von Pückler über Peirce: Werkausgabe Band 6

Constantin von Pückler

Ein Mann in der Krise – ein Denken im Umbruch

  • Writings of Charles S. Peirce. A Chronological Edition. Volume 6: 1886–1890. Edited by the Peirce Edition Project. Bloomington 2000. LXXXIV,
    698 S.
    ISBN 0-253-37206-2.



Peirce – der amerikanische Leibniz 1

Der Einfluß von Charles Sanders Peirce (1839–1914) auf die Philosophie und ihre Nachbardisziplinen Logik und Semiotik nimmt seit Jahrzehnten ständig zu. Zeit seines tragischen Lebens war Peirce' Wirkung innerhalb der akademischen Philosophie recht gering. In den Schriften von William James und Josiah Royce finden sich verwischte, häufig verkürzte Spuren seines Denkens. Gleiches gilt für Victoria Lady Welbys >Signifik< und Ernst Schröders algebraische Logik. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt mit der ersten systematischen Monographie von James Feibleman 2 eine Rezeptionsgeschichte, die sich mit Peirce in eigener Sache beschäftigt und diesen profunden Autor nicht bloß als Vorläufer oder Ahnherrn von Denkfiguren wahrnimmt, für die andere die Lorbeeren eingeheimst haben.

Wer Peirce' Werk im Hinblick auf Antizipationen der Errungenschaften des 20. Jahrhunderts durchsieht, dem wird es ähnlich ergehen wie dem Hasen bei seinem Wettlauf mit dem Igel: Gleichgültig ob die Theorie dissipativer Energien, die Semantik möglicher Welten, die illokutionären Wirkungen von Sprechakten, die Quantorenlogik, der Sheffersche Strich, die Wahrheitswertanalyse oder der elektronische Schaltkreis als Grundlage der Konstruktion >logischer Maschinen< das Ziel bildet – immer scheint es so, als sei Peirce schon vorher da gewesen.

Der sechste Band der chronologischen Werkausgabe

Eine chronologische Werkausgabe in 30 Bänden tritt derzeit an, die betagten, häufig willkürlich kompilierten "Collected Papers" 3 als maßgebliche Quelle des Peirce-Studiums zu ersetzen. Der vorliegende sechste Band deckt die Zeit zwischen dem Herbst 1886 und Mai 1890 ab. Doch obwohl er zusammen mit dem umfangreichen Anmerkungsteil über 700 Seiten stark ist, enthält er nur einen kleinen Teil der 133 Fragmente, Artikel, Brief- und Buchentwürfe, Rezensionen und Rechenschaftsberichte, die Peirce in dieser Zeitspanne verfaßt hat – ganz zu schweigen von zahlreichen Definitionen für den "Century Dictionary and Cyclopedia", die den folgenden siebenten Band der "Writings" füllen sollen. Wann das 1975 in Angriff genommene Projekt einer chronologischen Werkausgabe abgeschlossen sein wird, ist noch unklar. Wegen personeller und administrativer Veränderungen beim >Peirce Edition Project< in Indianapolis sind seit dem Erscheinen des fünften Bandes immerhin sieben Jahre vergangen. Es ist daher begrüßenswert, daß sich die Editoren nunmehr dazu entschlossen haben, externe Experten mit der Herausgabe einzelner Bände zu betrauen, und von der bisher geübten Praxis, streng chronologisch zu veröffentlichen, abzurücken. Schon vor dem Abschluß des Projektes dokumentieren die einzelnen Bände der "Writings" die stupende Diversität des Werks von Peirce, die es fast unmöglich macht, das Gesamtwerk zu überschauen oder kritisch zu kommentieren.

Die Textgruppen: Inhaltsübersicht

Der vorliegende Band enthält fragmentarische Schriften über die Anwendung der logischen Algebra von George Boole, die zum Teil in einen Korrespondenzkurs über "The Art of Reasoning" eingehen sollten, über die Logik der Zahlen und der Relationen sowie über geometrische Probleme. Ferner finden sich einige Schriften zur seinerzeit virulenten Diskussion parapsychologischer Phänomene wie Halluzination, Telepathie, Hypnose etc., von denen die meisten als Beiträge zu einer hitzigen Debatte mit Edmund Gurney um dessen ambitionierte Untersuchung "Phantasms of the Living" (1886) entstanden sind. Eine weitere inhaltlich homogene Gruppe von Texten bilden die Rechenschaftsberichte, die Peirce dem Auftraggeber seiner minutiösen Pendelexperimente zur Bestimmung der Schwerkraft, der >U.S. Coast and Geodetic Survey<, geliefert hat. Schließlich enthält der Band einige kritische Beiträge zu Herbert Spencers materialistischer Evolutionstheorie, die Peirce unter dem Pseudonym "Outsider" in eine Debatte in der "New York Times" geworfen hat. Dieses Material wiederum steht in direkter Verbindung zu dem Buchentwurf "A Guess at the Riddle".

Das letztgenannte Fragment ist für die Entwicklung von Peirce' Denken von eminenter Bedeutung: Zum einen führt er hier dem Leser zum ersten Mal die drei fundamentalen Kategorien >Erstheit<, >Zweitheit< und >Drittheit<, die sein Werk wie ein roter Faden durchziehen, in abstractu, losgelöst von jeder möglichen Anwendung vor Augen. Zum anderen bereiten seine Bemerkungen über die Wirksamkeit der Kategorien in der Biologie und in der Physik jene spekulative Kosmologie der Gewohnheitsbildung vor, die zwischen 1891 und 1893 in fünf Aufsätzen in "The Monist" erschienen ist. 4

Um der Übersichtlichkeit willen erscheint es ratsam, lediglich auf die letzten beiden der genannten Textgruppen näher einzugehen und den Rest eher im Vorübergehen zu erwähnen. Das soll im folgenden Abschnitt zu Peirce' Leben während der zweiten Hälfte der 1880er Jahre geschehen.

I. Ein Mann in der Krise

Den Band eröffnet eine detaillierte Einleitung von Nathan Houser, die frühere Biographien ergänzt (vgl. S. XVI-LXXXIV). 5 Sie zeichnet ein lebendiges Bild von einem Mann im Umbruch, von einem Leben in der Krise. 1879 hatte Peirce eine befristete Teilzeitstelle als Dozent für Logik an der Johns Hopkins-Universität angetreten. Seine Tätigkeit schien beide Seiten zufrieden zu stellen, so daß er sich im Herbst 1883, von Präsident Daniel Gilman ermutigt, nach einer dauerhaften Bleibe in Baltimore umzusehen begann. Peirce hatte zu dieser Zeit allen Grund zu glauben, daß seine logischen Neigungen über den Wunsch seines Vaters Benjamin obsiegen würden, der ihn lieber als seinen Nachfolger, als größten Mathematiker des Landes gesehen hätte. Unter seiner Protektion hatte Charles über zwei Jahrzehnte eine glänzende Karriere bei der >Coast Survey< gemacht, die ihn viermal nach Europa geführt hatte. Diese Stellung behielt er neben der Dozentur bei, und er begann mit der Arbeit an mehreren tausend Definitionen, die er bis zum Ende des Jahrzehnts für den "Century Dictionary" verfassen sollte.

Drei Umbrüche in der Mitte der 1880er Jahre

Die glänzenden Aussichten, die sich Peirce zu Beginn des Jahres 1884 in mehreren Bereichen eröffneten, sollten sich nach und nach als Trugbilder erweisen, die ihm den Weg in die Armut und Isolation wiesen. Drei Ereignisse waren dafür verantwortlich, daß die "kosmopolitische Phase" 6 von Peirce' Leben in den folgenden Jahren zu Ende ging:

  1. Im Januar 1884 wurde Peirce' Vertrag ohne Angabe von Gründen nicht verlängert. Der unmittelbare Anlaß mag eine gezielte Indiskretion von Peirce' mächtigstem, weil verdeckt agierendem Gegner Simon Newcomb gewesen sein. 7 Sie betraf die eheähnliche Beziehung, in der Peirce mit seiner zweiten Frau gelebt haben soll, noch bevor er 1883 von der ersten geschieden wurde. Daneben mag es weitere Anlässe für die Universitätsführung gegeben haben, um neben Peirce' moralischer Eignung auch seine mentale Verfassung in Frage zu stellen: Genannt seien die durch nervöse Krankheiten und die berufliche Doppelbelastung bedingten Fehlzeiten, die überzogene Kündigung der Dozentur im Dezember 1880, die er wenige Wochen später zurücknahm, und ein andauernder Streit um die Bibliothek, die er der Universität bei seinem Rückzug verkauft hatte und nach seiner Weiterbeschäftigung zurückzuerhalten trachtete.

  2. Zu der Entlassung kam bald ein weiterer Genickschlag: Nach der Wahl des Demokraten Grover Cleveland zum Präsidenten der USA wurden im Frühsommer 1885 einige wissenschaftliche Prestigeprojekte der Vorgängerregierung einer ergebnisorientierten Betriebsprüfung unterzogen. Für die >Coast Survey< hatte das fatale Folgen: Superintendent Julius Hilgard, der vemutlich Newcomb über Peirce' Lebensführung berichtet hatte, wurde der Trunkenheit bezichtigt und durch den Anwalt Frank Thorn ersetzt. Dieser verlangte nach Effizienz und nach anwendbaren Resultaten. Peirce' Pendelversuche traf das Urteil, sie seien "of meager value". 8 Im Februar 1886 wurde Peirce von der experimentellen Feldarbeit mit der Direktive freigestellt, die gesammelten Daten mathematisch zu reduzieren und für die Publikation vorzubereiten.

  3. Die Entlassung in Baltimore und die Freisetzung vom Tagesgeschäft bei der >Coast Survey< hatten zur Folge, daß Peirce seinen Tätigkeiten ortsungebunden nachgehen konnte. Im April 1887 zogen die Peirces in das pennsylvanische Dorf Milford am Delaware Gap. Daß sich dort günstiger leben ließ als in den großen Städten der Ostküste, dürfte bei dieser Entscheidung keine wichtige Rolle gespielt haben. Vielmehr hoffte Peirce, in dieser Umgebung wohlhabende Mäzene für seine Projekte zu gewinnen. Die Gattin von einem dieser potentiellen Geldgeber, Mary Eno Pinchot, war gut mit Peirce' zweiter Frau befreundet. Diese nannte sich Juliette Froissy oder Pourtalai, machte aber keinen Hehl daraus, daß es sich bei diesen Namen um Pseudonyme handelte und sie ihre wahre Identität nicht preisgeben würde. Dabei ist es bis heute geblieben. 9 Jedenfalls schien der Plan zunächst aufzugehen: Die Peirces verkehrten häufig mit den Pinchots und trafen in deren Haus auf die reiche Bohème der Ostküste. Am 10. Mai 1888 kaufte Peirce mit Mitteln aus der Erbschaft seiner Mutter eine kleine Farm auf großem Grund, die in den folgenden Jahren zu einem luxuriösen Landsitz ausgebaut wurde. Sie sollte als Sommerakademie genutzt werden – ein weiterer aus der Reihe unvollendeter Pläne, die Peirce zu dieser Zeit verfolgt hat. Die Größe der >Arisbe< getauften Farm sollte sich in späteren Jahren, als den Peirces die Mittel fehlten, um das Haus zu beheizen, als Nachteil erweisen.

Gravimetrische Pendelversuche

Durch die beiden erstgenannten Vorfälle hatte Peirce' Reputation erheblich Schaden genommen. Es ist ihm nicht wieder gelungen, eine akademische Position zu erhalten. Seine Stellung bei der >Coast Survey< war zwar nicht unmittelbar bedroht, doch sein Einfluß war geschwunden, und anstatt unter besonderer Protektion stand er nunmehr unter argwöhnischer Beobachtung. Peirce ist seiner Berichtspflicht oft nur schleppend nachgekommen. Dazu ein Beispiel: Einer der gravimetrischen Berichte, die der vorliegende Band enthält (S. 216-242), wertet die Daten von Pendelexperimenten aus, die ein von Peirce instruierter Astronom im Januar 1882 in Alaska gesammelt hatte. Diese Daten wurden Peirce erst viel später zugestellt, nachdem die tragische Expedition nach zwei arktischen Wintern mit nur sieben von 25 Teilnehmern – und dem scheinbar unbeschädigten Peirce-Pendel – zurückgekehrt war. Doch drei weitere Jahre verstrichen, bis Peirce diese Daten zu einem Bericht zusammengefaßt hat! Adolphus Greely, der Leiter der Expedition, war unterdessen zu einem nationalen Helden aufgestiegen. Entsprechend groß war der politische Druck auf Superintendent Thorn, die Ergebnisse endlich vorzulegen (S. XXX-XXXIII). Als das 1888 geschah, war das Resultat außerordentlich unbefriedigend: Am Pendelkörper war ein unerklärlicher Gewichtsverlust festgestellt worden, der die Daten stark entwertete. Peirce' Spekulation, das Pendel könne beim Transport beschädigt worden sein (S. 218ff.), konterte Greely mit der Vermutung, Peirce habe den Astronomen, der sein Leben im Norden gelassen hatte, unzureichend in den Gebrauch des Pendels eingewiesen (S. 243f.).

Diese Episode ist kennzeichnend für die Schwierigkeiten, mit denen Peirce zu kämpfen hatte. In der Sache hatte er zweifellos recht. Aber es fehlte ihm an Strategien, um seine Ansichten durchzusetzen. Anstatt die Unbrauchbarkeit der Daten rasch und offen zu melden, hat er sie durch neuerliche Messungen am Polarkreis korrigieren und so die mysteriösen Abweichungen erklären wollen. Dieser aus wissenschaftlicher Sicht optimale Weg war aber seinerzeit aus politischen Gründen nicht gangbar. Für diese Art von wissenschaftsexternem Zwang fehlte Peirce jedes Gespür.

Über parapsychologische Phänomene

Doch wie hätte Peirce angesichts der Diskrepanz zwischen der Meinung der Öffentlichkeit, unter solchen Opfern gewonnene Daten müßten besonders wertvoll sein, und ihrer tatsächlichen Unbrauchbarkeit anders handeln können? Jedes Schönen oder Frisieren der Erhebung hätte seinem Ethos als Wissenschaftler widersprochen. Wie gefährlich solches Vorgehen sein kann, davon konnte sich Peirce wenig später anläßlich des Freitodes von Edmund Gurney überzeugen. Vermutlich wurde diese Tat durch Gurneys Entdeckung veranlaßt, daß einer seiner Assistenten Berichte über parapsychologische Erscheinungen, die in "Phantasms of the Living" als Beweismaterial dienten, gefälscht hatte (S. XLII, 426). 10 Der Freitod beendete eine Debatte in den "Proceedings of the American Society for Psychological Research" (S. 74-154), in der Peirce vor allem Gurneys allzu freizügigen Gebrauch von probabilistischen Hochrechnungen kritisiert hatte.

Im Frühjahr 1890 wandte sich Peirce auf Geheiß von Lorettus Metcalf, Herausgeber von "The Forum", erneut dem Übernatürlichen zu und entwarf einen Artikel, den Charles Hartshorne und Paul Weiss >Logic and Spiritualism< genannt haben (S. 380-394). An der unglücklichen Geschichte dieses Entwurfs läßt sich Peirce' Intransingenz ein weiteres Mal demonstrieren: Sein Umfang überschritt bei weitem Metcalfs Vorgabe. Auf einen entsprechenden Hinweis reagierte Peirce, indem er den Text um die meisten Artikel und Pronomina auf einen Telegrammstil kürzte, der sich beim besten Willen nicht zur Veröffentlichung eignete (S. LXXVIII). Daher konnte der ungekürzte Artikelentwurf erst 45 Jahre später erscheinen. 11

Korrespondenzkurs "The Art of Reasoning"

Wollte Peirce den aufwendigen Lebensstil aufrecht erhalten, den er und die Seinen gewohnt waren, mußte er sich nach dem Wegfall des Salärs von der Johns Hopkins-Universität nach neuen Einnahmequellen umsehen. In den folgenden Jahren war er ständig auf der Suche nach einer Erfindung oder Geschäftsidee, die ihm plötzlichen Reichtum eintragen sollte. Zu diesen allesamt gescheiterten Versuchen zählt auch der Korrespondenzkurs "The Art of Reasoning" (S. 10-60), für den Peirce in den ersten Monaten des Jahres 1887 bis zu 1500 Teilnehmer gewinnen wollte. 12 Den längsten aus dieser bislang unveröffentlichten Gruppe von Texten bilden die "Directions to Agents" (S. 21-32). Peirce' rhetorische Instruktionen, wie Interessenten für den Kurs zu gewinnen seien, laden zu Spekulationen über seinen Argumentationsstil ein: "The levers upon which you have to rely are first, cupidity, second, shame, and third, fatigue" (S. 21).

Nur eine Handvoll Interessenten antwortete auf Peirce' Anzeigen. Keiner von ihnen hat ein Diplom erworben. Ein Blick auf die Übungsbriefe macht klar, weshalb der Kurs zum Scheitern verurteilt war: Die ersten Aufgaben zur Anwendung der Booleschen Algebra dürften die Teilnehmer an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit geführt haben; die Übungen zur graphischen Darstellung von Relationen (S. 41-46) lagen sicherlich jenseits dieser Grenze. Für die gegenwärtige Peirce-Forschung sind aber gerade diese Aufgaben von großer Bedeutung, zeugen sie doch von Peirce' Lektüre der "Memoir on the Theory of Mathematical Form", die ihm deren Autor, Alfred Bray Kempe, im November 1886 hatte zukommen lassen. Diese Aneignung verdient besondere Beachtung, weil sie Peirce' Konversion von algebraischen zu diagrammatischen Methoden der Darstellung logischen Folgerns vorbereitet hat. Es ist daher bedauerlich, daß sich die Herausgeber nicht zur Veröffentlichung der im chronologischen Katalog (S. 525, 527) erwähnten Dokumente einer neuerlichen Auseinandersetzung mit Kempes Artikel im Januar 1889 entschließen konnten.

II. Ein Denken im Umbruch
Max Fisch über die Wendepunkte auf Peirce' Denkweg

Max Fisch 13 hat seine detaillierte Kenntnis von Peirce' Leben und Werk zu der These zusammengefaßt, die Bewegung seines Denkens verlaufe vom Nominalismus zum Realismus. Fisch konstatiert für die Zeiträume um 1890 und 1897 zwei kritische Phasen, in denen Peirce die realistische Sichtweise auf ontologische Seinsbereiche übertragen habe, deren Phänomenen die Insignien des Realen zuvor nicht verliehen wurden. >Real< ist "das [...], was das, was es ist, unabhängig von dem ist, was man zu irgendeiner Zeit von ihm denkt." 14

Das ausgereifte System, das Peirce nach der Jahrhundertwende entworfen hat, erkennt die Wirklichkeit von drei distinkten ontologischen Bereichen an. Seit Mitte der 1860er Jahre hat Peirce über die Realität von vermittelnden Darstellungen geschrieben. Dieser >semiotische Realismus< ging von Anbeginn mit der Einsicht in die triadische Struktur des Zeichens einher. 15 Um die Mitte der 1880er Jahre (und nicht erst, wie Fisch mit den Herausgebern der "Collected Papers" meint, um 1890) hat sich Peirce von der Realität der harten Tatsachen überzeugt (S. LXXXIf.). Indizien dafür liefern Peirce' Kennzeichnung der unverzichtbaren Funktion, die Indizes bei der Anzeige des Subjektes einer assertorischen Darstellung erfüllen 16, und die Übernahme des scotistischen Begriffs >haecceitas< zur Kennzeichnung der unvermittelten "hereness and nowness" (S. 205) eines >factum brutum<. Auf diese Phase des "Zwei-Kategorien-Realismus" 17 folgt, so Fisch weiter, um 1897 die Anerkenntnis des dritten Seinsbereichs der Möglichkeiten, der nicht aktualisierten Qualitäten, des reinen Gefühls.

"Fundamentale Kategorien des Denkens und der Natur"

Es liegt nahe, die Unwiderruflichkeit der Entlassung von der Johns Hopkins-University mit Peirce' Einsicht in den Widerstand, den rohe Tatsachen der semiotisch-kognitiven Vermittlung entgegensetzen, in Verbindung zu bringen. Der Buchentwurf "A Guess at the Riddle" (S. 165-210) bildet in der Entwicklung dieses Denkwegs einen Meilenstein. Peirce nimmt hier einen kategorienlogischen Gedankengang von 1867 18 wieder auf mit dem unbescheidenen Anspruch: "To erect a philosophical edifice that shall outlast the vicissitudes of time [...], to outline a theory so comprehensive that, for a long time to come, the entire work of human reason [...] shall appear as the filling up of its details". (168f.)

Die axiomatische Grundlage dieses umfassenden Systems bilden die drei Kategorien >das Erste<, >das Zweite< und >das Dritte<. Nach einer abstrakten Beschreibung der Kategorien verfolgt Peirce die Spuren ihrer Wirkung in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. Die zweckfreie Kontemplation des Wesens der Kategorien im Abschnitt "Trichotomy" (S. 168-180) gehört zu den am häufigsten zitierten Textpassagen von Peirce. 19 Er gesteht hier zunächst, daß es sich bei den Kategorien eher um "moods or tones of thought" (S.169) handele als um Inhalte, die argumentativ vermittelt werden könnten: "Abstract definitions would not answer the purpose; the notions are extremely broad, – vague, if you like; at any rate, it is not by any means minute accuracy which is needed to distinguish them, but the knack of attending to elements so universal as often to escape notice". 20 Dann beschreibt er die Kategorien folgendermaßen:

The idea of the absolutely First must be entirely separated from all conception of or reference to anything else [...]. The First must therefore be present and immediate, so as not to be second to a representation. It must be fresh and new, for if old it is second to its former state. It must be initiative, original, spontaneous, and free; otherwise it is second to a determining cause. [...] Just as the first is not absolutely first if thought along with a second, so likewise to think of the Second in its perfection we must banish every third. The Second is therefore the absolute last. [...] It meets us in such facts as Another, Relation, Compulsion, Effect, Dependence, Independence, Negation, Occurence, Reality, Result. [...] A hard fact is of the same sort; that is to say, it is something which is there, and which I cannot think away but am forced to acknowledge as an object or second beside myself. [...] First and Second, Agent and Patient, Yes and No, are categories which enable us roughly to describe the facts of experience, and they satisfy the mind for a very long time. But at last they are found inadequate, and the Third is the conception which is then called for. The Third is that which bridges over the chasm between the absolute first and the absolute last, and brings them into relationship. (S. 170-172)

Relationenlogische Grundlegung der Kategorien

Der Kerngedanke dieser Kategorienlehre läßt sich relationenlogisch näher bestimmen. Zur Kategorie >das Erste< oder >Erstheit< gehört jede Entität, deren Struktur so beschaffen ist, daß sie mit einer und nur einer anderen Entität verknüpft werden kann. Um verkörpert zu werden, bedarf beispielsweise eine Qualität der Verbindung mit einem Träger, und mehr als diese eine Verbindung ist nicht vonnöten. Graphisch kann >ein Erstes< etwa so dargestellt werden wie ein monovalentes Atom in den Diagrammen der Chemie – nämlich als monadische Relation, die mit einer und nur einer weiteren Relation verknüpft werden kann. An Phänomenen der >Zweitheit< sind notwendigerweise zwei Entitäten, etwa Agens und Passens beteiligt, die in einem dyadischen Verhältnis zueinander stehen. Zur >Drittheit< gehören Entitäten, an deren Konstitution drei Relata beteiligt sind, die nicht, wie geordnete Paare, durch Verkettungen von Dyaden, sondern durch eine einzige genuin triadische Relation verbunden sind. Argumentative Zeichen, Gewohnheitsbildungen, kontinuierliche Prozesse, Verträge und Konventionen sind so beschaffen.

Bereits 1885/86 hatte Peirce in den Vorarbeiten zu "A Guess at the Riddle" Degenerationsformen >des Zweiten< und >des Dritten< eingeführt, die als Archetypen der späteren Zeichenklassifikationen gelten. Diese Manuskripte enthalten zwei Diagramme 21, mit denen Peirce dem naheliegenden Einwand begegnet, warum nicht auch >das Vierte<, >das Fünfte< usf. als "fundamentale Kategorien des Denkens und der Natur" (so der Titel eines der Skripte 22) betrachtet werden kann. Sie führen vor Augen, daß durch Verknüpfungen verzweigter oder gegabelter Linien Beziehungsgefüge jeder beliebigen Komplexion diagrammatisch nachgebildet werden können. Dagegen erzeugen Kombinationen von Dyaden immer nur neue Dyaden. Die in der >Reduktionsthese< zusammengefaßte Doktrin von der Elementarität triadischer Relationen wird in "A Guess at the Riddle" nur en passant erwähnt (S. 175). Für die Tragfähigkeit des relationenlogischen Fundaments der Peirceschen Theorienarchitektur ist sie jedoch von höchster Bedeutung. Ein mathematischer Beweis ihrer Gültigkeit ist erst vor zehn Jahren gelungen. 23

Das Rätsel der Sphinx

Die Rätselfrage der Sphinx lautet: "Woraus besteht die Welt?" 24 Peirce' Vermutung geht dahin, daß sie aus komplexen Geflechten von genuinen und degenerierten Relationen der drei beschrieben Typen besteht. Diese Hypothese muß sich im Lichte der Erkenntnisse der Einzelwissenschaften bewähren. Ein Blick auf den Arbeitsplan zu "A Guess at the Riddle" (S. 166f.) beweist, daß Peirce die Allgegenwart der drei Kategorien ursprünglich in acht Disziplinen von der semiotischen Logik bis zur Theologie demonstrieren wollte. Vier hat er eingehender behandelt. Im Kapitel zur Physiologie konstatiert er etwa drei grundlegende Funktionen des Nervensystems – Erregung von Zellen, Übertragung der Erregung und Bildung von Reaktionstendenzen unter dem Einfluß von Gewohnheit (S. 193) – sowie drei Eigenschaften des Protoplasmas – Sensibilität, Bewegung und Wachstum (S. 195). Im Bereich der Evolutionsbiologie unterscheidet er wiederum drei Prinzipien – das der zufälligen Variation, das der Erblichkeit und das der Eliminierung ungünstiger Eigenschaften (S. 202). In all diesen Trichotomien entbirgt sich das identische Grundmuster einer in ständig wechselnden Ereignissen begriffenen Welt, die als anwachsendes Konvolut von Relationen intelligibel wird.

Eine tentative Antwort auf das Rätsel der Sphinx bietet Peirce im Kapitel über die Wirkungen der Triade in der Physik an: "[...] Three elements are active in the world, first, chance; second, law; and third, habit-taking" (S. 208). Aus diesen Prinzipien leitet Peirce eine gewagte Spekulation über den Ursprung des Kosmos, der Zeit, des Raumes, selbst der Naturgesetze ab, die von der aktuellen Chaos-Forschung weitgehend bestätigt wird. 25 Die Frage "[...] Wie ist die allgemeine Tatsache, daß es Gesetze gibt, zu erklären?" 26 hatte Peirce erstmals im Januar 1884 bei einem Vortrag an der Johns Hopkins-Universität gestellt. Um zu einer mit der Evolutionstheorie vereinbaren Antwort zu gelangen, geht Peirce von der Annahme aus, der Zufall sei die generative Kraft bei der Entstehung des Kosmos. Die "auf lange Sicht konzentrativ[e]" 27 Wirkung des Zufalls bewirkt zunächst das spontane Auftreten erster, noch unzuverlässiger Regelmäßigkeiten, die allmählich zu immer rigideren Gesetzen verhärten.

Die Debatte um Herbert Spencer

Mit der Ansicht, daß selbst Naturgesetze evoluieren, setzte sich Peirce in Widerspruch zu dem seinerzeit bekanntesten Evolutionstheoretiker Herbert Spencer. Dessen deterministische Sichtweise der Naturgeschichte geht davon aus, daß Newtons Gesetze der mechanischen Verursachung heute ebenso gültig sind, wie sie es vor undenklichen Zeiten waren und in jeder vorstellbaren Zukunft sein werden. Wegen dieser agenetischen Konzeption der Natur und ihrer Gleichförmigkeiten hielt Peirce seinen Gegnern in der Debatte, die im Frühjahr 1890 in der >New York Times< um die Entwicklungsgeschichte Spencers ausgetragen wurde, vor, diese sei "not evolutionist enough" (S. 407).

Die Unhaltbarkeit der Hypothese, Naturgesetze seien unwandelbar gegeben, versucht Peirce anhand eines Gedankenexperiments zu erweisen: Würde unter Voraussetzung des Prinzips der Erhaltung der Energie, das Spencers Argumentation axiomatisch zugrunde liegt, die Bewegungsrichtung aller Körper im Universum gleichzeitig umgekehrt, ohne daß sich die Geschwindigkeiten dieser Bewegungen änderten, so würden sämtliche kosmischen Ereignisse in zeitlich umgekehrter Folge devolutionieren (S. 399). Mit Spencers Theorie ist diese Vorstellung durchaus vereinbar. Nicht jedoch mit Peirce' teleologischer Konzeption, nach der sich das Universum von einem ursprünglichen Chaos reiner Unbestimmtheit zu etwas entwickelt, das am Ende aller Tage aufgrund seiner vollständigen Bestimmung durch das Gesetz zu toter Materie erstarrt. In der Ursuppe regiert der Zufall. Doch sobald in ihr die Spur einer Tendenz zur Einheitlichkeit aktualisiert wird, verstärkt sich dieser Keim der Gewohnheitsbildung aufgrund seines selbst-generativen Charakters selbst und bewirkt auf diese Weise die Entstehung der Naturgesetze (S. 208).

Editorische Akribie

Große Werkausgaben wenden sich eher an den informierten Leser als an den Käufer. Wer eine Übersicht über Peirce' Denken sucht, dem sei die zweibändige Ausgabe >The Essential Peirce< von denselben Herausgebern anempfohlen 28. Peirce-Spezialisten werden im vorliegenden Band eine Reihe von bisher unveröffentlichten Schriften insbesondere zu gravimetrischen Forschungen sowie eine biographische Einleitung vorfinden, in der die zunächst noch optimistische Suche der Peirces nach einer neuen Lebensgrundlage kenntnisreich geschildert wird.

Die Richtlinien der Herausgabe werden im "Essay on Editorial Theory and Method" (S. 534-556) expliziert. Sie folgen den Vorgaben des >Modern Language Association's Committee of Scholarly Editions<. Die Anmerkungen und der Textapparat werden in getrennten Rubriken geführt. Ihre Handhabung wurde im Vergleich zum fünften Band wesentlich erleichtert, indem die Artikelüberschriften eingefügt wurden, so daß die Zuordnung von Anmerkung und Text nunmehr auf einen Blick hergestellt werden kann.

Bleibt zu wünschen, daß der vorliegende Band neues Interesse an Peirce' Werk weckt und bestehendes vertieft, und daß die folgenden Bände, mit der gleichen editorischen Akribie erstellt, bald erscheinen.


Constantin von Pückler
Pallasstr. 8-9
D-10781 Berlin

Ins Netz gestellt am 02.05.2001

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Anmerkungen

1 Peirce fühlte sich seelenverwandt mit Leibniz. Joseph Brent: Charles Sanders Peirce. A Life. Revised and Enlarged Edition. Bloomington: Indiana University Press 1998, 326f. Davon dürfte sich jedoch Bertrand Russell, selbst gewiß kein Anhänger der Peirceschen Logik, keine Vorstellung gemacht haben, als er denselben Vergleich traf. Bertrand Russell: Introduction. In: James K. Feibleman: An Introduction to Peirce's Philosophy Interpreted as a System. London: Allen & Unwin 1946; S. XVf., hier S. XV.   zurück

2 James K. Feibleman (Anm. 1). Bereits zuvor wurde eine gehaltvolle, aber kaum beachtete Untersuchung der Peirceschen Kategorienlehre vorgelegt von Eugene Freeman: The Categories of Charles Peirce. Chicago: University Press 1934.   zurück

3 Collected Papers of Charles Sanders Peirce, Volumes I-VI. Edited by Charles Hartshorne and Paul Weiss. Cambridge/Mass.: Harvard University Press 1931–1935. Volumes VII & VIII. Edited by Arthur W. Burks. Cambridge/Mass.: Harvard University Press 1958.   zurück

4 Charles Sanders Peirce: Naturordnung und Zeichenprozeß: Schriften über Semiotik und Naturphilosophie. Herausgegeben von Helmut Pape. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 141-263.   zurück

5 Elisabeth Walther: Charles Sanders Peirce: Leben und Werk. Baden Baden: Agis 1989. Joseph Brent (Anm. 1).   zurück

6 Max H. Fisch: Peirce, Semeiotic, and Pragmatism: Essays by Max H. Fisch. Edited by Kenneth Laine Ketner and Christian J.W. Kloesel. Bloomington: Indiana University Press 1986, S. 227.   zurück

7 Joseph Brent (Anm. 1), S. 150f.    zurück

8 Nathan Houser: Introduction to Volume 5. In: Charles Peirce: Writings. A Chronological Edition. Volume 5: 1884–1886. Edited by the Peirce Edition Project. Bloomington: Indiana University Press 1993, S. XIX-XLVIII, hier S. XXIX.    zurück

9 Elisabeth Walther (Anm. 5), 119-121.   zurück

10 Eine Übersicht über die rund 700 Fälle, die Gurney und die Ko-Autoren in >Phantasms of the Living< anführen, ist im elektronischen Begleitapparat zum vorliegenden Band unter www.iupui.edu/peirce abzurufen.   zurück

11 Collected Papers of Charles Sanders Peirce (Anm. 3), Volume VI, §§ 557-587.   zurück

12 Joseph Brent (Anm. 1), S. 183.    zurück

13 Max H. Fisch (Anm. 6), Chap. X.   zurück

14 Charles Sanders Peirce: Kernfragen des Pragmatizismus (1905). In: Charles Sanders Peirce: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus. Herausgegeben von Karl-Otto Apel. Frankfurt/M. 1991, S. 454-483, hier S. 471.   zurück

15 Charles Peirce: Harvard Lecture VII (1866). In: Charles Sanders Peirce: Writings. A Chronological Edition. Volume 1: 1857–1866. Edited by the Peirce Edition Project. Bloomington: Indiana University Press 1982, S. 454-470, hier S. 466.   zurück

16 Charles Sanders Peirce: Rezension von Josiah Royce: The Religious Aspect of Philosophy (1885). In: Charles Sanders Peirce (Anm. 14), S. 253-265, hier S. 256f.   zurück

17 Max H. Fisch (Anm. 6), S. 190.   zurück

18 Charles Sanders Peirce: Eine neue Liste der Kategorien (1867). In: Charles Sanders Peirce: Semiotische Schriften. Herausgegeben von Christian Kloesel und Helmut Pape. Band 1, Frankfurt/M. 1986, S. 147-159.   zurück

19 Diese Passagen sind erstmalig 1931 im ersten Band der >Collected Papers< erschienen. Charles Peirce (Anm. 3), Volume I, §§ 357-359.   zurück

20 Charles Sanders Peirce: One, Two, Three: An Evolutionist Speculation (1886). In: Charles Sanders Peirce (Anm. 8), S. 298-302, hier S. 298f.   zurück

21 Charles Sanders Peirce: One, Two, Three: Fundamental Categories of Thought and Nature. In: Charles Sanders Peirce (Anm. 8), S. 242-247, hier S. 244, 456.   zurück

22 Ebd., S. 242   zurück

23 Robert W. Burch: A Peircean Reduction Thesis. The Foundations of Topological Logic. Lubbock: Texas Tech University Press 1991.    zurück

24 Charles Sanders Peirce: One, Two, Three. In: Charles Sanders Peirce (Anm. 8), S. 294-297, hier S. 295.   zurück

25 Joseph Brent (Anm. 1), S. 175.   zurück

26 Charles Sanders Peirce: Entwurf und Zufall (1884). In: Charles Sanders Peirce (Anm. 4), S. 113-125, hier S. 119.   zurück

27 Ebd., S. 122.   zurück

28 Charles Sanders Peirce: The Essential Peirce. Volume 1, 1866–1893. Edited by Christian Kloesel and Nathan Houser. Bloomington: Indiana University Press 1992. Volume 2, 1893–1913. Edited by the Peirce Edition Project. Bloomington: Indiana University Press 1998.    zurück