Pethes über Ullmaier: Kulturwissenschaft im Zeichen der Moderne

IASLonline


Nicolas Pethes

Rechnen Sie mit der Kultur!
Johannes Ullmaier versteht und
systematisiert die modernen Künste

  • Johannes Ullmaier: Kulturwissenschaft im Zeichen der Moderne. Hermeneutische und kategoriale Probleme (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur; 84) Tübingen: Niemeyer 2001. 327 S. Kart. € 44,-.
    ISBN 3-484-35084-9.


Die Geburt der Kulturwissenschaft
aus dem Geiste der Mathematik?

Als Friedrich Kittler vor anderthalb Jahren seine Vorlesungen zur "Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft" (München 2000) in Buchform vorlegte, täuschte er all die, die glaubten, er habe seinem technizistischen Ansatz abgeschworen.1 Vielmehr wies Kittler minutiös nach, wie jedem kulturhistorischen Entwurf letztlich die Sehnsucht nach naturwissenschaftlicher Vorhersagbarkeit und mathematischer Präzision zugrunde liegt. Die kriselnden Philologien — innerhalb derer das Werk des Literaturwissenschaftlers Kittlers trotz scheinbar abweichender Fachzugehörigkeit hauptsächlich rezipiert wurde (vgl. Friedrich Vollhardt in Merkur 8 / 2001) — sahen sich plötzlich nicht nur mit dem Schreckensgespenst der Kulturwissenschaft, sondern obendrein noch mit einer mathematisch informierten Rekonstruktion des eigenen Kanons konfrontiert.

Krisen sind bekanntlich höchst produktive Phasen, und so mangelt es auch nach Kittlers Bestandsaufnahme nicht an neuen Publikationen zu Thema und Methode. Johannes Ullmaiers Studie bietet eine ebenfalls mathematisch inspirierte Methodenreflexion für die moderne Kulturwissenschaft an. Die Arbeit benennt, angeregt vom Phänomen des ästhetischen Simultanismus, zu dem Ullmaier bereits ein Buch vorgelegt hat ("Yvan Golls Gedicht Paris brennt", Tübingen 1995), zwei Problemstellungen: "zum einen das gestörte Verhältnis der hermeneutischen Theorie zu Erscheinungen des (Hyper-)Modernismus und der Neuen Medien sowie zum anderen Defizite in der kulturwissenschaftlichen Kategorisierungstheorie und -praxis." (S. V) Beide Probleme fügen sich insofern unter das Dach einer Kulturwissenschaft, als es dieser grundsätzlich darum gehen müsse, unter Beachtung ihres traditionellen Methodenapparats auch solche Gegenstände in den Blick nehmen zu können, deren Verfaßtheit sich demselben Methodenapparat — mitunter programmatisch — entzieht.

Beispiele für diese sehr plausible Problemstellung finden sich zuhauf. Die ästhetische Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts zielte mit ihren Techniken der Montage, des Nonsense und der Hermetik explizit darauf, überkommene bürgerliche Rezeptionsweisen von Kunst ad absurdum zu führen. Und die digitale Kultur am Ende desselben Jahrhunderts modifiziert nicht nur die Materialität und Speichertechnik kultureller Artefakte, sondern vor allem den Habitus ihrer Nutzer. In der Folge sind auch die überkommenen ästhetischen Kategorien — Gattungen, Formen, Epochen — revisionsbedürftig, um moderne und postmoderne Phänomene überhaupt noch fassen zu können.

Ullmaiers Buch ist entsprechend in zwei "Hauptuntersuchungen" unterteilt, "Hermeneutik der Moderne" (S. 89) und "Probleme kulturwissenschaftlicher Kategorisierung und Modellbildung" (S. 213), denen neben einer ausführlichen Einleitung "Leitende Allgemeingesichtspunkte und heuristische Konventionen" (S. 39) vorangestellt sind. Hier diskutiert Ullmaier erstens im Sinne seines hermeneutischen Ansatzes die Unumgänglichkeit einer vorgängigen Wert-Kategorie, der er zweitens mit Hinweis auf ihre evolutionäre Emergenz aber durchaus Historizität zugesteht. Die Frage, wie man angesichts der immer neuen Formexperimente moderner Kunst drittens einer dauernden additiven Ausweitung des kategorialen Gerüsts begegnet, führt Ullmaier viertens zum eigentlichen methodischen Kniff seiner Untersuchung: "Begriffsadaptionen aus der Mathematik" (S. 54), die über "Äquivalenzklassendifferenzierung" neue Vergleichsebenen für das so disparat scheinende Ensemble >Kultur< zur Verfügung stellen sollen.

Diese Äquivalenzklassen bedürfen als "ontologische Basiskonvention" einer "Vier-Welten-Gliederung" (S. 71), deren Einführung die erwähnte historische Relativierung obsolet erscheinen läßt. Ullmaier unterscheidet zwischen W1, der materiellen Welt, W2, der Welt des inneren Bewußtseins, der idealen Welt W3 und der Zwecke- und Wertewelt W4. Verknüpfbar werden diese, indem den einzelnen Welten jeweils eine materielle Trägerschaft (X) sowie ein bestimmter Katalog innerer Repräsentationen sowie zeitlicher und modaler Markierungen (Kleinbuchstaben) zugeordnet werden (vgl. die Übersicht S. 88). Wenn "r" für den Empfänger, "k" für ein real konkretisiertes Ereignis, und "u" für den Sender steht, dann liest sich die Deutung, man höre einen Säugling vor Hunger schreien, wie folgt: "W2r(W4(W1(W3k(W2Kind)) <= W2uKind((W1' (W3k'(W2'Kind))))".

Die Klammern zu und alle Fragen offen. Neben Ullmaiers Graphen (S. 100, vgl. S. 112f.) wirkt Kittlers Mathematik geradezu hausbacken. Der übliche geisteswissenschaftliche Einwand, man lese solches nur ungern oder gar nicht, verfängt aber natürlich nicht. Angesichts der neuen Unübersichtlichkeit hinsichtlich dessen, was Kultur überhaupt darstelle und wie noch über sie zu reden sei, kann ein solcher Formalisierungsversuch durchaus vielversprechend wirken. Die Bringschuld des Beweises aber, daß eine solche Formelsprache ihre Gegenstände besser erschließt als die in allgemeinverständliche Sätze übertragenen Entsprechungen, obliegt dem Autor. Und daß neben allen innerdisziplinären Kommunikationsproblemen Vorsicht mit transdisziplinären Transfers geboten ist, weiß man seit Alan Sokals vernichtender Kritik an der Verwendung mathematischer Schreibweisen durch die — von Ullmaier gar nicht geschätzten — französischen Poststrukturalisten allemal.

Praktisches Verstehen

Welchen Beitrag also leisten die Formeln für eine Systematisierung der verschiedenen Formen kulturellen Verstehens? Die erste Hauptuntersuchung überträgt ausführlich alle Grundkonzepte der traditionellen Hermeneutik (rezipierendes Bewußtsein, Autorintention, Wertaspekt usw.) in die entsprechenden Formeln (W2r, W2u, W4unbewußt etc.) und kombiniert sie untereinander, um auf diese Weise prüfen zu können, was von diesem Traditionsbestand noch greift für eine Kultur des Cyberspace.

Ullmaier gliedert seine Analyse gemäß der zwei hermeneutischen "Kanones" (S. 125 ff.): zum einen, daß der Sinn eines Textes diesem zu entnehmen und nicht etwa in ihn hineinzulegen sei, welche Forderung — zum zweiten — letztlich in das Konzept der Autorintention als letzte Fundierung der Textbotschaft führt. Sehr überzeugend stellt Ullmaier dabei heraus, daß es sich bei dem entsprechenden Wunsch, "W2u als Argument in W2r repräsentiert finden, sprich: jemandem unmittelbar ins Gehirn schauen oder in sein Inneres hineinfühlen zu können," um eine "historisch gewachsene[...] Werthaltung" geht, "welcher die möglichst unmittelbare Teilhabe an der Selbstaussprache eines genialen Individuums zum allgemeinen und in der Folge holistisch in die Methode projizierten Maßstab dient." (S. 135) Authentizität der Lesart ist zunächst ein Postulat, das aber in der Folge erwartungsbildend wirken kann. Dem modernetypischen Gegenentwurf einer ">Hermeneutik der Vieldeutigkeit<" (S. 154) hingegen hält Ullmaier zurecht einen letztlich entsprechenden, wenn auch dieses Mal auf Pluralismus anstatt auf Einheit setzenden, Holismus vor, der wenig mehr als ein "Neuaufguß frühromantischer Ambiguitätskonzepte" sei (S. 160).

Alternativ schlägt Ullmaier ein Modell "praktischen Verstehens" vor, das an die Stelle von Verfügbarkeits- oder Diffusionsphantasmen eine ">zweifache Approximativität<" (S. 163) setzt: Autor und Bedeutung eines Artefakts sind weder wirklich benennbar noch lösen sie sich vollends im Signifikantenspiel auf. Der faktische Rezeptionsprozeß wird sich regulativ an beiden ausrichten, und in diesem Regulativ verortet Ullmaier ein sehr plausibles Refugium für den hermeneutischen Bestand des Umgangs mit Kultur.

Gleiches gilt auch für die in der Moderne nicht mehr taugliche Strukturganzheitsannahme von Kunstwerken, die ebenfalls zu regulativen, dadurch aber erst praktisch nutzbaren "Strukturerwartungen" reduziert werden muß. Am Ende der ersten Untersuchung legt Ullmaier einen Überblick über solche Erwartungen vor: eine "spezialhermeneutische Differenzierung kanonischer Werkformen, Gestaltungsmomente und einiger moderne- bzw. modernismusspezifischer Medien und Besonderheiten" (S. 200). Die betreffenden Felder werden gemäß des basalen Konstitutionsterms für Kulturprodukte, W1 (W3m(W3k(X))) [lies: ein materielles Substrat stellt die mediale Realisierung einer idealen Entität dar] transkribiert. In insgesamt 12 (Nr. 7 fehlt) Schemata werden ästhetischer Erfahrungsgegenstand, Autorfunktion, Text, Bild, Photo, Photomontage, Comic, Tonfilm, Stummfilm, Musik, Schallplatte und Cyberspace gemäß Werkkonstitution, Medienanteil, Repräsentationsmodus und Rezeptionserwartung formalisiert.

Zwar verwahrt sich Ullmaier selbst gegen den Verdacht, die Moderne und ihre Medien "auf einen Nenner" bringen zu wollen (S. 200) und betont, anhand seiner Formelsprache lediglich Verwandtschaftsebenen zwischen Kulturprodukten sichtbar machen zu können, die sonst holistischen Urteilen (Ullmaiers seltsames Beispiel: ">Das visuelle Zeitalter löst das Orale ab<") zum Opfer fallen. Wer sich also in die Schemata vertieft, wird sehen, daß Bilder unmittelbar Synästhesie produzieren können (W3k <= [W1a v W1h]), während Texte die Qualität haben, Aussagen über abstrakte Werte (W3 <= øW4) zu machen.

Spektakulär neu ist das aber alles nicht. Überdies fragt es sich, warum ausgerechnet die Formelschreibweise dem zurecht beanstandeten Einheitszwang hermeneutischer Beschreibungen widerstehen soll. Und schließlich ist eine solche Liste bei aller Relativierung doch zwangsläufig ein Offenbarungseid, da sie die Beschränkung des Untersuchungsfokus unbarmherzig präsentiert: Nicht nur, daß sich zahllose weitere Kulturprodukte denken ließen, die ungenannt und unformalisiert bleiben und daß sich grundsätzlich fragt, warum nur im engeren Sinne ästhetische Artefakte das Ehrensigel der >Kultur< zugesprochen kommen — schwerer wiegt noch, daß mit Ausnahme des Cyberspace keiner der Gegenstände modernespezifisch und das heißt hermeneutikproblematisch ist. Oder anders: An welcher Stelle im Schema >Text< oder >Bild< der Umschlag von einem hermeneutikverträglichen zu einem problematischen Konstitutionsterm anzusetzen wäre, ist nicht zu sehen.

Modellkorrekturen

Vielleicht ist das ja ein Problem der richtigen Kategorienbildung, und diesem Problem widmet sich Ullmaier in seiner zweiten Hauptuntersuchung. Man möchte den Auftritt der Mathematik nun erst richtig erwarten, aber die Formelsprache ist mit einem Mal spurlos verschwunden. Ullmaier geht es in Anschluß an Rickert um eine "nichtszientifische[...] und doch wissenschaftliche Fundierung der Kulturwissenschaft" (S. 214). Diese bedarf allgemeiner Kategorien, um die Gegenstände nicht willkürlich durcheinanderzuwürfeln, es müssen aber Kategorien sein, die der Besonderheit individuellen Verstehens gerecht werden. Ullmaier beklagt, daß die verfügbaren Katgeorien zumeist binär, diskret und hierarchisch verfaßt seien (positiv / negativ, wahr / falsch, wirklich / fiktiv, Klavierkonzert / Violinkonzert) und wenig Spielraum für Alternativen, Zwischenräume oder "Kreuzprodukte" ließen. "Mischformen sind nicht nur möglich, sondern werden bei reflektierendem Umgang gar die Regel sein." (S. 241)

Dem ist rückhaltlos zuzustimmen, und dennoch fragt es sich, warum Ullmaier den Popanz "einer kategorial nach ihren jeweils gemeinsamen und jeweils spezifizierenden Eigenschaften fix zu hierarchisierenden Pyramide" (S. 239) überhaupt aufbaut, wenn er ihn doch gleich wieder vom Sockel hebt. Wer genau ist der Feind, der die Kultur mit seinen trügerischen Rasterungsnetzen überzieht?

Die Tatsache, daß wir — um Ullmaiers Beispiel der Gattungszuordnung aufzugreifen — weitestgehend definitionsunabhängig >wissen<, was Lyrik sei und was nicht, legt die Vermutung nahe, daß sich kulturelle Praxis gar nicht in Kategorien abspielt, und diese nur retrospektive Beobachterkonstruktionen, "etwa für Lexikoneinträge" (S. 255), sind. Die Argumentation wirkt hier noch immer der "strukturellen Naivität" (S. 259f.) eines Nominalismus / Realismus-Streits der Gattungen verhaftet, derer Ullmaier sein erwähntes erstes Buch bezichtigt. Und das, obwohl Ullmaier die Realität kulturwissenschaftlichen Deutens sehr sinnvoll an ">irgendwo dazwischen< liegende Fälle" (S. 265) verwiesen sieht. Zu deren Einordnung wird die Unterscheidung von Wesen und Merkmal vorgeschlagen: Während ersteres stets nach exakt zuordenbaren Fällen sucht (>Ist das ein Aphorismus?<), vermag eine Merkmalsanalyse Aspekte verschiedener Kategorien zu streifen und zu kombinieren (>Es ist aphoristisch, lyrisch etc.<).

Den abschließenden Prüfstein stellt die Erzähltheorie nach Stanzel (Theorie des Erzählens, Göttingen 1979) dar, für Ullmaier das Musterbeispiel eines kategorialen kulturwissenschaftlichen Modells. Stanzel hatte Erzählermodus, Erzählfigur und Erzählperspektive jeweils dichotomisch ausdifferenziert und in einem kreisförmigen Schema so angeordnet, das anhand aller möglichen Kombinationen zwischen den drei Oppositionsgliedern alle möglichen Erzählsituationen idealtypisch repräsentiert waren. Ullmaier kann nun zeigen, wie sehr Stanzel bei dieser Kombinatorik der Zweidimensionalität seines Modells erlegen sei und folglich bei einer dreidimensionalen Darstellung sichtbare Kombinationsformen übersehen mußte (S. 278).

Nach der Algebra folgt nun also die Geometrie der Kultur — und dennoch kann man sich angesichts Ullmaiers Kubisierung des Stanzelschen Kreises des Eindrucks nicht erwehren, daß die durchaus sinnvollen Korrekturen am Modell dennoch stets dieser Modellebene verhaftet bleiben. Obgleich Ullmaier abschließend noch einmal betont, alle Kategorisierungen seien "abhängig von der jeweiligen Fragestellung" und "wohl wissend, daß der geschichtliche Verlauf die Zuschreibung schon bald veralten lassen kann" zu leisten, geht das Konkretheits- und Praxisplädoyer, das sich die Arbeit allenthalben (z.B. S. 52, S. 227) auf die Fahnen schreibt, über weite Strecken des Buches unter.

Moderne Kulturwissenschaft

Nach Lektüre des Werkes herrscht insgesamt der Eindruck vor, man habe zwar viel, aber wenig Neues erfahren. Da Ullmaier die "Herausbildung einer modernebezogenen Spezialhermeneutik" (S. 3) als Grundlagenarbeit ansieht, die daher auch an diesen Grundlagen anzusetzen habe, bleibt kaum Raum für die angekündigte Spezialisierung. Wenn nach einer aufwendigen Herleitung möglicher interpretativer Wertmaßstäbe das Ergebnis lautet, es seien "erwartungsgemäß die üblichen" (S. 47), oder das Buch mit der Aufforderung schließt, "zwischen kategorialer Konstitution und den jeweiligen Ergebnissen, also zwischen [...] möglichen Fällen bzw. Äquivalenzklassen einerseits und den historisch-konkret vorliegenden Erscheinungen andererseits zu unterscheiden" (S. 284), dann muß die Frage erlaubt sein: Wozu der Aufwand?

Der Hinweis, in Zeiten des postmodernen Infernos der Bedeutung sei noch das Bewußtsein für die trivialsten Trivialitäten verlorengegangen, reicht nicht aus. Trivialitäten bleiben es, und Ullmaiers Buch befindet sich daher, selbst wo seine Einwände berechtigt sind, niemals auf gleicher Höhe mit den beanstandeten Theoriemoden. Geschweige denn, daß er diese im Stile einer wirklichen Auseinandersetzung auch nur einmal selbst zu Wort kommen ließe. Das Urteil ist in Ullmaiers wenigen konkreten Bezugnahmen auf das, was Postmoderne und Kulturwissenschaften waren, stets schon gesprochen:

Mag sich solcher Pluralismus auch — im Gegenstand — in dem Maß brechen, wie das, was gegenwärtiger Kulturwissenschaft an >Andersheit< akut wird, just der Allpräsenz eines de facto unifizierenden Sogs hin zum >globalen Dorf< geschuldet ist, sowie — in der Methode — insofern, als das, was sich als jeweils jüngste Kontroverse führt, der Sache nach oft alt, wenn nicht gar uralt ist, so steht die aktuelle Konjunktur der Rede von >Kulturwissenschaften< dennoch ganz im Zeichen des Pluralen — freilich um den Preis, daß dieser Terminus diffus bleibt. (S. 1)

Nicht nur der Terminus, wird man wohl sagen müssen. An den Grenzen der Syntax schlägt das Bemühen um stilistische Extravaganz und Differenziertheit in ihr Gegenteil um und erschwert die Lesbarkeit dieser auf Verstehen setzenden Arbeit nicht unbeträchtlich.

Das Buch nimmt die Herausforderung, der es sich so berechtigt stellt, an keiner Stelle an: Was ist eigentlich Kultur, welchen Gegenstandbereich soll eine Kulturwissenschaft haben, und wie sollen sich die traditionellen literaturwissenschaftlichen Themenbereiche und Herangehensweisen zu den Angeboten verhalten, die sich derzeit >Kulturwissenschaften< nennen? Ullmaier bestimmt Kulturwissenschaft von vorneherein als "ästhetische [...] Kulturwissenschaft" (S. 176). Gegenstände, die derzeit sonst gehandelt werden — Anthropologie, Gesellschaftstheorie, Ethnologie usf. — werden beiläufig in den Fußnoten von dem Tisch gewischt, auf welchem der schmal umrandete Teller des Buches steht: Kultur besteht eigentlich nur aus Kunstwerken, und — insofern Ullmaier sich an der hermeneutischen Tradition abarbeitet sowie Kategorienmodelle aus der Erzählforschung diskutiert — letztlich aus Literatur.

Der Anspruch, eine kulturwissenschaftliche Heuristik zu entwerfen greift damit entschieden zu hoch. Redlicherweise hätte das Buch "Literaturwissenschaft im Zeichen der Moderne" heißen müssen. Das, was Kultur alles sein kann, taucht allenfalls in launigen Detailbeispielen auf: "Welche Fernsehsendungen hat der Verfasser bis dato gesehen, welche Opern (womöglich beim Schreiben) gehört, in welchen Imbißketten gegessen?" (S. 107) Umfassende Beispielanalysen kultureller Phänomene (und seien es künstlerische) führt Ullmaier nicht an. Der angekündigte Simultanismus wird einmal auf S. 222 en passant erwähnt und muß dann wieder der Modelldebatte Platz machen.

Zudem ist fraglich, ob Ullmaier auf der Modellebene seinen Gegenständen gerecht wird: Befinden sich Hermeneutiktradition und moderne Kunstpraxis wirklich in einem dichotomen Verhältnis, oder ist die Kunst nicht vielmehr selbst der Ort, von dem aus diese Unterscheidung konstruiert wird, insofern sie um die an sie gerichteten Verstehenserwartungen weiß und genau deshalb mit den scheinbar so zeitlosen hermeneutischen Kategorien spielen und die Erwartungen systematisch enttäuschen kann? Wie steht es mit kulturwissenschaftlichen Entwürfen — etwa schon bei Walter Benjamin —, die den eigentlichen Wert von Kulturgeschichte gerade nicht in der verstehenden Aneignung des Vergangenen sehen? Und warum schließlich ist das, was wir heute unter Hermeneutik verstehen, ausgerechnet inmitten der klassischen Moderne (Heidegger, Gadamer) entstanden?

Man könnte die durchaus auch für die erste Geburt der philologischen Hermeneutik in der Frühromantik passende These wagen, daß sich Hermeneutiktheorie immer dann besonders verstehensorientiert artikuliert, je mehr sich ihr Gegenstand gegen hermeneutische Erschließung sträubt. Das widerspricht Ullmaiers Beschreibungen gar nicht, es hätte aber unbedingt eine Behandlung verdient. Die Objektivität suggerierende Systematik von Kategorisierungsversuchen stehen zu selbstverständlich neben den subjektiven Verstehensprozessen der Hermeneutik.

Zarte Andeutungen für eine Alternative finden sich erst ganz am Ende, wenn auf den letzten zwei Seiten ein Plädoyer für die "aphoristische Herangehensweise" (S. 300) anklingt. Ein wirkliches Gegengewicht gegen das Voranstehende vermag das in dieser Kürze aber kaum zu bilden. Angesichts des vorliegenden Beispiels für eine mögliche mathematische Kulturwissenschaft wird man sich eine aphoristische also weiter und um so dringender wünschen müssen.


Dr. Nicolas Pethes
Stanford University
Dept. of Comparative Literature
Ca-94305-2031 Stanford
USA

Ins Netz gestellt am 12.02.2002
IASLonline

Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Diese Rezension wurde betreut von der Redaktion IASLonline. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez - Literaturwissenschaftliche Rezensionen.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück ]



Anmerkungen

1Vgl. die Rezension des Autors "Austreibung der Kultur aus der Kulturwissenschaft" in IASLonline: http://www.iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/pethes.html.   zurück