Pethes über Kittler:Austreibung der Kultur aus der Kulturwissenschaft

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Nicolas Pethes

Austreibung der Kultur aus der Kulturwissenschaft

  • Friedrich Kittler: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. München: Fink 2000. 260 S. Kart. DM 38,-.
    ISBN 3-7705-3418-2.


Die Finanzverwaltung der Berliner Humboldt-Universität arbeitet heute in parzellierten Räumlichkeiten, die vor knapp 200 Jahren noch ganzheitlicher Schauplatz der Offenbarung des Weltgeistes gewesen waren. Daß der Hörsaal 6, in dem G.W.F. Hegel gelesen hat, heute nicht mehr existiert bzw. in Buchhaltungsbüros umgewandelt wurde, ist dabei kein Zufall: Ist doch genau Hegels Lebenslauf der markante Ausgangspunkt für die Karriere des deutschen Wissenschaftlers als Staatsbeamter. Wer eine solche Verbindung zwischen idealistischer Philosophie, Intellektuellensozialisation sowie Verwaltungs- und Architekturgeschichte in den Blick nimmt, der sucht nach Kontexten der Geistesgeschichte, welche Suche in jüngerer Zeit wieder unter dem revitalisierten Rubrum der "Kulturwissenschaft" firmiert.

"Hegels Leben als Kulturgeschichte" zu verstehen (S. 93) – das alles und noch viel mehr unternimmt Friedrich Kittler in seiner jüngst in Buchform erschienenen Vorlesung aus dem Sommersemester 1998, die aus den erwähnten Gründen nicht in dem "philosophischen Heiligtum" (S. 92), Hegels Hörsaal 6, gehalten werden konnte. Im Pathos solcher Wendungen teilt sich einiges von Kittlers Verve mit, mit der er es unternimmt, als Kulturwissenschaftler an der HU die Geschichte der Kulturwissenschaften von Vico bis Heidegger nicht nur zu resümieren, sondern diese Geschichte selbst in ihren kulturellen Kontexten zu positionieren – als Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft also.

Ausschlußprogramme

Wer diese geradezu luhmanneske Wendung im Buchtitel überliest, gerät rasch auf die falsche Fährte: Denn bei flüchtiger Lektüre scheint Kittlers tour de force wie ein Rückfall hinter all das, was in der Medienwissenschaft als Grundsatz der "Kittler-Schule" begriffen und mit der Kategorie "Hardwaredeterminismus" ebenso schlagwortartig zusammengefaßt wird, wie sich Kittler und seine Schüler selbst gerne ihren Gegenständen nähern. Wie anders dagegen scheinbar die Vorlesung: Kittlers emphatisches Bekenntnis zur europäischen Geistesgeschichte (der er doch vor 20 Jahren noch den Geist auszutreiben beabsichtigt hatte) (S. 248), seine Hinwendung zum Roman des 19. Jahrhunderts (S. 123), seine Kanonisierung "gewisse[r] heilige[r] Texte unserer Wissenschaft" (S. 17) und nicht zuletzt der typologische, wenn nicht teleologische Aufriß der gesamten Vorlesung (S. 15) scheinen geradezu die andere Seite der >offiziellen< Lehre aufzurufen: "Wie sie wissen übt meine Vorlesung die Klassikerlektüre ein"(S. 66).

Das scheinbare Paradox löst sich, wenn man den Gattungsnamen des Buches beim Wort nimmt: Denn Kittlers Kultur geschichte fragt vornehmlich nach den Begleitumständen der jeweiligen theoretischen Modelle, die er referiert, und dabei vor allem nach jenen, die innerhalb dieser Modelle ausgeblendet werden und gerade deshalb um so wirkungsvoller ihren Einfluß ausüben können. Solche im Rahmen vorheriger Kulturgeschichte als "Begleitumstände" verbuchte und dann vernachlässigte frames der Kultur sind die erwähnte Verbeamtung der Intellektuellen, die positiven Wissenschaften, der Krieg als Vater aller, auch kulturwissenschaftlicher, Dinge und schließlich – man ahnt es bereits –, die Medien. Seit Vico programmiert sich Kulturwissenschaft durch das, was sie ausschließt: Mathematik und Naturwissenschaft nämlich, und erst mit Heidegger gewinnt sie die Einsicht in die Vorgängigkeit der Technik wieder. Diesen Bogen schlägt Kittler in seinen auf zwölf Sitzungen verteilten fünf Kapiteln und seiner immanenten Logik folgt die Auswahl der nur im Lichte von Kittlers eigener Erzählung sakrosankten Texte.

Experiment und Prophetie

Giambattista Vico begründet die kulturwissenschaftliche Fragestellung in Abgrenzung gegen Descartes: Im Unterschied zur unanschaulichen Algebraisierung des cartesischen Rationalismus gibt er dem menschlichen Erkenntnisvermögen nur solches zur Aufgabe, das auch von Menschen geschaffen wurde: Kultur, nicht Natur. Die folgenreiche Trennung von Naturgesetz und "Selbstgemachte[m]" (S. 30) ist dabei jedoch insofern von vornherein untergraben, als Vicos Scienza nuova bei aller Distanz zu Descartes "insgeheim [...] doch von ihm [lernt]" (S. 31). Die Etablierung einer Kulturwissenschaft gegen eine Naturwissenschaft trifft sich mit letzterer im Moment der Vorhersagbarkeit: Die "geheime Prophetie und Zukunftsgewißheit" in Vicos zyklischer Erzählung vom Ursprung der Menschheit korreliert exakt mit der Wiederholbarkeit, die das epistemologische Modell des Experiments seit Galilei in die positiven Wissenschaften eingeführt hat (S. 42).

Es ist also gerade die Geschichtsphilosophie, hinter deren Rücken die "Mathematisierung Europas" (S. 80) ungehindert arbeitet, und das blieb keineswegs unbemerkt: Der Graf von Volney, dessen von Reiseeindrücken gesättigter kulturwissenschaftlicher Roman Die Ruinen 1791 erscheint, "wollte sich mit Vicos Trennung zwischen Kultur- und Naturwissenschaft nicht mehr abfinden, sondern versuchte als einer der ersten, Kulturgeschichte als ein von Naturgesetzen hervorgerufenes, primitives Mißverständnis eben dieser Naturgesetze zu entlarven." (S. 84) Durch seine Referenz an Gutenberg wird Volney für Kittler zu einem Kronzeugen für eine "Medienwissenschaft in statu nascendi " (S. 79) und auf lange Sicht zum wichtigen Bundesgenossen im Kampf für eine "Kulturgeschichte, die Siliziumchips und Computerhardware nicht mehr systematisch ausschließt" (S. 47).

Rausch und Wissen

Bis dahin jedoch ist es noch ein langer Weg. Die Logik dieses "geheimen Technizismus aller Kulturwissenschaft" (S. 22) jedoch findet Kittler allerorten: bei Hegel, dessen Begriff der "Intelligenz" bereits die geheimdienstliche Doppeldeutigkeit aus "höchste[r] theoretische[r] Konzentration und institutionalisierte[r] Nachrichtenbeschaffung" (S. 117) impliziert; bei Nietzsche, der Kulturwissenschaft zum einen in seinen quantitativen Analysen als "Meßkunst (um nicht Medienwissenschaft zu sagen)" (S. 160), zum anderen in seiner Philosophie mit dem Hammer als "Weltkrieg avant la lettre" (S. 168) propagiert; und bei Freud, für den das individual– wie gruppenpsychologisch so zentrale Unbewußte "unbegriffene Maschinenparks" (S. 209) darstellen.

Dieser Abriß von Hegel zu Nietzsche und Freud reißt diejenige Kluft auf, in die Kittler alle kulturwissenschaftlichen Bemühungen nach Hegel stößt: Insofern der Geist mit Hegel zu sich gekommen sei, könne Kulturwissenschaft nach Hegel nur noch als Wissenschaft vom Sekundären und Ausgestoßenen – "Hegels Ekel" (S. 132) begriffen werden. Erst mit Nietzsche und Freud stößt Kittler wieder auf Nennenswertes. Seine Pointe ist dabei eine "in der Freudliteratur nicht gerade übliche Deduktion der Traumdeutung aus der Geburt der Tragödie" (S. 187): Was bei Nietzsche noch der haltlos zerstörerische dionysische Rausch ist, wird von Freud als Traum funktionalisiert, der aufgrund der Stillstellung des Physisch-Motorischen den destruktiven Energien Wissen – in Form des psychoanalytischen Protokolls – entnimmt: "In die virtualisierende oder prohibitive Klammer des Traums gestellt, verwandelt sich Nietzsches undenkbarer Rausch in wissenschaftlichen Inhalt" (S. 184).

Auf dieser Basis entsteht Freuds Kulturtheorie im Rahmen seiner ethnologischen Generalisierung des Ödipus-Mythos. Dennoch bleibt sie von ihrem nach-hegelschen Makel behaftet: "Bei Vico herrschte das fraglose große Prinzip, daß Menschen eine Weltgeschichte, die sie selbst gemacht haben, auch selber erkennen können. Bei Freud dagegen ist die Kulturgeschichte derart ins Neurologische und Psychiatrische, ins Empirische und Alltägliche umgeschlagen, daß sie nur auf den Krücken einer von Freud selber so genannten Spekulation wieder Anschluß zur allgemeinen Geschichte findet"(S. 189).

Das Ding, der Computer

Diese Tendenz macht Kittler für den Niedergang des Faches verantwortlich, dessen Reanimation sein emphatischer Vorlesungsstil – das "Wir dieser unserer Gemeinschaft namens Vorlesung" (S. 99) – betreibt. Diese Emphase schließt eine mutwillige Verwechslung der Kulturwissenschaft mit den wütend ins unheilige Amerika zurückgewünschten cultural studies ein. Wer wie diese "Kultur durch Alltäglichkeit" ersetzt (S. 249), provoziert Kittler zu einem Bekenntnis, demzufolge "alles darauf ankommt, unserem kulturwissenschaftlichen Nicht-Kanon, diesen ebenso anglophonen wie unbegründbaren Studiengängen, den kleinen alten Mann aus Meßkirch entgegenzusetzen."(S. 221)

Es ist ausgerechnet Martin Heidegger, dessen Phänomenologie und Seinsgeschichte Kittler als Salvation aller Kulturwissenschaft ins Feld führt. Heideggers Einsicht, "daß Natur und Mensch derselben geschichtlichen Technik gehören" (S. 227), rollt die gesamte Tradition der Dichotomisierung von Natur und Kultur von hinten auf und führt sie auf ihre gemeinsame Basis zurück: Das Ding, wie Heideggers berühmter Aufsatz über den Krug von 1950 betitelt ist. Wenn das "fassende Gefäß" bei Heidegger weder Gegenstand der Vorstellung (Descartes), noch technisches Objekt (Aristoteles), noch Abbild einer Idee (Platon) ist, dann ist Heidegger auf der Spur eines Modells der Technik, die sich unter Eliminierung des Subjekts selbst generiert und damit dem Prinzip der sich selbst im Realen schreibenden Zahlen bei Alan Turing gerecht wird.

Heideggers Umkehr zu Kittler

Angesichts dieser Engführung von Ontologie und Kulturwissenschaft wird deutlich, daß es müßig ist, alles Fehlende in Kittlers Kulturgeschichte (besonders die Väter der >ersten< Kulturwissenschaft: Dilthey, Cassirer, Warburg, Benjamin) zu beklagen: Die Vorlesung ist von vorneherein als Fragment angelegt, und daß ihr letzter Teil – die gesamte Geschichte des französischen Strukturalismus, die Medientheorie und die gegenwärtigen Debatten um eine Annäherung von Kultur- und Naturwissenschaften – fehlt, ist nichts weniger als Methode: Nicht nur bezeichnen zumindest die ersten beiden Paradigmen den Ausgangspunkt von Kittlers eigenen Arbeiten und sind damit in seiner Kulturgeschichte mit aufgehoben; überdies kommt diese Kulturgeschichte mit Heidegger zu einer Erfüllung, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur noch nach- und ausbuchstabiert werden konnte.

In dieser Hinsicht stellt Heideggers "Kehre" nichts weniger dar, als das Programm der "Kittler-Schule" selbst:

Also besteht die Kehre im Eingeständnis, daß kein wie auch immer geschichtliches Dasein den Rundfunk hat erfinden können, sondern daß gerade umgekehrt technische Medien wie etwa der Rundfunk über geschichtliche Weisen dazusein bestimmen. (S. 237)

Wenn Sein und Zeit in der Entwicklung der Turingmaschine kulminiert, dann ist Kulturgeschichte endgültig als Geschichte der Entdeckung der reellen Zahlen kenntlich und Kittlers Geschichtsteleologie erfüllt, "daß nach Göttern und Menschen die Maschinen an der Reihe sind" (S. 43).

Die Arbeit, die Kittler einer strikt europäischen Kulturwissenschaft "zwischen Tataren und Kelten, Indern und Scholastikern, Arabern und Germanen" (S. 249) noch aufgegeben sieht, wird dann in der Entdeckung dieses steten Subtextes aller kulturellen Artikulationsversuche des Abendlandes zu suchen sein. Kittlers Kulturgeschichte schließt auf diese Weise bruchlos an seine frühen Arbeiten und Polemiken der 1980 Jahre an, betreibt sie doch nichts weniger, als die Austreibung der Kultur aus den Kulturwissenschaften.

Eine Printfassung dieser Besprechung erscheint in "Medienwissenschaft Rezensionen", Heft 3 (2001)


Dr. Nicolas Pethes
120 Limestone Lane
Santa Cruz
CA 95060, USA

Ins Netz gestellt am 24.07.2001
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