Althusser und die "Utopie des Lesens" - eine Lektion in angewandter Dialektik
- Benedikt Descourvières: Utopie des Lesens. Eine Theorie kritischen Lesens
auf der Grundlage der Ideologietheorie Louis Althussers. Dargestellt an Texten Georg
Büchners, Theodor Fontanes, Ödön von Horváths und Heiner Müllers.
(Germanistik im Gardez 6) St. Augustin: Gardez-Verlag 1998. 256 S. Kart. DM 54,90.
ISBN 3897960125.
1. Die "Utopie des Lesens"
Benedikt Descourvières legt in seiner Dissertation vier Einzelstudien zu
literarischen Prosatexten verschiedener Epochen und Themenkreise vor. Jede dieser Studien
bricht mit einer mehr oder minder stark ausgeprägten Forschungstradition zu dem
jeweiligen Text. Grundlage dafür ist ein stringenter theoretischer Ansatz, der eine
interessante Überführung von Althussers Theorie des Lesens auf das Gebiet
ästhetischer Texte - insbesondere das der Prosa - leistet. Im Anschluss an die so
entwickelte "kritische Lesart" ist es das erklärte Ziel des Autors, die
"Beschreibung der utopischen Dimensionen von Impulsen, die aus der Lektüre
literarischer Texte hervorgehen können," (S. 12) zu ermöglichen. "Die
Inanspruchnahme der Kategorie des Utopischen für die Lektüre setzt aber
voraus, dass der Text die Fähigkeit besitzt, die Rezeption zu einer Wahrnehmung von
Verdrängtem und Fremdem zu bewegen." (S. 13)
Schon hier wird deutlich, dass Descourvières‘ konsequent
durchgearbeiteter Methode ein doppeltes Verständnis von Text zugrundeliegt – zum
einen ist es ihr Ziel, dem betreffenden Text ein grundsätzliches utopisches Potential zu
attestieren, zum anderen beruft sie sich auf dem individuellen Lesevorgang, von dem die
Aktualisierung der utopischen Dimension abhängt. Die beide Textbegriffe stehen
dabei in einem Interdependenzverhältnis.
2. Literatur als Praxisform
Die Methode des Verfassers bietet unter der Ausblendung
textexterner Referenzen der Produktion sowie der Subjektivität der Rezeption
zunächst die Möglichkeit einer textinternen, auf der Invarianz des
Zeichenkomplexes des literarischen Textes beruhenden Analyse. Grundlage dafür ist die strukturalistische Theorie Louis Althussers
1.
Louis Althussers Theorie ermöglicht zwei Sichtweisen von Literatur:
Literatur kann unter dem Aspekt der Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse
gesehen werden und als Möglichkeit und Ausgangspunkt der Veränderung
derselben. Althussers Strukturtheorie beruht auf einer Einordnung von Autor/ Leser/ Text in die
Gesamtheit gesellschaftlicher Praxisformen. Analog zu dem epistemologischen Bruch, den
Marx´ Philosophie bedeutet, interpretiere "Althusser das Subjekt nicht mehr auf der
Grundlage einer humanistisch-idealistischen Vorstellung als zentrales Movens des
geschichtlichen Prozesses, sondern vor dem Hintergrund einer ideologischen
Bewusstseinskonstitution in und für gesellschaftliche Praxisformen". (S. 16)
Individuen werden in einem als Interpellation bezeichneten Vorgang durch die
gesellschaftlichen Praxisformen als Subjekte angerufen. Sie erkennen sich in einer von
Normen bestimmten gesellschaftlichen Praxis, identifizieren sich mit ihr und unterwerfen sich
dadurch. "Die Ideologie strukturiert die Welt als sichtbare, wirkliche Ganzheit und
verdrängt das Andere als unsichtbares Anwesendes." (S. 16f)
Althussers Ideologiebegriff beschreibt das Verhältnis des Menschen zu
seinen Existenzbedingungen und beruht auf der Annahme, dass der Mensch ideologisch
geprägt in elementaren Praxisformen handelt. Die Ich-Identität wird somit – auch
in der als Praxisform verstandenen Literatur - zum ersten ideologischen Effekt: Die einzige
Freiheit des Subjekts besteht in der freiwilligen Unterwerfung (assujettissement) unter
die Praxisform.
3. Subjekt und künstlerischer Text bei Althusser
Da auch der künstlerische Text Teil der Praxisform ist, die ihn entstehen
lässt, ermöglicht seine Lektüre dem Subjekt ein ideologisches
Wiedererkennen seiner selbst. Dieses geht einher mit der Anerkennung bestehender
Ordnungen und dem Verkennen alternativer Wahrnehmungs- und Handlungsoptionen. Das
ideologische Verkennen ist nicht selbstverschuldet, "denn es gehört nach
Althusser konstitutiv zur gesellschaftlichen Praxis, die das Individuum nicht
`überschreiten´ kann" (S. 32).
Doch ist der Anspruch dieses Ideologiekonzepts nur scheinbar
totalitär: Gerade Kunst und Literatur sind nach Althusser in der Lage, "dem
rezipierenden Subjekt die Illusion des Wiedererkennens zu zersetzen und es mit der Fremde
des Anderen zu konfrontieren, welches die Ideologie permanent auszuschließen
trachtet" (S. 17). Althusser bezeichnet diesen Ausgangspunkt des Kennenlernens des
Anderen als décalage implacable, als unverrückbare Verschiebung. Neben
der Möglichkeit, den literarischen Text als Teil einer Praxisform zu sehen, die ihre eigene
Ideologie reproduziert, besteht nach Althusser die Alternative, im Text die Möglichkeit
zur Veränderung wahrzunehmen. Der Begriff der Praxisform entgeht einem absoluten
Anspruch, indem er so zum energetischen Modell wird, welches die Möglichkeit des
Wandels beinhaltet.
Ziel Descourvières´ ist es, in einer literaturwissenschaftlichen
Operationalisierung der Theorie Althussers décalage implacable im literarischen Text
als Ausgangspunkt utopischer Lektüre benennbar zu machen.
4. Althussers Theorie des Lesens - die lecture symptomale
Der in diesem Zusammenhang zentrale Gedanke Althussers beruht auf der
Anschauung, dass die Struktur, die die konkrete Existenz des Menschen bestimmt,
grundsätzlich nicht positiv, sondern stets nur durch die Anwesenheit von Spuren und
Effekten im Text ex negativo festgestellt werden kann. Althussers Theorie des Lesens ist eine
Theorie des `symptomatischen Lesens´: Die Indizien von Abwesenheit werden als
"abwesend-Anwesendes", als "Schweigen des Texts" (S. 55f.) in
Bezug auf die ihn konstituierende Struktur gedeutet.
Da jedes Erkennen Selektion - das heißt ein
Verkennen von Wahrnehmungsalternativen - beinhaltet, ist das Nicht-Sehen stets
mitzudenken.2 Die `symptomatische Lektüre´ wird zur Basis einer
kritischen Lesart, indem sie im Text nach dem `anwesenden Abwesenden´ - nach seinen
Entstehungsbedingungen - sucht. Ausgangspunkt der kritischen Lesart sind dabei die
offenkundigen Widersprüche des Textes. Die `symptomatische Lektüre´ ist als
Antithese in einem dialektischen Verfahren beschreibbar, das die Widersprüche und
Brüche des Textes in einer höheren Ebene - der kritischen Lesart - synthetisiert. These in diesem Verfahren und Grundbedingung der `kritischen Lesart´ ist
das Konstrukt einer `spontanen Lektüre´, die der Textstrategie folgt, welche die
Ideologie reproduziert.3 Die `spontane Lektüre´ bildet die Ebene,
auf der die Brüche und Widersprüche des Textes zur Geltung kommen. Auf dieser
Ebene ist auch die decalage implacable, Ausgangspunkt der kritischen Lesart, die
aufgrund der wahrgenommenen Anwesenheit der abwesenden Struktur nach dem
Schweigen im Text fragt, feststellbar.
5. Die Überführung der Theorie des Lesens
in die Literaturwissenschaft - "Die strukturale Semantik" von Algirdas Julien
Greimas4
Um die methodische Annäherung von Althussers Theorie des Lesens
an den Text selbst zu leisten, greift der Autor auf Elemente aus Algirdas Julien
Greimas Hauptwerk "Die strukturale Semantik" zurück. Die
Grundvorstellung Greimas´ begreift Sprache als Verband von Bedeutungsstrukturen5 , Descourvières kombiniert diese Vorstellung mit Althussers
Praxisbegriff. Die entscheidende Untersuchungskategorie bildet dabei der Begriff der
`Isotopie´, der durch die Rekurrenz sich gegenseitig verstärkender oder auch in
Opposition geratender Inhaltsmerkmale definiert wird. (Vgl. S. 70) Diese Iterativität von
Inhaltsmerkmalen ist nicht auf der Ebene der Lexeme beschreibbar, sondern - analog zu
Greimas Anspruch, Bedeutung und Inhalt als homogenes Strukturganzes (Vgl. S. 71) zu
betrachten - auf der Ebene des Sems, bzw. der diesem übergeordneten Einheit des
Klassems. Es ist damit möglich, die Offenheit der Lexeme für verschiedene
Bedeutungen zu erfassen.
Andererseits verdeutlicht diese Unterscheidung eine grundlegende
Trennung von Tiefen- und Oberflächenstruktur. Die Struktur ist nach Greimas
Existenzmodus der Bedeutung. (Vgl. S. 72) Greimas - und hier liegt die von Descourvières gut herausgearbeitete Analogie zu Althussers Begriff der `energetischen
Praxisform´ - geht von einem Verhältnis gegenseitiger Bestimmung der Struktur und den
Elementen ihrer Wirkung aus. So wie es keine präexistente Praxisform gibt, so gibt es
keine präexistente Struktur. Eine Bedeutungsstruktur entsteht immer nur im
Zusammenhang ihrer konkreten sprachlichen Realisierung.
6. Inhaltsmerkmal, Akteur und Rolle als Arbeitsbegriffe einer kritischen
Lesart
Als Möglichkeit der strukturalen Analyse ergibt sich für Descourvières folgerichtig der Bezug auf die Isotopien. Deren Analyse abstrahiert von der
Textoberfläche, d.i. dem diskursiven Verlauf des Textes, indem sie sich auf die Rekurrenz
der Klasseme bezieht und ermöglicht es damit, die semantische Tektonik eines Textes
zu entschlüsseln.
Descourvières entwickelt seine folgenden Einzelbetrachtungen
anhand der Arbeitsbegriffe `Inhaltsmerkmal´ und `Merkmalslinie´, wobei letzterer als
Oberbegriff für die verschiedenen Formen der Isotopie gilt. Descourvières
stellt fest, "dass die Produktion von Bedeutung für den Leser während der
Rezeption des Textes [...] von Polysemien über Monosemierungsprozesse bis hin zur
Spezifikation auf der Basis manifestierter isotoper Pläne" (S. 79) verläuft.
Unter der Annahme von Polysemie lässt sich durch die Analyse komplexer
Merkmalslinien die prinzipielle Möglichkeit mehrerer Lesarten - auch der kritischen -
erschließen. Gerade Greimas Bezug auf die Tiefenstruktur bildet die Grundlage der
methodischen Umsetzung von Althussers Theorie der Präsenz von Spuren und Indizien
einer `abwesend-anwesenden´ Struktur im Text.
Ist die Isotopie als `Merkmalslinie´ die Analyseeinheit für den
semantischen Aufbau von Texten, so bilden die Begriffe `Akteur´ und `Rolle´ die figurativen
Analyseeinheiten des diskursiven Textverlaufs. Greimas´ Begriff des
`Akteurs´ tritt dabei an die Stelle von `Figur´, indem sie deren paradigmatische Konnotation
mit `Charakter´ und `Person´ negiert.6 Die Einheit `Akteur´ wird als eine
lexikalische, zur Individuation fähige Aktionseinheit des Diskurses eingeführt, die
mehrere Rollen übernehmen kann. (Vgl. S. 80) Auch hier ist die Analogie zu Althussers
Subjekttheorie, die die Subjekte als Agenten in verschiedenen gesellschaftlichen
Praxisformen sieht, deutlich hervorgehoben worden. (Vgl. S. 81)
Descourvières´ Verbindung von Althussers Theorie des Lesens und
Greimas´ strukturaler Semantik leistet durch den Bezug auf die Tiefenstruktur und durch die
Unterscheidung in Akteur und Rolle die Möglichkeit eines Bruchs mit der
beschriebenen ideologischen Sprache der Spontaneität, die der diskursiven
Textstrategie unterliegt. Das wechselseitige Bestimmungsverhältnis von Struktur und
Wirkungszusammenhang des literarischen Textes wird dabei unter Rückgriff auf
Greimas´ Unterscheidung von narrativer Tiefenstruktur und diskursiver
Oberflächenstruktur näher spezifiziert. Die komplexe Interdependenz zwischen
anwesendem Text und abwesender Struktur ist ausgehend von einer auf der decalage
implacable beruhenden `symptomatischen Lektüre´ als Ausgangspunkt
utopischen Handelns beschreibbar.
Neben einer Untersuchung zu Theodor Fontanes Effi Briest verifiziert
Descourvières diese Theorie an drei weiteren Einzelanalysen zu Georg
Büchners Lenz, Ödön von Horváths Jugend ohne Gott und
Heiner Müllers Mommsens Block.
7. Die kritische Lesart zu Theodor Fontanes Effi Briest
Die Brüche in Theodor Fontanes Effi Briest werden von der
Forschung stark hervorgehoben. Diskontinuität besteht in der Darstellung von Effis
Jugend als Idylle unbeschwerter adliger Kindheit und der Welt der gesellschaftlichen
Konventionen, die mit Effis Heirat scheinbar plötzlich über sie hereinbricht.
Descourvières` Untersuchung nimmt die Textstelle, die diesen
scheinbaren Bruch belegt, als Ausgangspunkt für eine Analyse des gesamten Textes
unter dem Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Konventionalisierung. Gerade das Fehlen
des Inhaltsmerkmals <gesellschaftliche Praxis> im ersten und die starke Hervorhebung
im zweiten Teil lässt es als `symptomatisches Inhaltsmerkmal´ erscheinen. Das Ergebnis,
zu dem die Analyse kommt, widerspricht der Annahme einer Diskontinuität: "Alle
Inhaltsmerkmale der vermeintlichen Kindheitsidylle schließen eine gesellschaftliche
Komponente ein und offenbaren ein gewichtiges Schweigen im Text: Es gibt keinen
gesellschaftsfreien, vorideologischen Raum..." (S. 98). Effis Affäre, Effis Ausritt am
Strand - von der Forschung als Ausbruch aus den gesellschaftlichen Normen gedeutet -
werden zur bloßen Selbsttäuschung, zur Illusion eines möglichen Bruchs mit
den gesellschaftlichen Konventionen. Die Diskontinuität besteht somit
ausschließlich auf der Ebene der Textstrategie. Die kritische Lesart kann dadurch, dass
das Inhaltsmerkmal <gesellschaftliche Praxis> zum Teil in Negation im gesamten Text
präsent ist, der spontanen Lektüre eine zweite Sichtweise entgegensetzen.
Wenn die Forschung7 eine
Dreiteilung des Romans in Jugendidylle, Ehe und Bruch mit den Konventionen und zuletzt
Rückkehr in die Welt der Jugend feststellt, so sieht Benedikt Descourvières das
Vorherrschen gesellschaftlicher Konventionen im gesamten Text. Selbst in der
"melancholische[n] Sehnsucht nach einer zwanglosen Idylle" wirken
"Elemente einer humanistischen Ideologie, welche die Existenz des Subjekts in
strukturierten Praxisformen verkennt" (S. 110). Dieses "lesbare Schweigen in `Effi
Briest´" (S. 109) bildet das utopische Potential des Textes, das in der individuellen
Rezeption an die jeweils aktuelle Erfahrungswirklichkeit anschließbar ist.
8. Die kritische Lesart zu Georg Büchners Lenz
Im Fall von Büchners Text Lenz bezieht
Benedikt Descourvières Stellung gegen eine Vielzahl von Studien8, die
Lenz als unpolitisch und subjektiv kennzeichnen und den Text als Pathographie unter
rein individual-psychologischen Gesichtspunkten betrachten. Benedikt Descourvières
führt überzeugend den Nachweis, dass die Forschung zu Lenz in
`spontaner Lektüre´ weitgehend der Textstrategie folgt: Sie erkennt zumeist nur
"das Evidente der Textstrategie und verkennt damit die Eigendynamik des Textes als
fiktives, ästhetisches Zeichen" (S. 113). Im Anschluss an diese Feststellung
entwickelt Descourvières eine alternative kritische Lesart, die einen
"strukturellen Grundwiderspruch" (S. 136) zwischen dem unbestimmten Drang
nach Bewegung und Veränderung (auf diskursiver Ebene verbunden mit den
Inhaltsmerkmalen zu Lenz´ Wahnsinn) und der unbeweglichen, einheitlichen Ruhe der von
Lenz ersehnten Bergidylle konstatiert. Büchners "Lenz" ist mit der kritischen
Lesart nicht mehr als Reproduktion einer Krankengeschichte lesbar, sondern wird zum
"ästhetischen Ausdruck der ideologischen Disposition subjektiver
Wahrnehmung" (S. 136).
Ruhe und Stille versetzen Lenz stets in eine Stimmung des Tatendrangs.
Descourvières untersucht diesen Sachverhalt, indem er das symptomatische
Inhaltsmerkmal <Zustandsveränderung> zugrundelegt. Die Stille des Tals und des
Dorfs wird aus dieser Perspektive zum Synonym des Einverständnisses mit dem
Bestehenden, der Akteur Oberlin handelt im Althusserschen Sinn als "Subjekt, das als
`Agent in Strukturen´ solche Verhältnisse repräsentiert, in deren Rahmen es lebt,
denkt, handelt und eben diese Verhältnisse reproduziert" (S. 129). Die kritische
Lesart kann dem Akteur Lenz somit ein Leiden an der Stille attestieren, das der Sehnsucht
nach Ruhe, Harmonie und Idylle, die die Textstrategie ausdrückt, durchaus
widerspricht.
In Descourvières´ Untersuchung wird so die Stille selbst zum Akteur
des assujettissement: "Die Stille als Aktoralisierung der Ideologie ruft Lenz an" (S.
135). Statt Lenz also auf das Paradigma einer Psychopathogenese zu reduzieren,
kommt Descourvières´ kritische Lesart zu einer Betrachtung des Wahnsinns als von
Lenz und seiner Umwelt verkannte Möglichkeit der Zustandsveränderung.
Lenz´ intentionsloser Stillstand, der das Ende des Texts begleitet, wird in der
kritischen Lesart zum Ausdruck des die gesellschaftlichen Praxisformen verändernden
Handelns: Wahnsinn wird aus dieser Sicht zum "utopische[n] Kraftfeld" (S.
137).
9. Die kritische Lesart zu Ödön von Horváths Jugend ohne
Gott
Ödön von Horváths Roman Jugend ohne Gott spielt im
deutschen Schulmilieu während des nationalsozialistischen Regimes. Der Text ist
geprägt durch die häufige Verwendung des Lexems "Fisch" bzw. von
verbundenen Inhaltsmerkmalen <Grobheit>, <Brutalität> und
<Egoismus>. Diese Inhaltsmerkmale werden durch die Textstrategie häufig dem
nationalsozialistischen Umfeld des humanistischen Idealen verhafteten Lehrers zuerkannt.
Nach der Zeugenaussage, mit der der Lehrer seine Passivität überwindet und
scheinbar Gerechtigkeit herstellt, wird das Lexem "Fisch" dem Lehrer
ausgerechnet durch den Mörder T zugeordnet. Stellt diese Textstelle im Sinne einer
`spontanen Lektüre´ einen überraschenden Bruch in der Textstrategie dar, so gilt
sie einer kritischen Lesart als décalage implacable. Diese stößt eine symptomale
Lektüre an, die auf dem den Inhaltsmerkmalen von <Fisch>
übergeordneten Inhaltsmerkmal <soziale Kälte> beruht. Dieses
Inhaltsmerkmal ist bis zum Augenblick der Zeugenaussage - folgt man der Textstrategie -
nicht dem humanistisch denkenden Lehrer zugeordnet, es ist vielmehr der Lehrer, der seine
Umwelt über das Inhaltsmerkmal <Fisch> explizit charakterisiert.
In einem weiteren Schritt stellt Descourvières fest, dass alle
Inhaltsmerkmale im Merkmalskomplex <Fisch> sich durch die Abwesenheit
zielorientierter Aktion und durch distanzierte Beobachtung auszeichnen. Das Inhaltsmerkmal
<stumm-Stummheit> wird so zum übergeordneten Inhaltsmerkmal. Durch das
Fehlen verändernden Handelns und der daraus folgenden Stärkung des
repressiven Systems bringt die symptomatische Lesart den Akteur Lehrer selbst mit dem
Inhaltsmerkmal <Stummheit> in Verbindung. Tatsächlich weist Descourvières den Merkmalskomplex <Stummheit> als Strukturmerkmal des gesamten
Texts nach, Inhaltsmerkmale des Komplexes prägen das Handeln fast jedes Akteurs –
auch des Lehrers.
Aus der Perspektive der kritischen Lesart kann die Zuordnung "Lehrer-
Fisch" also nicht überraschen: der Lehrer ist ein `Agent in Strukturen´, den die
illusionäre Sehnsucht nach Harmonisierung der Spannungen prägt. "Diese
Sehnsucht führt dazu, die eigene Stummheit als kritische Handlung zu verkennen und
sich damit `freiwillig´ der Kontinuität bestehender Existenzbedingungen zu
unterwerfen" (S. 170). Die symptomatische Lektüre liest das "Inhaltsmerkmal
<stumm-Stummheit> als Gestaltung der im Text anwesenden Abwesenheit einer
ideologischen Struktur [...]: Wirkung und Ursache subjektiven illusionären Verkennens in
repressiven gesellschaftlichen Verhältnissen werden erkennbar" (S. 172).
Diese Feststellung auf der narrativen Ebene der Tiefenstruktur birgt die
utopische Dimension des Texts. Diese wird jedoch verdeckt durch die Dominanz der
Kriminalhandlung und des für den Lehrer glücklichen Endes auf diskursiver
Ebene.
10. Die kritische Lesart zu Heiner Müllers Mommsens Block
Descourvières´ vierte Untersuchung beschäftigt sich mit
Heiner Müllers hermetischem Langgedicht Mommsens Block. Der Autor
widersteht dabei der Versuchung, die zahlreichen Anspielungen auf historische Ereignisse
und Personen, die Zitate und textexternen Referenzen zum Hauptgegenstand der Analyse zu
machen. Stattdessen untersucht Benedikt Descourvières - gemäß den Maximen
seiner kritischen Lesart - den textinternen, symptomatischen Widerspruch des Texts: Den
Widerspruch "zwischen destruktiv-zirkularer Bewegung der geschichtsmächtigen
Akteure und der Fähigkeit von Sehen und Erkennen, die eine zentrale Voraussetzung
für kritisches politisches Handeln ist" (S. 190).
Die symptomatische Lektüre geht dabei von der Passage über
das Christentum aus und entwickelt sich anhand der Opposition zwischen der
gewalttätigen Geschichte und dem "Sehen" des Johannes auf Patmos
(Vgl. S. 191). Sie erfolgt unter der Maxime, dass - wenn `Sehen´ als erkenntnisleitende
Handlung grundsätzlich möglich ist - auch politisch-veränderndes Handeln
denkbar ist. Der Kreislauf der Gewalt könnte folglich also durchbrochen werden. `Die
Toten´ als Akteur in Mommsens Block fordern eine solche Möglichkeit offenen,
produktiven Handelns in der Geschichte permanent ein. Auf diese Weise ist die Geschichte
der Lebenden an die der Toten gebunden: "Die nicht stattfindende
Vorwärtsbewegung der Geschichte verwehrt den Toten der Geschichte eine
nachhaltige Rehabilitation durch die Politik der Lebenden." (S. 176) Über die
Rolle des Totenführers ist der Akteur Johannes auf Patmos mit den Toten verbunden
und wird zum Seher gegen die gewaltsame Geschichte.
Aus dieser Sequenz mit dem Grundwiderspruch zwischen dem
Totenführer Johannes auf Patmos und der gewaltsamen, zirkularen Geschichte
entwickelt Descourvières das symptomatische Inhaltsmerkmal <offene
Bewegung> und damit die Möglichkeit einer alternativen Wahrnehmung des
fatalen Geschichtsprozesses. Dabei entsteht eine potentielle Konkurrenz zwischen dem
Sehen Johannes auf Patmos und der forschenden Erkenntnis des Dialogpartners des Ich-
Erzählers - dem Akteur ex negativo Theodor Mommsen: dem Verstummen des
forschenden Intellektuellen wird die Möglichkeit des politisch-verändernden
Handelns durch den sehenden Johannes auf Patmos gegenüber gestellt. Descourvières Untersuchung beinhaltet damit gegenüber
der bisherigen wissenschaftlichen Rezeption, die in Heiner Müllers Geschichtsbild
hauptsächlich den Katastrophenzusammenhang9 entdeckt, eine
entscheidende Akzentverschiebung.
Via symptomatischer Lektüre wird Mommsens Block zum
Vehikel einer Utopie von "Geschichte als Entwicklung menschlicher Freiheit und
Gerechtigkeit"(S. 192). Im Katastrophenzusammenhang der Geschichte ist `das
Andere´ somit stets mitgedacht.
11. Fazit
Descourvières gelingt - und dies ist sicherlich eine der
Hauptstärken seiner Arbeit - die Erstellung eines theoretischen Grundgerüsts, das
es ermöglicht aus rein textimmanenter Sicht eine gesellschaftskritische Perspektive an
den jeweiligen Text heranzutragen. Die konsequent durchgearbeitete
Überführung von Louis Althussers gesellschaftstheoretischem Strukturalismus in die
Literaturwissenschaft ist die Grundlage einer dezidierten Analyse der nicht explizit
ausgeführten, nur mittels Indizien erkennbaren Bedeutungsstrukturen des Textes.
Elemente der strukturalen Semantik Algirdas Julien Greimas bilden dabei eine
entscheidende Vermittlerrolle.
Durch die Methode der symptomatischen Lektüre wird eine weitere
Qualität des Textes offengelegt. Vor dem Hintergrund einer `spontanen Lektüre´,
die der Textstrategie folgt, konstruiert Descourvières den Grundwiderspruch des
Textes und überführt diesen dann in eine kritische Lesart. Diese Lesart
enthält die utopische Dimension des Texts, deren Aktualisierung als Aufgabe an die
Rezeption weitergegeben wird. Der Komplex Text/ Autor/ Leser wird als Teil gesellschaftlicher
Praxisformen beschrieben, der Text bleibt ein Produkt ideologischer Praxis, auch wenn er
durch das Kenntlichmachen seiner Entstehungsbedingungen in der kritischen Lesart eine
utopische Dimension enthüllt. Descourvières´ besondere Leistung besteht
darin, diese gesellschaftlich-ideologische Dimension aus dem invarianten Zeichensatz des
Texts selbst zu erschließen, ohne auf textexterne Referenzen zurückgreifen zu
müssen.
In der Anwendung auf die vier untersuchten Texte bewirkt diese Methode
jeweils eine Neugewichtung: Sei es eine Akzentverschiebung wie im Fall von Mommsens
Block und Lenz, sei es eine vollständige Neuorientierung wie bei Jgend
ohne Gott und Effi Briest.
Indem die kritische Lesart die Aktivierung der "Utopie des
Lesens" ermöglicht, stellt sie für die Literaturwissenschaft einen Gewinn
dar.
Ralf Rättig, M.A.
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Institut für Theaterwissenschaft/Graduiertenkolleg "Theater als Paradigma der
Moderne"
Welderweg 18
D-55099 Mainz
Ins Netz gestellt am 27.11.2000.
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Anmerkungen
1 Benedikt Descourvières ordnet seine Arbeit in den
Kontext einer allmählichen Althusser-Renaissance in der Forschung ein. Gerade
Althussers Stellung zwischen Strukturalismus und Marxismus werde von der Wissenschaft
wieder verstärkt thematisiert, die Anwendung auf die Literaturwissenschaft
beschränke sich bislang jedoch auf literatursoziologische Aspekte. (Vgl. S. 18ff.)
zurück
2 Die von Marx beschriebenen Brüche in den
Texten der bürgerlichen Ökonomen werden nach Althusser z.B. damit
erklärt, "dass diese Texte Antworten auf Fragen geben, die begrifflich bisher nicht
gestellt werden konnten" (S. 57). zurück
3 Dabei ist der Begriff der Reproduktion nicht als in sich
identische Widerspiegelung gesellschaflicher Verhältnisse zu sehen, sondern als
indirekte Gestaltung: Die literarische Reproduktion "wird ebenso bestimmt durch das, was
der Spiegel spiegelt, wie durch das, was er nicht spiegelt, für das er blind ist" (S.
54). zurück
4 Algirdas Julien Greimas: Die strukturale Semantik.
Braunschweig: Vieweg 1971. zurück
5 Hierin besteht die entscheidende Weiterentwicklung
gegenüber Saussures Annahme von `langue´ als System von Zeichen. Eine übersichtliche Darstellung der Grundbegriffe des Greimasschen Denkens findet sich in Peter Marx: Heiner Müller: `Bildbeschreibung´. Eine Analyse aus dem Blickwinkel der Greimasschen Semiotik. Frankfurt a.M. (u.a.): Peter Lang, 1998, S. 30-64. zurück
6 Für den Bereich des Theaters vergleiche zu dieser
Thematik: Ralf Rättig: Figurprobleme im Feuilleton. Vom Umgang mit
Phänomenen der Figuration in aktuellen Theaterrezensionen. In: Bettina Brandl-Risi u.a.
(Hg.): Figuration. Beiträge zum Wandel der Betrachtung ästhetischer
Gefüge. München: epodium-Verlag, 2000, S. 36-53. zurück
7 Descourvières bezieht sich hier vor allem
Texte, die die Analyse des Gesellschaftlichen vor allem an die Darstellung der Ehe im
Mittelteil knüpfen. Die Schilderung der Kindheit wird kontrastiv gelegentlich als
"symbolische Topographie des Paradieses" (Michael Mandelartz: Das erste Kapitel ist immer
die Hauptsache. Paradies und Sündenfall in Effi Briest, In: Doitsu Bungaku 99 (1997), S.
78.) untersucht. zurück
8 Vgl. u.a. Walter Hinderer: "Sein Dasein war ihm eine
notwendige Last." In: Georg Büchner: Dantons Tod, Lenz, Leonce und Lena,
Woyzeck. Interpretationen. Stuttgart, Reclam, 1995. ; Vgl. auch Gerhard Irle:
Büchners `Lenz´ – eine frühe Schizophreniestudie. In G.I.: „Der psychiatrische
Roman. Stuttgart: Hippokrates-Verlag, 1965, S. 73-83. zurück
9 Vgl. u.a. Herzinger, Richard: Der Tod ist die Maske der
Utopie. Heiner Müller und die Mission des romantischen Modernismus. In: Text und
Kritik 73: Heiner Müller. Hrsg. v.Heinz Ludwig Arnold. München (2) 1997, S. 51-71.
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