ergebnissen: Es gebe bei Arnim fünf semantisch
voneinander abzugrenzende Motivbereiche. Das sind die erotische, die familiale, die
berufsständische, die staatspolitische und die naturhaft-kosmische Ordnung. Der
Zusammenhang dieser Ordnungen bilde ein Weltmodell, einen Erzählkosmos, der durch
Analogie- und Kontrastbezüge geregelt sei. Erweise sich ein Bereich als harmonisch, z.B.
das ‘glückliche Paar’ in der erotischen Ordnung, so seien auch die anderen Motivbereiche
unter dem Vorzeichen des Glücks als harmonierend dargestellt. Herrsche hingegen in einer
Ordnung Unglück, zeigten sich auch die anderen als gestört. Aufgrund dieses
Analogieprinzips sei Arnims Erzählen durchgehend allegorisierend (S. 132). Die
Kontrastbezüge ergäben sich aus den positiven oder negativen Vorzeichen, unter
denen die vertikal zu denkenden analogen Motivbereiche in den Erzählungen thematisiert
würden. Sie formierten sich in der Opposition von verkümmertem, gestörtem
Leben auf der einen und glücklichem, gelungenem Leben auf der anderen Seite. Bei
Arnim dominiere die gestörte Ordnung, die oft nur notdürftig ins
möglicherweise Sinnvolle umgedeutet werde. Eine dritte Möglichkeit sei die der
Suspension, des Austritts aus der polaren Glück-Leid-Ordnung in eine unbestimmte
Andersartigkeit (S. 468).
Analogie zu Schlegels Ironie-Konzept
Die referierten Ergebnisse betreffen die Ordnung von Motiven als abstrahierten
Erzählinhalten. Was die narrative Funktion von noch nicht abstrahierten
Erzählsequenzen betrifft, bestätigt und differenziert Andermatt "den
Sachverhalt der Offenheit oder Ambivalenz, wie er in der Forschung als Charakteristikum von
Arnims Erzählen gilt" (S. 549). Formalästhetisch seien die Texte so
beschaffen, daß man sie "als literarische Konkretisation von Schlegels Ironie-
Konzept" verstehen könne. Arnim verwirkliche "mit spezifisch
erzählerischen Mitteln Schlegels Prinzip der reflexiven Negation und
Höherführung" (S. 550). Das ist eine Ansicht, die im Vergleich mit den
inhaltsbezogenen Analyseergebnissen ein wenig befremdet, denn: Wenn Arnims Erzählen
vom Analogiedenken geprägt ist und allegorisierend auf eine umfassende Seinsordnung
verweist - gleichgültig, ob unter positiven oder negativen Vorzeichen -, dann kann es doch
nicht zugleich den frühromantischen Ironiebegriff des noch längst nicht
konvertierten, Seinsordnungen zersetzenden Friedrich Schlegel in die literarische Praxis umsetzen?
Andermatt aber zieht ausdrücklich das Fazit: "Mit seinem Verfahren erreicht
Arnim die von Schlegel reflektierte permanente Bewegung oder Progression. Diese führt
bei Arnim letztlich dazu, daß seine Motive in ihrer bejahenden, verneinenden und
suspendierenden Kombinationsmöglichkeit zu ihrer Entfaltung gelangen
können" (S. 550f.).
Hier wird Schlegels Ironiebegriff offenbar als ein rein formales Prinzip verstanden, das die
Darstellung semantisch fixierbarer Inhalte erlaubt, die man in textlinguistischen Abstraktionen
gewinnen kann. Die Rez. vermutet, daß das Schlegel-Mißverständnis Methode
hat; es ist ja der textlinguistische Ansatz selbst, der, wie Andermatt ihn praktiziert, Inhalt und
Form, Semantisches und Narrativ-Funktionales, "Makrostrukturen" und
"Superstrukturen" in verschiedenen Analyseschritten untersucht und so im Verfahren
als getrennt festschreibt, was der Theorie nach zusammengehört. Andermatts
Argumentation beeindruckt durch ihre Stringenz, gedankliche Redlichkeit und Metasprache, ist
aber aus hermeneutischer Perspektive nicht unproblematisch.
Textkohärenz und Makrostrukturen
Um den Motivbegriff zu präzisieren, dessen literaturwissenschaftliche Bestimmungen
variieren, geht Andermatt aus von der Konzeption einer Textkohärenz. Diese meint die
semantische, nicht die grammatische Verbindung von verschiedenen Propositionen als den
Sätzen zugehörigen Bedeutungen zu übergeordneten Sequenzen. Solche
Sequenzen, die größere Bedeutungseinheiten eines Textes repräsentieren,
werden mit van Dijk "Makrostrukturen" genannt. Der Begriff
"Makrostruktur" ist relativ, weil er von Zuweisungen abhängt, die auf
Hierarchisierungen von Sequenzen beruhen. Eine "Makrostruktur" oder, von
Andermatt synonym gebraucht, ein "Motiv" steht um so höher in der
Hierarchie - der "Ordnung der Motive" -, je umfassender und abstrakter es
semantisch gefaßt ist. Die Regeln für die Bildung einer Motivhierarchie sind
festgelegt und streng zu befolgen.
Es geht um "Tilgen", "Generalisieren"
und "Konstruieren" (S. 84), das heißt: Alle Propositionen, die für eine
Interpretation "auf höherer Ebene" nicht von Bedeutung oder die Bestandteil
anderer, überzuordnender Propositionen sind, können aus der fortschreitenden
Analyse ausgegrenzt werden; die "höhere Ebene" wird erreicht in einem
Prozeß verallgemeinernder Abstraktionen vom Konkreten, von der
"Mikroebene" des Textes; in diesem Zuge ist es möglich, aus einfachen
Propositionen komplexere zu konstruieren. Die "Ordnung der Motive" in Arnims
Erzählwerk erweist sich konsequent als eine Hierarchie von
"Makrostrukturen", die von der A- über die B-, C- und D- bis zur Thema-
Ebene T reicht. Die T-Ebene ist Andermatt zufolge "der hohen Makroebene entsprechend
allgemein und kann festgehalten werden als [Bestimmen ‘höhere Geschicke’ die
Schöpfung?]" (S. 116).
Funktion von Superstrukturen
Von den "Makrostrukturen" abzusetzen sind die "Superstrukturen";
diese verhalten sich zu jenen wie die Form zum Inhalt (S. 136f.). Andermatt folgt van Dijks
Schema einer natürlichen, nicht-literarischen Erzählung, ergänzt es um
rhetorisch-stilistische Untersuchungen, um Arnims Erzählkunst gerecht zu werden, und
stellt fest, daß Arnim konventionelle Erzählmuster durchbreche. Eine Vermittlung
von Inhalt und Form im Analyseverfahren scheitert an der Beobachtung, "daß die
abstrakteren oder verdichteten Makroebenen die Merkmale der narrativen Struktur zunehmend
verlieren." Die Form der Erzählung "Die Einquartierung im Pfarrhause"
sei auf der Thema Ebene T, die ja nur noch aus den beiden Makropropositionen + [Höhere
Geschicke] und - [Höhere Geschicke] bestehe, "eindeutig nicht mehr
vorhanden" (S. 156). Aus dieser Beobachtung bleibe der Schluß zu ziehen, daß
es müßig sei, "über die Erzählfunktion von übergeordneten
Motiven zu spekulieren" (S. 157). Das trifft wohl zu, und die Schlußfolgerung
lädt zu weiteren Schlüssen ein, die man ziehen kann.
Andermatt geht offensichtlich von einem objektiven Vorhandensein der abstrahierten
"Makrostrukturen" bzw. Motive in Arnims Texten aus, obwohl er diese Motive
ausdrücklich als Ergebnisse von "Inferenzziehungen", also als Zuweisungen
des Interpreten an den Text, verstanden wissen will (S. 25-27). Gerade wenn jedoch die
höheren "Makroebenen" superstrukturell nicht mehr auszumachen sind und
Analogien und Kontraste erst auf den höheren Ebenen recht deutlich werden, wäre
Vorsicht geboten: Strukturanalysen und Projektionen abstrahierter Motivinhalte werden unter
Umständen ununterscheidbar. Als "Formationssystem von Arnims literarischem
Diskurs" (S. 553) können so schließlich eigene Abstraktionen erscheinen,
ohne daß die Subjektivität des Verfahrens bedacht würde. Das kann man an
einem einfachen Beispiel zeigen: Den fremden Obersten, der sich in der Erzählung
"Die Einquartierung im Pfarrhause" als Vater der Pfarrersfrau erweist, erfaßt
Andermatt auf der B-Ebene als [Gütiger fremder Machthaber]. Zusammen mit dem B-
Motiv [Durch Trost gelindertes Leid] transformiert er unter Anwendung der Tilgungs- und
Generalisierungsregel beide B-Motive auf die C-Ebene [Gestörtes Paar] (S. 89). Das C-
Motiv meint den Pfarrer und seine Frau.
Familiale und erotische Motivbereiche
An dieser Stelle wie auch in später folgenden
Zusammenhängen wird ausgeblendet, daß der Oberst und die Pfarrersfrau von
Anfang an in einer harmonischen Vater-Tochter-Konstellation dargestellt werden, in welcher der
Oberst den Platz des Pfarrers als Hausherrn einnimmt. Man könnte auf der C-Ebene also
auch [Paarglück], nämlich Vater und Tochter, verbuchen. Dazu paßt,
daß der Pfarrer seine späterere Frau schon eingesegnet hatte, was auf die Bedeutung
väterlicher Autorität verweist. Familiale und erotische Motivbereiche sind schon auf
der Mikroebene des Textes so miteinander verwoben, daß man auch andere als die
vorgestellten Ordnungen abstrahieren könnte.
Der Oberst verläßt
schließlich seine Tochter, um sich seinen "tausend lieben Söhnen",
seinen Soldaten, zuzuwenden. Den Hinweis auf die "tausend lieben Söhne"
liest die Rez. geradezu als T-Satz für Arnims Erzählen, während Andermatt
ihn übersieht. Es würde die Trennung der familialen, der berufsständischen
und der staatspolitischen Motivbereiche erschweren, wenn das Regiment als große
Familie, die über die Nichtigkeit der kleinen hinausführen kann, ernstgenommen
würde. Auch die Zuordnungen zur Glück-Leid-Opposition fielen anders aus, wenn
man einmal bis zur T-Ebene verfolgte, wie im Text eine Männerwelt konstruiert wird, aus
der das Weibliche als Gleichberechtigtes ausgeschlossen ist. Andermatt hat die Erzählung
ganz anders gelesen als die Rez., für die sowohl das Gebaren der Pfarrersfrau, die nur als
dienende Magd oder als Tochter charakterisiert ist, als auch die weiblichen Konnotationen von
Tod, Täuschung und Identitätsverlust T-verdächtige Motive sind, mit deren
Hilfe sich Arnims Werk nicht unplausibel nach gender-Kategorien ordnen ließe.
Das alles bedeutet nur, daß "Makrostrukturen" und ihre Hierarchisierung
tatsächlich Ergebnisse von Inferenzziehungen und keine objektiven
Textgrößen sind - was in der Habilitationsschrift zwar zugegeben (S. 27), aber nicht
beherzigt wird. Und diese Ambivalenz ist verständlich. Denn wenn die vorgeführten
Strukturanalysen auch nicht "objektiver" als andere Arnim-Interpretationen
wären, stellten sich Zweifel daran ein, ob sich der textlinguistisch-strukturalistische
Analyseaufwand zur Ordnung und Einordnung von Arnims Erzählkunst überhaupt
lohnt. Die Rez. gesteht, solche Zweifel zu haben.
Bekenntnis zum Methodenpluralismus
Das Buch umfaßt 628 Seiten, von denen etliche kein Lesegenuß sind. Wenn
Arnims Texte "von Leserinnen und Lesern schon mal als Zumutung erlebt werden"
können (S. 135), bleibt anzumerken, daß Andermatts Ausführungen (z.B.
Kap. 2.3) streckenweise ähnliches befürchten lassen. Strukturanalysen in
Anlehnung an van Dijk sind eine so anstrengende Lektüre, daß viele Leser eher die
literaturwissenschaftliche als die literarische Widerständigkeit von Texten als Sperre
wahrnehmen dürften. Hinzu kommt, daß die ideen- und stilgeschichtlichen Einordnungen
der Erzählungen ins "Archiv der Goethezeit" (Kap. 5) zwar leichter
zu lesen sind, aber nicht gerade zu überraschenden Erkenntnissen führen: Arnims
Werk bleibt Diskursen der Romantik verpflichtet. Das wird umsichtig dargestellt und beruht auf
einem Bekenntnis zum Methodenpluralismus: Der textlinguistische Ansatz steht zwar im
Zentrum des Interesses, soll aber ausdrücklich nicht allein maßgebend sein.
Ergänzt wird er nicht nur durch die historischen Diskursanalysen, sondern auch durch
rezeptionsgeschichtliche (Kap. 1.3) und erzähltheoretische (Kap. 2.3 und Kap. 4)
Fragestellungen.
Die Einzelbefunde und -ergebnisse sind so zahlreich, daß sie hier nicht
mehr referiert werden können. Sie beruhen auf profunden literar-, philosophie- und
wissenschaftsgeschichtlichen Studien und erlauben einleuchtende Kontextualisierungen der
Strategien von Analogie und Polarität, die Arnims Werk prägen.
Das Buch führt Arbeiten zum "Romantischen
Figuralismus" und zum "Konfigurativen Strukturprinzip", wie sie von Horst
Meixner 2 und Helene M. Kastinger Riley 3 begonnen wurden, fort und erweitert, ergänzt und differenziert
Interpretationsansätze, die sich auf Organisationsprinzipien Arnimschen Erzählens
beziehen. Die Intention ist weniger, Neues über Arnim zu bieten, als vielmehr ein solides
texttheoretisches Fundament und theoriegeleitetes Analyseverfahren vorzuführen, damit
die Arnim-Forschung fortan mit abgesicherten Befunden arbeiten könne. Der Versuch
verdient Beachtung.
Prof. Dr. Jutta Osinski
Philipps-Universität Marburg
Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien
Wilhelm-Röpke-Straße 6A
D-35039 Marburg/Lahn
Preprint der im Internationalen Archiv für Sozialgeschichte
der deutschen Literatur (IASL) erscheinenden Druckfassung.
Ins Netz gestellt am 13.07.1999.
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