Potthast über Fohrmann: Lebensläufe um 1800

Barbara Potthast

Jürgen Fohrmann (Hg.): Lebensläufe um 1800. Tübingen: Niemeyer 1998. VIII, 262 S., 11 Abb. Kart. DM 108.-.



An keiner anderen Stelle in der historischen Phänomenologie des 18. Jahrhunderts wird dessen spannungsvolle, dynamische Bewegung aus den traditionalen Herrschaftsstrukturen hin zu neuen, autonomen Ordnungskonzepten so sinnfällig wie an den Lebensläufen und Lebensgeschichten dieser Epoche. Bis tief in das Jahrhundert leben in der zeitgenössischen Mentalität die Providenz- und ordo-Vorstellungen des Mittelalters fort, zunehmend verdrängt durch Vorstellungen von Autonomie, Kontingenz, Individualität und Subjektivität. Und doch verbleiben die neuen Welt- und Lebensdeutungen noch eine Zeitlang im Rahmen enger Normen: die Aufklärung, Anstoß und Antrieb dieses Prozesses, entwirft bis zum Ende des Jahrhunderts weitgehend normative Tugendkonzepte von gelingendem und scheiterndem Leben. Die alte Vision der im Jenseits belohnten, gottgefälligen Existenz wird ersetzt durch die Idee der diesseitigen Glückseligkeit, die man nur durch Tugendhaftigkeit erreichen kann.

Wie der Lebenslauf des Menschen der altständischen Welt ist der Lebenslauf des Menschen der Aufklärung geprägt durch schematische Situationen der Prüfung, des Scheiterns, der Bewährung und Belohnung. Erst am Ausgang der Epoche, an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert, wird diese starre, modellhafte Auffassung endgültig - und in die Moderne weisend - ausdifferenziert. Erst mit einem vertiefteren Verständnis des inneren, psychischen Menschen, das im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts im Kontext einer entwickelten Anthropologie möglich wird, kann sich die Deutung des Lebenslaufs aus reduktiven Normvorstellungen befreien und für neue Sinngebungen, Wertvorstellungen und Verhaltensmuster öffnen. Die Erschließung des Inneren, Subjektiven macht die Lebensgeschichte in ihrer Wechselwirkung von innerem und äußerem Geschehen verstehbar. Lebensläufe um und nach 1800 deuten sich daher nicht mehr nach vorgegebenen Ordnungssystemen, sie stehen vor der neuen Aufgabe, Sinn erst zu konstituieren. Mit dem Ende der Aufklärung wird der Lebenslauf unbestimmt, er wird zum Projekt des Subjekts und öffnet sich für neue Probleme: Identität, Individualität, Entwicklung, Bildung, Erziehung, Perfektibilität, Selbstreflexion, Genie. Die Vielfalt, Intensität und Qualität der ästhetischen Produktion der 'Kunstperiode' zeugen davon, in welchem Maße diese Probleme nun zu verhandeln sind.

Ihnen widmet sich der hier zu besprechende Aufsatzband Lebensläufe um 1800, herausgegeben von Jürgen Fohrmann, hervorgegangen aus einer Konferenz im Juni 1996 aus Anlaß des 60. Geburtstages von Wilhelm Voßkamp. Sein Thema ist situiert im Zusammenhang eines breiten kulturwissenschaftlichen Forschungsinteresses an einer neuen, interdisziplinären und multiperspektivischen Auseinandersetzung mit der Epochenschwelle 1800 - jenseits aller überkommenen Modelle und Kategorien von Spätaufklärung, Philantropismus, Klassik, Romantik, Idealismus, Vormärz usw. Gerade die Wahrnehmung und das Verständnis dieser Jahrzehnte waren allzulange verstellt durch das Denken in Modellen, die sich hier wie zu keiner anderen Zeit der europäischen Kulturgeschichte vielfältig bündeln, überlagern und durchdringen. Übergreifende anthropologische und bewußtseinshistorische Fragen wurden dabei häufig dem Reduktionismus des Modells geopfert. Entsprechend versammelt der vorliegende Band zwischen einem Vor- und einem Nachwort (Jürgen Fohrmann, Wilhelm Voßkamp) vierzehn Beiträge verschiedener methodischer und disziplinärer Akzentuierung.

Ein Teil von ihnen widmet sich den realhistorischen Bedingungen von Lebensgeschichten und nimmt dabei Autoren in den Blick - Salomon Maimon (Klaus L. Berghahn), Lessing (Horst Steinmetz) und Friedrich Ludwig Jahn (Hans-Martin Kruckis). Die Lebensgeschichte in der Dichtung stellt einen weiteren Schwerpunkt des Bandes dar. Die entsprechenden Texte behandeln das Problem der Lebensläufe im Drama (Uwe-K. Ketelsen), den "Ausfall" des Bildungsromans in Frankreich (Rainer Warning), Jean Pauls Titan (Stéphane Mosès) und E.T.A Hoffmanns Lebens-Ansichten des Katers Murr (Eberhard Lämmert). Eine dritte Gruppe von Aufsätzen dieses Sammelbandes betrachtet Lebensläufe um 1800 aus verschiedenen diskursiven und disziplinären Perspektiven: zwei Beiträge thematisieren die spezifischen Probleme weiblicher Autorschaft und Gelehrsamkeit (Ursula Geitner, Kerstin Stüssel), ein ikonographischer Beitrag stellt Bilder vom Lesen vor (Fritz Nies), ein soziologischer Beitrag problematisiert Lebenslauf und Individualität als soziale Institutionen (Rudolf Stichweh), ein psychohistorischer Beitrag entwirft Thesen zur biographischen Normalität um 1800 (Klaus Dörner), ein begriffshistorischer widmet sich der historischen Semantik des Genie-Begriffs (Georg Stanitzek). Als chronologisch-historische Einführung schließlich figuriert ein pädagogikhistorischer Aufsatz zu Erziehungsgeschichten des ausgehenden 18. Jahrhunderts (Margret Kraul).

Die Mischung der Textbeiträge ist vielfältig. Sie reichen von ausgesprochen thesenhaften Entwürfen (Dörner über den psychologischen Diskurs um 1800) bis zu dezidiert deskriptiven Ausführungen, die neues, bislang vernachlässigtes Material präsentieren (Nies über Bilder des Lesens). Enthalten sind Repräsentanten der Epoche wie Maimon und Lessing, aber auch hybride Figuren wie Jahn, in deren Perspektivenreichtum die Signaturen der Zeitenwende auf besondere Weise sinnfällig werden. Studien, die weitgehend innerhalb eines poetologisch-formalästhetischen Kontextes argumentieren (Ketelsen) stehen neben solchen, denen es gelingt, den Gegenwartsbezug des Themas auf besondere Weise hervorzuheben. Hier ist vor allem der Beitrag von Kerstin Stüssel über die gelehrten Frauenzimmer im 18. Jahrhundert zu nennen, in dem es der Autorin überzeugend gelingt, die sozialen und bewußtseinshistorischen Determinanten für Wissenschaftlerinnen um das Jahr 2000 bis zur Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert zurückzuverfolgen. Auch die Aufsätze von Rudolf Stichweh und Klaus Dörner reflektieren die Umbruchzeit 1800 besonders in ihrem Gegenwartsbezug.

Es ist eine Plattitüde und doch wahr: ein Sammelband ist nur so überzeugend und innovativ wie die Summe seiner Einzelbeiträge. Eine kritische Revision der Ergebnisse dieses Bandes will im folgenden mit den empirisch-exemplarischen Studien - den historischen Lebensgeschichten - beginnen, um sich von dort aus den diskursiven Problemen und dann den ästhetischen zuzuwenden.

Salomon Maimon erzählt in seiner 1792/93 von Karl Philipp Moritz herausgegebenen Autobiographie seinen Weg vom armen polnischen Juden zum Berliner Intellektuellen, der mit Mendelssohn, Kant, Reinhold und Fichte in gelehrtem Austausch stand. Maimon versteht sein Leben in Hinblick auf die Aufklärung als Aufstieg aus der Finsternis des Aberglaubens und der Unwissenheit ans Licht der aufgeklärten Gelehrsamkeit. Zum Ziel seines Lebens erklärt er sein ständiges Streben nach Erkenntnis und Wahrheit durch Philosophie, seine Suche nach einem Ausgleich von Glauben und Vernunft. Doch Klaus L. Berghahn deutet Maimons Lebensgeschichte kritisch. Maimon, so Berghahn, wurde in der deutschen Aufklärung nie ganz heimisch, weil er an jüdischen Traditionen festhielt, er war nie arriviert und starb als jüdischer Ketzer. Zwischen Polen und Preußen, zwischen Judentum und Aufklärung fand er keine wirkliche Identität und blieb eine "Zwitterexistenz".

In seinen Reflexionen über den Lebenslauf Lessings sucht Horst Steinmetz den privaten Lessing, der sich dem Historiker hinter den wenigen Selbstaussagen, den vielen eigenen und fremden Idealisierungen und Stilisierungen zu entziehen scheint. Steinmetz betont - wie so viele - in Lessings Leben den Aspekt des Scheiterns. Lessings optimistisches Konzept eines autonomen, selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebens, einer sich vervollkommnenden Persönlichkeit, wie er sie in den Freimaurergesprächen und der Erziehung des Menschengeschlechts entwirft, erfüllt sich nicht bei ihm selbst.

Seine Vita bleibt geprägt von beruflichen Bedrängnissen, von Niederlagen und Schicksalsschlägen, von einem Gefühl der Vergeblichkeit. Doch Steinmetz' Schluß, Lessing habe "eigentlich ein Leben ohne Biographie geführt" (S. 103) und es gäbe bei ihm kein Ich, sondern ein problematisches Subjekt, das sich selbst nur "in der Verkündung seiner ethischen Prinzipien zu finden vermag" (S. 96), geht zu sehr von modernen Verhältnissen aus. Denn die zentralen anthropologischen und gesellschaftlichen Postulate der Aufklärung standen immer in einem Spannungsverhältnis zu den zeitgenössischen Realitäten und diese Dialektik war bewußter, konstitutiver Teil der Aufklärungsbewegung. Lessings Leben war - wie das Leben vieler Aufklärer - leidvoll geprägt durch das emphatische Streben nach neuen Ordnungen, das aber weitgehend den alten Ordnungen unterworfen blieb. Der Zwiespalt von Lebensideal und Lebensrealität ist die Signatur von Lessings Persönlichkeit und Biographie, aber vor allem auch seiner Epoche. Auch Lessing führte daher, wie Maimon, eine "Zwitterexistenz".

Anders als Lessing und Maimon weist die Figur Friedrich Ludwig Jahns auf faszinierende Weise tief in das 19. Jahrhundert. Romantik, Historismus, Geschichtstheologie, Konfessionalismus, Chauvinismus, Nationalismus, Militarismus - in Jahns Werk bündeln sich die zentralen Tendenzen der neuen Epoche. "Eigentlich", so Hans-Martin Kruckis in seinem Beitrag, "verkörperte er aber schon allein in seiner Person als Gesamtkunstwerk alles, wohin die Welt noch gelangen sollte." (S. 192) Kruckis entfaltet die zahlreichen Aspekte in Jahns Ideenwelt und zeigt, wie sich die verschiedenen Programme - ständestaatliche Staatslehre, allgemeine Volkspädagogik, Sprachreinigung, militarisierte Turner-Ideologie, lutherische Volkskirche, Antisemitismus - unter dem Leitgedanken der "Volkswerdung" der Deutschen, der Wiederbelebung des deutschen Urvolks durch Rückbesinnung auf alte Traditionen konzeptionell erschließen.

Zur Relation von Lebensgeschichten und den diese betreffenden Diskursen, Konzepten, Begriffen und Disziplinen trägt eine andere Gruppe von Abhandlungen bei. Margret Kraul erinnert an die Wechselwirkung von Theorie und Empirie bei der im ausgehenden 18. Jahrhundert entstehenden Erziehungswissenschaft: einerseits glaubt die philantropische Aufklärung an die Verbesserung des Menschen und seines Lebens durch Erziehung, andererseits stellen die individuellen Lebensgeschichten die empirische Grundlage der neuen Erfahrungswissenschaft Pädagogik dar. Der Entwurf und Aufbau des neuen Systems aus den exemplarischen Erziehungsgeschichten vollziehen sich in dem Dreischritt Beobachten - Schreiben - Systematisieren. Dabei bezieht die Methode der Beobachtung die Vorgeschichte der Kindheit und Entwicklung, die jeweilige Umgebung und die Lebensumstände, aber auch das gegenwärtige Leben ein. Kraul resümmiert in ihrem Text weitgehend Bekanntes und beschränkt sich auf die kanonischen Leitfiguren ihres Themas, Wezel und Moritz.

Die beiden Beiträge zum Leben gelehrter Frauen um 1800 gehen von denselben Voraussetzungen aus: dem normativen Rahmen für weibliche Gelehrsamkeit, der "Diskursivierung des Geschlechts" (Geitner). Ursula Geitner versammelt eindrucksvolle Belege für die Suche nach Ausdruck weiblicher Erfahrung, nach genuin weiblichen Identitätskonzepten. Sie zeigt, wie sich jenseits des Erlaubten - einer Ästhetik des Naiven, der Seelen- und Herzensaussprache - in den Texten von Frauen literarische Gesten der Abweichung finden, solche des Unbestimmten, Regellosen, Labyrinthischen, Experimentellen, solche der Digression und des Exkurses. Kerstin Stüssel behandelt die Einschränkungen weiblicher Gelehrsamkeit durch häuslich-familiäre Forderungen: "Die Gelehrsamkeit ist im 18. Jahrhundert das Paradigma für eine individualisierende Distanzierung der Frau von den 'häuslichen Geschäften', die immer als bedrohlich wahrgenommen wird." (S. 57) Das moderne Bildungskonzept, das um 1800 entsteht, erweist sich als ein Konzept mit geschlechtsspezifischer Ausprägung, es unterwirft bis heute die Bildungsbemühungen von Frauen der Pflicht zur Häuslichkeit.

Rudolf Stichweh referiert zentrale Positionen der modernen Soziologie zu den zwei "institutionellen Mustern" Lebenslauf und Individualität. Jüngere soziologische Ansätze untersuchen die Normierungen und Standardisierungen von Lebenslauf und Individualität nach der Auflösung der alteuropäischen Familien- und Haushaltsökonomien und der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft im 18. Jahrhundert. Differenziert werden soll dabei die alte Unterscheidung zwischen einem Individualismus des 18. und des 19. Jahrhunderts, wonach die Aufklärung einen Individualismus der Gleichheit, Freiheit und Unabhängigkeit aller Menschen ausbildete, das 19. Jahrhundert dagegen einen Individualismus der Einzigartigkeit. Die Argumentation beruft sich auf die zahlreichen Vorlagen und Beispiele moderner Individualität, die immer wieder kopiert werden. Danach bringt die moderne Gesellschaft vielfältige Programme für Individualität hervor, die einerseits der Gleichheit der Individuen Rechnung tragen, durch ihre Vielfalt und scheinbar unendliche Kombinationsmöglichkeit aber zugleich den Eindruck der Einzigartigkeit des Individuums auslösen. Stichwehs Ausführungen stehen quer zur in den anderen Texten des Bandes vorherrschenden historisch-genetischen Perspektive auf die Epochenschwelle 1800 und sind insofern instruktiv, dabei kann die empirische Begründung und Vertiefung des Arguments - aufgrund der Umfangsbegrenzung des Aufsatzes - nur angedeutet werden.

Noch thesenhafter ist der Text Klaus Dörners zur biographischen Normalität im psychologischen Diskurs. Dörner (dessen Konferenzvortrag durch seinen unakademischen, pragmatischen Gestus beeindruckte) skizziert kurz die durch die Aufklärung und die funktionale Differenzierung der Gesellschaft ausgelösten sozialpsychologischen Prozesse: die Trennung von produzierendem und sozialem Handeln, die Institutionalisierung der Leistungsunwerten, die Entstehung der Kleinfamilie als Gefühlsgemeinschaft. Am Ende dieser "menschheitsgeschichtliche[n] Operation", dieses "Urknalls", wie Dörner es nennt, steht die moderne Trennung von produzierendem Handeln, sozialem Handeln und Gefühlen. Für Dörner liegen um 1800 die Wurzeln für die Kontrolle der "Behinderten, psychisch Kranken und als asozial Stigmatisierten allein als kontrollbedürftige unvernünftige Untermenschen", eine Kontrolle und Institutionalisierung, die sich zur Vernichtungsmentalität entwickelte und im 20. Jahrhundert ihre entsetzliche Steigerung erfuhr. Mit diesen Zusammenhängen verbindet Dörner eine Reihe von ausgesprochen interessanten, diskutablen Thesen, die globale sozialpsychologische Prozesse der Moderne bezeichnen und auf sein wichtiges Buch Bürger und Irre (1969) wie auf die neuere Studie Tödliches Mitleid (1993) zurückgehen. Sie betreffen die Herrschaftsverhältnisse der Vernünftigen, Zweckhaften, Selbstbestimmten über die jeweils anderen, die psychischen Folgen des "Urknalls", die sich in die romantische Liebesbeziehung einerseits und in die Entstehung der rationalen Wissenschaft Psychologie fortsetzen und schließlich die neuen, inneren Zwänge und Verpflichtungen der Moderne. Dörners Beitrag ist kurz und überaus instruktiv. Wie kein anderer Text dieses Sammelbandes versucht er, in einer kühnen Bewegung die Voraussetzungen und die Folgen des "Urknalls" um 1800 als große Entwicklungslinien zu verfolgen und ihre Ausläufer als Determinanten der Gegenwart zu erklären.

Einem wiederum engeren Zusammenhang, dem Diskurs um Genie und Genialität, widmet sich Georg Stanitzeks begriffsgeschichtliche Studie. Stanitzek akzentuiert die geniale Existenz durch Kontrastierung mit der Gelehrtenlaufbahn. Die gelehrte Laufbahn als ständische Kategorie definiert sich durch eine Reihe von Gegenständen, mit denen man sich beschäftigt. Dagegen hat das Genie keinen sozialen Ort, sein Lauf wird oft mit einem Kreis verglichen, seine Bahn ist abweichend, exzentrisch. Stanitzek schreibt: "Das Genie ist ein Querschläger, könnte man sagen. Keiner vorgezeichneten Bahn folgend, ist es darauf verwiesen, eine solche für sich selbst zu konzipieren, [...]." (S. 249)

Fritz Nies stellt Bilder des Lesens vor und fügt seinem Text ein Anhang von elf Abbildungen hinzu. Nies hofft, dieses Material erlaube, "Leitkonzepte einer Wendezeit herauszuarbeiten über Rollen, die Lektüre im Lebenslauf zufallen sollten" (S. 204). Doch seine Ausführungen bleiben von Konzepten noch weit entfernt und beschreiben vorerst. Am Ende dieser Materialsichtung lassen sich folgende Ergebnisse festhalten: Lektüre begleitet Alt und Jung, Männer wie Frauen aller Stände und Berufe. Die Mehrheit der Bilder zeigt vertrauten Umgang mit dem Buch und dessen positive Wirkungen, doch einige Lesestoffe und Lesesituationen werden auch kritisch betrachtet. So gibt es satirisch karikierte Leseszenen - solche gegen einsames Lesen, gegen "Lesesucht" und gegen Lesen als erotisches Stimulans.

Die bisher betrachteten Ergebnisse der Einzelstudien belegen in vielfältiger Hinsicht, wie um 1800 moderne Individualität determiniert wird. Es entstehen neue Modelle, Programme und Projektionen für Lebensgeschichten, die mit Hilfe neuer, gleichzeitig entstehender Wissenschaften (Pädagogik, Psychologie) selbstreflektorisch verarbeitet werden. Einige dieser Programme etablieren an Stelle der alten ordo-Strukturen neue sozialpsychologische und soziale Ordnungen, die das moderne Ich festlegen - Gefühlskomplexe, Moralkomplexe, gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse (auch geschlechtsspezifische). Zugleich wird das Ich prozeßhaft umstrukturiert, indem es sich nun (durch Bildung, durch Lesen, durch Genie) aus den neuen Modellen selbst schafft. Alle Texte tragen in unterschiedlichem Komplexitätsgrad zu diesen Zusammenhängen bei. Bedauerlich ist, daß der Sammelband nicht auch weniger bekannte Lebensläufe jenseits der zeitgenössischen intellektuellen Elite in Einzelbeiträgen vorstellt - die von Margret Kraul behandelte Erfahrungsseelenkunde liefert vielfältiges Quellenmaterial dazu. Wie manches Mal hat auch hier die gelehrte Perspektive den Blick auf Alltags- und Mentalitätsphänomene verstellt, die die Signaturen einer Zeitenwende oft deutlicher ausprägen als die immer wieder bearbeiteten kanonischen Zeugnisse.

Zu betrachten bleibt der Anteil der Dichtung bei der Neubestimmung des Subjekts nach 1800, dem sich vier Beiträge widmen. Interessanterweise behandeln alle vier die negativen Seiten der Subjektivierung: zwei von ihnen fragen nach dem Ausbleiben, dem Ausfall des Bildungskonzeptes - im deutschen Drama und im französischen Roman -, die anderen beiden zeigen Aporien und Anomalien der Subjektivität an zwei exponierten Romanen der Epoche (Jean Pauls Titan und E.T.A. Hoffmanns Kater Murr) auf.

Warum gab es um 1800 kein Bildungsdrama? - dieser Frage geht Uwe-K. Ketelsen nach. Seine Überlegungen und Darlegungen wirken ein wenig bemüht, sein Ergebnis ist nicht neu. Lebensgeschichte und Bildung bedürfen narrativer Strukturen; die neuen Probleme formieren sich genetisch und prozeßhaft, sie müssen daher erzählt werden. Ihnen kann sich der Roman, die 'junge', vom Gewicht des antiken Erbes unbeschwerte Gattung, auf besondere Weise öffnen. Das Drama, als bürgerliches Trauerspiel die innovative Gattung der Aufklärung, wird sich im 19. Jahrhundert vornehmlich sozialen Problemkomplexen zuwenden. Die von Ketelsen gesuchten Ansatzpunkte für ein "Bildungsdrama" in der Aufklärungspoetik erscheinen entsprechend wenig überzeugend, seine Argumente gegen ein "Bildungsdrama" sind nachdrücklich: das traditionsgebundene Drama fordert Gegenwärtigkeit der Handlung statt rückschauende Entwicklung, Überhöhung des Individuellen ins Allgemeine, Symbolische statt Individualität, Sinnstiftung durch Schicksal statt durch Subjektivität.

Rainer Warnings instruktiver Beitrag arbeitet an einer Reihe von französischen Romanen zentrale Aspekte der spezifisch französischen Subjektivitätsvorstellung heraus, die verhinderte, daß in Frankreich Bildungskonzepte und Bildungsromane wie in Deutschland entstehen konnten. Grund dafür, so Warning, ist die machtvolle Tradition der Moralistik in Frankreich seit dem 17. Jahrhundert. Ihre pessimistische Anthropologie leugnet weitgehend naturhafte moralische Anlagen, die ausgebildet werden könnten, daher bleibt auch die französische Aufklärung geprägt von einem "Spannungsverhältnis von Moral und Moralistik". Warning kann diese Linie durch das 18. Jahrhundert (an Romanen von Marivaux und Rousseau) bis ins 19. Jahrhundert (an Romanen von Constant, Stendhal, Balzac, Flaubert) verfolgen.

Stéphane Mosès zeigt die Kehrseite der Subjektivierung nach 1800 auf, wenn er Jean Pauls Titan als Kritik am Subjektivitätsbegriff der Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes interpretiert. Der Roman entwirft Figuren, die, indem sie Subjektivität vertiefen und psychologisieren, auf der Suche nach dem absoluten Ich in die hoffnungslose Dialektik von Subjekt-Ich und Objekt-Ich geraten. Die Versuche, das eigene Ich als Substanz, als das absolut Schöpferische zu fassen, führen in die innere Erfahrung der Trennung von Ich und Welt, in die Spaltung des Ich in Ich-Bezogenheit und Welt-Entfremdung und damit am Ende zu Sterilisierung der Gefühle, zu Weltschmerz. Mosès zeigt, wie Dichtung die theoretischen Konzepte durch Konfrontation mit literarischem Leben desavouieren, ihre Grenzen und auch ihre Gefahren aufzeigen kann: zuviel Ich-Bewußtsein und Ich-Besinnung führen zur Entfremdung von sich selbst.

Auch Eberhard Lämmerts Interpretation der Lebens-Ansichten des Katers Murr behandelt die dichterischen Möglichkeiten, Lebensläufe und Ich-Versionen fiktiv zu entwerfen, zu verwerfen, miteinander in Beziehung zu setzen. Lämmert differenziert die verbreitete Deutung von der Antithese der Lebensläufe im Doppelroman - der wahren, idealen Künstlernatur des Kapellmeisters Kreisler auf der einen und dem profanen Kunstphilister Murr auf der anderen Seite. Lämmert zeigt dagegen, wie beide Lebensläufe kontrastiv-konvergierend aufeinander bezogen sind, wie mit Hilfe vergleichbarer Erfahrungen der beiden Protagonisten - Liebeserfahrungen, politische und gesellschaftliche Erfahrungen, Einsamkeits- und Öffentlichkeitserfahrungen - verschiedene Konzepte, Persiflierungen, Idealisierungen und Projektionen von bürgerlichem Künstlertum entwickelt werden. Die beiden Lebensläufe bilden ein Leben nach zwei Seiten hin ab als ein "höchst artistische[s] Ineinanderspiel[.] von Künstlerideal und Künstlerpraxis" (S. 173).

Was bleibt am Ende dieser wohlgemischten vierzehn Beiträge, die - wie deutlich wurde - in unterschiedlicher Weise zu neuen Ergebnissen führen? Nicht mehr und nicht weniger als sie selbst. Die Einzeltexte nehmen, obwohl sie Ergebnisse einer Konferenz sind, nicht aufeinander Bezug, ihr Reflexionsniveau hinsichtlich des übergeordneten Themas ist sehr unterschiedlich. Daher, und das zeigen auch das skizzenhafte Vor- und Nachwort, ist ein Gesamtergebnis, das über allgemeine oder spekulative Zusammenhänge hinausgeht, kaum zu formulieren. Allerdings ist auch das Thema des Bandes zu umfassend und zu wenig abgrenzbar, als daß sich aus ihm heraus von selbst ausgeprägte Koordinationen und Synchronien ergäben. Jürgen Fohrmann spricht in seiner Einleitung davon, die gemeinsame Signatur aller Individualitäts-Bestrebungen um 1800 sei möglicherweise 'Kommunikation', ihre entsprechende Allegorie der 'Kreis' und von dort aus sei womöglich "eine Formengeschichte des 19. Jahrhunderts [zu] entwickeln". Dies kann vor dem Hintergrund aller Einzelstudien wohl nur den Status eines interessanten Vorschlags beanspruchen. 'Kommunikation' als übergreifender Anspruch, als Grundlage der individuellen und sozialen Konstituierung, war ein basales Postulat der Aufklärung, das freilich im 18. Jahrhundert nur innerhalb der intellektuellen Eliten eingelöst werden konnte. Zum größeren 'Kreis' erweitert sich 'Kommunikation' sicher erst im 19. Jahrhundert mit rasant zunehmender Verschriftlichung des Lebens, aber ist sie deshalb die genuine Matrix gerade dieser neuen Individualitätskonzepte? Selbstreflexion war seither an Texte, an Schreiber und Leser gebunden. Recht zu geben ist Fohrmann insofern, als um 1800 Kommunikation als Sprechen über sich selbst eine ungekannte Intensität erhält, das Bedürfnis nach neuer Selbstverständigung mit Macht aufbricht. Nicht dieser Tatbestand an sich, aber doch die Vielfältigkeit, Dichte, Komplexität und besonders der Gegenwartsbezug dieser Selbstverständigungen über neue Daseins- und Sinnentwürfe können als Ergebnisse des Sammelbandes Lebensläufe um 1800 festgehalten werden.


Dr. Barbara Potthast
Institut für Literaturwissenschaft
Universität Stuttgart
Keplerstraße 17
D-70174 Stuttgart

Ins Netz gestellt am 08.04.1999.

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