Päsler über Lehmann/Kolasa: Die Trophäenkommissionen

Ralf G. Päsler

Klaus-Dieter Lehmann / Ingo Kolasa (Hg.): Die Trophäenkommissionen der Roten Armee. Eine Dokumentensammlung zur Verschleppung von Büchern aus deutschen Bibliotheken (Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, Sonderheft 64) Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1996. 251 S. Geb. DM 108,-.

Wie kein anderes Ereignis hat der Zweite Weltkrieg auch die europäische Kulturlandschaft in diesem Jahrhundert zerstört, Kunstschätze aller Art wurden aus ihren Sammlungen gerissen und an neue Orte verbracht, nicht zu reden von den Verlusten. Erschwerend kam hinzu, daß Informationen über die in den Osten Europas verschleppten Kulturgüter lange nur spärlich an die Öffentlichkeit gelangten. Erst mit der Öffnung des >Eisernen Vorhangs< lichtete sich auch hier der Schleier, und es wurde das Ausmaß sichtbar, in dem die Rote Armee zu Kriegsende und in den ersten Nachkriegsjahren Kunstschätze aus Deutschland in die Sowjetunion transportiert hat. Aber erst fünfzig Jahre später konnten einschlägige Arbeiten wie die von Akinscha / Koslow und Knyschewskij 1 erscheinen.

Als besonders markante Beispiele sind der Schatz von Troja zu nennen oder die geheimen Bilderdepots. Nicht weniger spektakulär, wenn auch in den Medien nicht so präsent, sind hingegen die Schicksale von Büchern und Bibliotheken, auf die die beiden genannten Arbeiten eher am Rande eingehen. Wie groß aber auch hier die Verwerfungen sind, mag das Beispiel Königsberg andeuten: Keine der beiden großen, im 16.Jahrhundert entstandenen Bibliotheken – Staats- und Universitätsbibliothek und Stadtbibliothek – sowie diejenige des Staatsarchivs existierten nach Kriegsende weiter. Heute sind ihre (Rest)Bestände weit verstreut und finden sich etwa in Berlin, in Thorn, Wilna, St. Petersburg oder Moskau.

Mit den politischen Veränderungen eröffneten sich jedoch auch hier neue Perspektiven. Im Rahmen der Restitutionsgespräche fand im Dezember 1992 in Moskau ein "runder Tisch deutscher und russischer Bibliothekare" 2 statt. In einem als sensationell zu bezeichnenden Vortrag berichtete, auf breite Quellenbasis gestützt, Evgenij Kusmin erstmals über Organisation und Umfang der Verschleppung von Büchern seitens der Sowjetunion. 3 Als Ergänzung dazu ist der 1995 von Ingo Kolasa erschienene Aufsatz Sag mir wo die Bücher sind... 4 zu lesen. Die diesem Aufsatz zugrundeliegenden Dokumente werden nun mit dem vorliegenden Band auch der Öffentlichkeit vorgelegt. Dessen Publikation verzögerte sich längere Zeit, weil die Herausgeber einerseits hofften, "daß die russische Seite offiziell diese Informationen veröffentlich[en]" (S.11) würde, zum anderen, weil Lücken geschlossen werden sollten. Beides trat jedoch nicht ein.

In einer allgemeinen Einleitung (S.7-10) stellt K.-D. Lehmann den aktuellen Bezug dar: Die aufgrund der Verträge von 1990 und 1991 eingerichtete "deutsch-russische Fachgruppe Bibliotheken [...] versucht in kleinen Schritten der Annäherung, solide Voraussetzungen für Lösungen zu schaffen" (S.7). Nach anfänglichen Erfolgen – Zugang zu Institutionen, die entweder fremde Kulturgüter selbst oder Informationen über deren Verbleib besitzen, sowie der bereits erwähnte Beitrag E. Kusmins – bleibt das Interesse auf russischer Seite weiterhin gering. 5

Eingehendere Angaben zu Herkunft und Art der Eruierung der Dokumente durch Kolasa folgen (S.11-13), bevor er die zeitgeschichtliche Situation von 1945/46 bis in die Gegenwart kurz umreißt.

An diese Einleitung schließt sich das "Verzeichnis der Dokumente" (S.21-28) an, eine in die Rubriken-Nummer, Entstehungsdatum, Kurzbeschreibung und Anmerkungen unterteilte Liste. So nützlich diese Übersicht ist, so sehr hätte man es sich doch gewünscht, die in den beiden letzten Rubriken gegebenen Informationen den Dokumenten selbst vorangestellt zu sehen, da sie für deren Verständnis und chronologische Einordnung unverzichtbar sind und die benötigten Zusatzinformationen somit am richtigen Platz gewesen wären. Besonders deutlich wird dies, wenn Dokumente nur in Auszügen (Nr.17) oder geteilt (Dok.1 und 2) wiedergegeben werden.

Die auf den S.33-251 abgedruckten Dokumente werden in einer möglichst nah am russischen Original ausgerichteten Übersetzung von Peter Humenjuk geboten. Ihre Einrichtung ist sorgfältig und übersichtlich, und die beigegebenen Reproduktionen am Ende des Bandes ermöglichen es, sich einen Eindruck von Original und Übersetzung sowie der Präsentation zu machen. Problematisch sind zuweilen jedoch doppelte Transkriptionen von Namen und Institutionen erst ins Russische und dann zurück ins Deutsche. Einige erläuternde Anmerkungen wären hier sehr willkommen gewesen.

Wiedergegeben werden 48 Dokumente unterschiedlicher Länge aus den Jahren 1944 bis 1958 in – soweit es die Rekonstruktion erlaubt – chronologischer Reihenfolge, die somit die Zeit von den Vorbereitungen der Beutezüge, über deren Durchführung bis zu Verhandlungen über Teilrückgaben an die DDR umspannen.

Die beiden ersten Dokumente geben Aufschluß über die akribischen Vorarbeiten: Auflistungen von Bibliotheken und deren Bestände. Werden in Dokument 1 noch Bibliotheken zusammengestellt, die in den NS-Parteiapparat eingebunden sind, um sie aufzulösen und "um deren Wirkungsmöglichkeiten zu beenden" (S.33), so bietet das folgende eine Übersicht über die Seltenheit von Inkunabeln. Der von der Leiterin der Moskauer Staatlichen Zentralbibliothek für Fremdsprachen-Literatur, Margarita I. Rudomino, unterzeichnete "Perspektivplan" (Dok.3) geht bereits weit über Reparationsleistungen hinaus. Nicht nur Lücken sollen geschlossen, sondern ganze Abteilungen durch die Beutebücher erst aufgebaut werden.

Die Dokumente 10 und 11 verzeichnen die Verantwortlichen, "welche mit der Auswahl von Museums- und Bibliotheksgütern in Deutschland befaßt waren" (S.57), mit biographischen Daten und ihren beruflichen Funktionen sowie deren Aufgaben in Deutschland.

Die folgenden Dokumente bieten Übersichten über die Bibliotheken, deren Zustand und deren Bestände (Dok.17), sie bieten Frachtlisten mit z.T. exakten Bezeichnungen der Transportkisten (Dok.12) oder Listen, auf welche russischen Bibliotheken das Beutegut zu verteilen war (Dok.15). Es kann somit von einigen Bibliotheken deren Weg vom Auslagerungsort bis in die Sowjetunion verfolgt werden (vgl. auch Dok.31). Um gerade diese Arbeit zu erleichtern, wäre ein (Orts- und Personen-) Register von großem Vorteil gewesen, um den Zugriff auf Detailinformationen zu erleichtern.

Ziel der Trophäenzüge waren Moskau und Leningrad, zuweilen über Zwischenlager (Dok.33). Hier sollte die Literatur gesichtet und dann über das Bibliotheksnetz verteilt werden, wobei den Wünschen der Bibliotheken Rechnung getragen werden sollte. Letzteres gelang jedoch nicht, und schließlich wurden die Bücher ungeordnet über die Sowjetunion verteilt (Dok.27). So erhielt z.B. die Akademiebibliothek in Tiflis einen größeren Bestand deutscher Bücher, für den sie keine angemessene Verwendung hatte. 6

Anscheinend wurde man in Moskau mit der hereinbrechenden Bücherflut besser fertig als in Leningrad. 1947 wurden in der Moskauer Lenin-Bibliothek über eine halbe Million Bücher und Zeitschriften bearbeitet (Dok.32), während in Leningrad die eintreffenden Büchermengen die Kapazitäten sowohl an Arbeitskräften für die Erfassung als auch an Depots überstiegen, so daß ganze Waggonladungen Bücher unsachgemäß gelagert wurden und verkamen. 7

Nicht immer erreichten die Bücher auch ihr vorbestimmtes Ziel. Wie Dok.27 belegt, hatte M. Rudomino Bücher für ihre eigene Bibliothek reserviert, die jedoch im allgemeinen Kompentenzwirrwarr dort nicht ankamen. Oder es fehlen die Empfangsbestätigungen für einen aus 47 Waggons bestehenden Bücherzug (Dok.42). Dennoch profitierten vor allem die großen Bibliotheken Moskaus und Leningrads von den Bücherlieferungen, zumal allein sie Empfänger der wertvollsten Stücke – Handschriften, Inkunabeln, seltene Drucke – waren.

Eine der wenigen – nicht einmal vollständigen – Rückgaben ging 1956/57 von Leningrad nach Gotha. 8 Der Beschluß dazu erfolgte in den höchsten politischen Gremien, in diesem Fall am 22.7.1955 im ZK der KPdSU. Der entsprechende Protokollauszug (Dok.43) ist als "Absolut geheim" eingestuft. Der Beschluß umfaßt auch die Bestimmung, "daß die Übergabe [...] an die DDR ein wichtiger politischer Akt sein muß" (S.237).

Der größte Teil der Kulturgüter blieb jedoch weiterhin in der UdSSR. Es wurden Überlegungen angestellt, was man zurückgeben könnte und was zweckmäßiger in der UdSSR verbleiben sollte; in Dok.45 heißt es u.a. dazu: "Für die weitere Aufbewahrung in der UdSSR ist Archivmaterial (Originale oder Kopien) bestimmt, das von wissenschaftlichem, operativem und politischem Interesse für die Behörden und Organisationen der UdSSR ist" (S.241).

Die vielfach von Rußland als Mauer vor den deutschen Rückgabeforderungen aufgebaute Behauptung, daß auch Deutschland die während des Krieges unrechtmäßig erworbenen Kulturgüter seinerseits zurückzugeben hätte, erweist sich – vielleicht nicht ganz, so doch aber im Kern – als Leerformel, denn mit der Ausfuhr der Trophäen sind auch die aus der Sowjetunion geraubten Stücke zurückgelangt (vgl. Dok.12, S.63, die unter den Zeichen "UAN GERB" bis "NOV.EST" erwähnten Objekte).

So fragmentarisch das Bild im einzelnen noch bleibt, belegen die Dokumente doch in extenso:

  1. die gute Vorbereitung der Beutezüge
    (Informationszusammenstellungen über Standorte von Sammlungen und deren Inhalte);
  2. die wohlorganisierte Durchführung von deren Abtransport;
  3. deren ideologische Rechtfertigung: Ergänzung eigener Bibliotheken aufgrund der Kriegsverluste, Zerschlagung von Nazibibliotheken;
  4. das bewußte Zurückhalten von Informationen gegenüber deutschen Stellen.

Es ist das große Verdienst Kolasas, die vorgelegten Dokumente ausfindig, ausgewertet und jetzt auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu haben. Für viele Bibliotheken knüpft sich daran die Hoffnung, mehr über den Verbleib noch immer als verschollen gemeldeter Bestände zu erfahren. Es ist zu hoffen, daß weitere solcher Bestände entdeckt und vor allem der Forschung wieder verfügbar werden.

Was bestehen bleibt, ist "ein außergewöhnliches zeitgeschichtliches Dokument" (S.10), das zeigt, wie Kunst und Kultur, wie Bücher und Bibliotheken politisch instrumentalisiert wurden und werden.


Ralf G. Päsler
Universität Oldenburg
Fachbereich 11, Germanistik
Postfach 2503
D-26111 Oldenburg

Ins Netz gestellt am 12.01.1999.

Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit ist given to the author and IASL online.
For other permission, please contact IASL online.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASL rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück ]



Anmerkungen

1 Konstantin Akinscha, Grigori Koslow: Beutekunst. Auf Schatzsuche in russischen Geheimdepots. München: dtv 1995 und Pawel Nikolaewitsch Knyschewskij: Moskaus Beute. Wie Vermögen, Kulturgüter und Intelligenz nach 1945 aus Deutschland geraubt wurden. München, Landsberg am Lech: Olzog 1995.  zurück

2 Klaus-Dieter Lehmann und Ingo Kolasa (Hg.): Restitution von Bibliotheksgut. Runder Tisch deutscher und russischer Bibliothekare am 11. und 12. Dezember 1992. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1993 (Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, Sonderheft 56). – In die Restitutionsgespräche sind nur Bibliotheken aufgenommen, die sich auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland befinden; die oben genannten Beispiele aus Königsberg bleiben ausgeklammert. zurück

3 Ebd., S. 70-79. zurück

4 Ingo Kolasa: Sag mir wo die Bücher sind ... Ein Beitrag zu >Beutekulturgütern< und >Trophäenkommissionen<. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 42 (1995), S. 339-364. zurück

5 Hinzuweisen ist darauf, daß auch anders ausgerichtete Bestrebungen existieren. Neben den bereits genannten Arbeiten von Akinscha, Koslow und Knyschewskij ist auch das Buch von Juri Nikolajewitsch Iwanow: Von Kaliningrad nach Königsberg. Auf der Suche nach verlorenen Schätzen, Leer 1991, zu nennen, das den schwierigen Versuch beschreibt, die Vergangenheit dieser Stadt vor 1945 – die nach dem Willen der Sowjetunion völlig gelöscht werden sollte – wieder lebendig werden und zu ihrem historischen Recht kommen zu lassen. Dazu gehört auch jene Episode von der Rückführung von ca. 300 Bänden aus der Wallenrodtschen Bibliothek, einer im 17. Jahrhundert von der Familie von Wallenrodt gegründeten und seit 1909 im Besitz der Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg befindlichen Adelsbiliothek von regionalhistorischem Wert (ebd., S. 289ff.). zurück

6 Vgl. Klaus Garber: Eine Geste für Europa. Endlich daheim: Georgien gibt Deutschland 100 000 Bücher aus dem Beutegut des Zweiten Weltkriegs zurück, in: Die Zeit, Nr. 46 vom 8.1.1996, S. 52. zurück

7 Vgl. Jewgenij Kusmin: Das Geheimnis der Kirche von Uskoje, in: Bibliotheksdienst 25 (1991), S. 353-361 und Ralf G. Päsler: Auf der Suche nach Königsberger Handschriften. Bericht einer Exkursion nach Kaliningrad, St. Petersburg, Wilna und Thorn, in: Preußenland 34 (1996), S.1-10, hier S.3. zurück

8 Eine Kopie des Befehls zum Abtransport der Gothaer Bibliothek in die UdSSR findet sich im Archiv der Akademie der Wissenschaften, St. Petersburg, Fond 138 op. 3-1946 Nr. 23, Bl. 22. zurück