Rischpler über Müller: Kleidung im frühen Mittelalter

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Susanne Rischpler

Stoffe, die Geschichte schreiben

  • Mechthild Müller: Die Kleidung nach Quellen des frühen Mittelalters: Textilien und Mode von Karl dem Großen bis Heinrich III. (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 33) Berlin u.a.: Walter de Gruyter 2003. 337 S. / 20 Taf., 80 Abb. (40 farb.) Geb. EUR (D) 128,-
    ISBN 3-11-017219-4.


Forschungsstand

Mechthild Müller verdeutlicht, dass der Zeitraum von etwa 800 bis 1050 in der kostümgeschichtlichen Forschung bislang stiefmütterlich behandelt worden ist. Auch bei archäologischen Ausgrabungen riefen Textilreste meist nur geringes Interesse hervor. So galt lange Zeit die Meinung, "daß es sich bei den Textilarbeiten des frühen Mittelalters aus dem westeuropäischen Bereich nicht um wertvolles Kulturgut oder gar um Kunsterzeugnisse handeln könne" (S. 14). In Kapitel 2.3 mit dem unangebrachten Titel "Weitere Forschungsansätze" (S. 18 ff.) – denn eigentlich handelt es sich um die Zusammenfassung der einschlägigen Ergebnisse weiterer Forschungsdisziplinen – werden neben handwerksgeschichtlichen Betrachtungen zum Thema Mode und Kleidung u.a. auch diesbezügliche sprach- und literaturwissenschaftliche sowie kunsthistorischen Untersuchungen angesprochen. Diese hätten durchaus in das nachfolgende Kapitel über die herangezogenen Quellen integriert werden können.

Quellen

Die Quellenlage im Untersuchungszeitraum ist restringiert. Müller selbst spricht von "Quellenarmut" (S. 275).

Schriftquellen

Die schriftlichen Quellen (Kap. 3.1 sowie Auflistung im Anhang, S. 287 ff.) rekrutieren sich, ohne allerdings die althochdeutschen Quellen aus den Augen zu verlieren, vorwiegend aus (mittel)lateinischen historischen Schriften (Chroniken, Annalen, Viten) und aus klösterlichem Register- und Regelwerk der Zeit. 1 Eine besonders wichtige Quelle ist in diesem Zusammenhang der Liber tramitis aevi Odilonis Abbati, in dem sich eine maßgenaue Herstellungsanleitung für die Bekleidung der Mönche der oberitalienischen Abtei Farfa findet (S. 41; Abdruck im Anhang: S. 281 f.).

Bei der Präsentation der Textquellen hätten auch die Capitula cum primis constituta erwähnt werden sollen, die Müller erst im Rahmen der Besprechung einzelner Kleidungsstücke im 5. Kapitel anführt (S. 84). Hierbei handelt es sich um die Festlegung von Preisobergrenzen (u.a. für Kleidungsstücke), die Karl der Große im Jahre 808 niederschreiben ließ. Dieser Erlaß wurde beharrlich mit dem Bericht über Bauernkleidung verwechselt, der in der Kaiserchronik enthalten ist, so daß die Capitula cum primis constituta immer wieder als Kleiderverordnung charakterisiert wurden: "Selten hatte ein Irrtum ein so zähes Leben" (S. 87). 2

Bildquellen

Die Bildquellen (Kap. 3.2 sowie "Verzeichnis der im Text erwähnten Handschriften und Objekte", S. 317 ff.), die Müller für ihre Untersuchungen heranzieht, entstammen vor allem dem Bereich der klerikalen Buchmalerei. Zwei Handschriften aus dem 9. Jahrhundert sind für sie von besonderem Interesse: der Stuttgarter Psalter und der Utrecht-Psalter. 3 Außerdem zieht sie kunsthandwerkliche Erzeugnisse (z.B. Textil- und Goldschmiedearbeiten) als Quellen heran. Aus dem Bereich der Plastik sind neben den kleinteiligen Elfenbeinschnitzereien der Zeit insbesondere die Bronzetür und -säule im Dom zu Hildesheim zu nennen. Diese herausragenden ottonischen Werke des monumentalen plastischen Bronzegusses, die unzählige Einzelheiten des mittelalterlichen Alltagslebens zeigen, liefern Müller den Stoff für ein gelungenes Entree in ihre Untersuchung (S. 1 ff.). Denn sie führt dem Leser anhand dieses Beispiels vor Augen, dass nur derjenige, der aufmerksam hinsieht und die Details auf den Bildzeugnissen sorgfältig studiert, zu neuen Erkenntnissen gelangen kann.

Die Autorin berücksichtigt immer auch die Fragestellung, inwieweit die mittelalterlichen Bildquellen die Realität abbilden wollten und somit als verlässliche Zeugnisse herangezogen werden dürfen (S. 44: idealisierende Herrscherbildnisse, S. 46: Darstellung von historischen Persönlichkeiten im Habitus einer bedeutenden vergangenen Epoche, um deren Vorbildfunktion zu dokumentieren). Zu dieser Problematik gehört natürlich auch die Diskussion um den "Modernisierungsprozeß, der in der gesamten mittelalterlichen Kunst permanent stattgefunden hat", die Müller verwirrenderweise in einem der kunsthistorischen Disziplin gewidmeten Abschnitt im Unterkapitel "Weitere Forschungsansätze" (S. 24 ff.) anspricht. 4

Sachquellen (Kap. 3.3)

Da organische Materialien rasch vergehen und ab dem 8. Jahrhundert immer weniger Beigaben in die Gräber gelegt wurden, sind Textilfunde aus dem abgesteckten Untersuchungszeitraum vergleichsweise selten. Besonders rar sind in der Tat Funde von Textilien aus dem damaligen Alltagsleben, die im Gegensatz zu den bewusst gewählten Grabtextilien Auskunft über die Kleidungsgewohnheiten von Dorf- und Stadtbewohnern der Zeit liefern. Glücklicherweise gab und gibt es zuweilen Bodenverhältnisse, die Textilien konservieren. Hier sind zwei nördliche Fundorte besonders wichtig: die Wikingerstadt Haithabu (im heutigen Schleswig-Holstein) und Viborg (Jütland, Dänemark). Fundstücke von dort und die zugehörige Literatur werden von Müller in ihrer Untersuchung kontinuierlich behandelt, was auch für den kostümgeschichtlichen Laien von Interesse ist, weil dadurch mittelalterliche Kleidungsstücke bis ins Detail vorstellbar werden.

Methode

Etwas problematisch gerät die Darstellung der gewählten Untersuchungsmethode. Es gibt zwar das Kapitel "Untersuchungsschritte" (Kap. 4), das jedoch eher verwirrt denn erhellt. Zuerst will die Autorin Bildquellen des 10. und 11. Jahrhunderts durch Vergleiche mit Realien der Zeit auf ihre Realitätstreue hin überprüfen ("Voruntersuchungen", S. 55 ff.). Das 9. Jahrhundert hält sie in dieser Hinsicht aufgrund der Detailtreue des Stuttgarter Psalters für ausreichend abgesichert. Für die beiden Folgejahrhunderte vertraut sie daher auf eine weitere "Monopolisierung" und führt die Überprüfung nur für die Bronzekunstwerke im Hildesheimer Dom durch (Darstellungen von Schmuck, Schiffszubehör, Frisuren und Pflanzen).

Bei der Darlegung ihrer "Vorgehensweise" (S. 60 ff.) hätte Müller herausarbeiten müssen, wie wichtig die Zusammensicht von Sach-, Bild- und Schriftquellen ist, die sie – das muss man betonen – in ihrer Untersuchung de facto nicht vernachlässigt. 5 Nachdem sie ihre Zielsetzungen und Schwerpunkte (Kleidungsdarstellung und -bezeichnung, Wandel der Tunikaform, Produktionstechniken und Auswertung archäologischen Materials) aufgelistet hat, unterstreicht sie jedoch, dass sie den Bildquellen besondere Aufmerksamkeit widmen will und fügt Bemerkungen zur Detailfreudigkeit von Reichenauer und Fuldaer Handschriftenilluminationen an, die eigentlich in das Kapitel "Bildquellen" gehören.

Diesem Kapitel ist auch ein interessanter Aspekt der mediävistischen gender-Forschung zuzuordnen, mit dem die Autorin indessen das Kapitel über ihre methodische Vorgehensweise abschließt (S. 62 f.): Illuminatorinnen, die sich in der Tat nachweisen lassen, hatten vermutlich einen intensiveren Bezug zu Stoffen und Kleidern als ihre männlichen Kollegen, da sie mit der Herstellung von Textilien aller Art vertraut waren. Daher lässt sich vermuten, dass sie Kleidungsstücke sorgfältiger dargestellten als ihre männlichen Kollegen.

Kleidungsstücke
und Tragegewohnheiten

Das 5. Kapitel "Die Bekleidung, Kleidungsstücke und Tragegewohnheiten"
(S. 65 ff.) ist das erste Herzstück des Buches, in dem Müller von der Leibwäsche bis zum Übergewand, von der Kopfbedeckung bis zum Schuhwerk eine Übersicht über die einzelnen Bestandteile der damaligen Laien- und Klerikerbekleidung liefert, die sie jeweils mit den teilweise multiplen (mittel-)lateinischen und ggf. auch althochdeutschen Bezeichnungen einführt und benennt. Um gegen die ihrem Forschungsgebiet allgegenwärtige Terminologieproblematik anzusteuern, fügt Müller im Anhang ein einschlägiges lateinisch-deutsches Glossar an (S. 283 ff.). Auch wenn die volkssprachlichen Benennungen "durch die Ungunst der Überlieferung schwerer faßbar" sind (S. 42), hätte es sich doch angeboten, dieses Glossar zu einer dreispaltigen Übersicht mit den jeweiligen mittellateinischen, althochdeutschen und neuhochdeutschen Begriffen zu erweitern.

Männer- und Frauenbekleidung

Es gelingt Müller, lebendige Einblicke in die Kostümgeschichte zu geben, indem sie beispielsweise Bezüge zur Mode unserer Zeit herstellt (leggingartige Hosenformen gab es bereits im Mittelalter, S. 70), die Multifunktionalität von Kleidungsstücken beschreibt (so konnte das sagum als Umhang und Mantel, bei Feldzügen aber auch als große Zudecke benutzt werden, S. 86) und ihre Ausführungen mit einprägsamen Zitaten würzt. 6 Zur Erhellung der Materie trägt auch und vor allem die äußerst umfangreiche Bebilderung des Buches bei, auf deren Basis Müller sowohl den großen Bogen ihrer kostümhistorischen Ausführungen illustrieren als auch bis zu eben jenen Details vordringen kann, an denen Volkskundler, Kunsthistoriker und Kodikologen besonders interessiert sind. So erläutert sie beispielsweise, dass es sich bei den gefäßartig anmutenden Objekten, die in einem Evangelistar neben dem Bett eines schlummernden Josef zu sehen sind, um dessen säuberlich aufgerollte und hochkant gestellte Beinwickel handelt. 7 Darüber hinaus geht sie immer auch auf die Farbigkeit der Gewänder ein (z.B. S. 85), auf Stoffmuster und deren Entstehung (z.B. S. 73) und auf Accessoires. In diesem Kontext arbeitet sie auch die Zusammenhänge von Kleidung und Schmuck heraus. 8 All diese Mosaiksteine tragen dazu bei, das Vorurteil zu beseitigen, daß modischer Geschmack damals ein Fremdwort gewesen sei. Vielmehr hätten die Menschen ein "sicheres Farbempfinden und ausgefeiltes Materialverständnis" besessen (S. 94).

Neben den Kleidungsstücken von Männern und Frauen 9 analysiert Müller Säuglings- und Kinderbekleidung sowie Kleidung für besondere Anlässe (Hochzeit, Schwangerschaft, Taufe, Trauerfall) und schneidet dabei auch das Thema >Gebrauchstextilien< an. Etwas abschweifend, aber lässlich – denn oft decken sich die Bezeichnungen für Oberbekleidung und Bettzeug – ist der in das Folgekapitel über die "Kleidung der Mönche" integrierte "Exkurs 1" über Bettstätten.

Bekleidung von Mönchen und Klerikern

In den Untersuchungszeitraum fällt die Klerikalisierung des Mönchtums, so dass die monastische Kleidung nicht zwingend der klerikalen Kleidung zuzuordnen ist
(Kap. 5.5 und 5.6). Außerdem wurde 816 auf dem Aachener Konzil die äußerliche Unterscheidung von Mönchen und Klerikern, insbesondere Kanonikern, festgeschrieben. Ausschließlich den Mönchen, für die auf dieser Synode eine erstaunlich umfangreiche Bekleidungsausstattung aufgestellt wurde (S. 110), ist ab diesem Zeitpunkt die (Skapulier-)Kukulle vorbehalten, die über der Tunika getragen wird, wobei Ober- und Untergewand bis 1050 stets farblich bzw. hell-dunkel gegeneinander abgesetzt sind (S. 120). Das Kapitel über die Kleidung der Kleriker und Kanoniker ist nicht den kostbaren liturgischen Paramenten, sondern der klerikalen Alltagskleidung gewidmet, die Müller bis hin zu Gürtel und Schuhwerk vorstellt (S. 137 ff.).

Herrscherornat

Im Werbetext des Verlags Walter de Gruyter wird angekündigt, dass Müllers Buch neben Laienkleidung und dem Habit der Mönche und Kanoniker auch das Ornat der Herrscher behandle. 10 Diese Thematik wird allerdings nicht in einem eigenen Kapitel bearbeitet, sondern in zwei Exkursen, die sich mit der >clamis< (Obergewand bzw. Umhang, S. 151ff.) und der Tunika des Herrschers (S. 167ff.) beschäftigen. Zudem wird in den Abschnitten über Männer- und Frauenkleidung immer auch die >Alltagskleidung< der Herrschenden angesprochen. Müller begründet die akzentuierte Abhandlung der >clamis< – allerdings erst in der Einleitung des Exkurses über die Herrschertunika (S. 167) – damit, dass bei Aufzählungen königlicher Herrschaftsinsignien nur dieses Kleidungsstück eine Rolle gespielt habe.

Kostümgeschichtliche Entwicklungen

Eine von Müllers Zielsetzungen ist es, den Wandel der Tunikaformen im Untersuchungszeitraum herauszuarbeiten (S. 60). Diesem Thema widmet sie ein eigenes Kapitel (Kap. 6), in dem sie die Veränderungen der Männer-, Frauen- und Herrschertunika nachzeichnet. Dabei kommt sie zu dem vor allem auf Bildquellen gestützten Ergebnis, daß sich im 9. und 11. Jahrhundert bei der Darstellung von Tuniken etwa alle 20 Jahre Detailveränderungen feststellen lassen; über das 10. Jahrhundert sind aus Mangel an Bilddokumenten keine Aussagen möglich (S. 275). In diesen Zusammenhang gehört auch die >Viborg-Tunika<, ein herausragender textiler Bodenfund des 11. Jahrhunderts. Müller behandelt die Rekonstruktion dieser Tunika und den Formenvergleich mit zeitgenössischen Bildquellen erst im technisch ausgerichteten 7. Kapitel (S. 272 f., Taf. 19, Abb. 73 f.).

Eine weitere ausführliche Entwicklungsbeschreibung liefert die Autorin zur (Skapulier-)Kukulle (S. 118 ff.).

Materialien und Techniken

Das zweite Herzstück des Buches ist der praxisnah angelegte Abschnitt über Rohstoffe, Farben, Herstellungs- und Verarbeitungstechniken (Kap. 7), der sicher auch alle neuzeitlichen Anhänger des Färbens mit Naturfarben, des Handspinnens oder von Revival-Materialien wie Hanf interessieren wird.

Das Unterkapitel 7.1 "Vom >opus textile< im Spiegel von vier geistlichen Grundherrschaften" gehört nur bedingt in diesen Kontext. Es befasst sich mit denjenigen Informationen über Kleidung, Stoffe, deren Herstellung und Hersteller, die man aus klösterlichen Abgabe-, Einkünfte- und Güterverzeichnissen der Zeit gewinnen kann. Dieser Abschnitt hätte besser als gesondertes Kapitel gestaltet und das 7. Kapitel, das den unpräzisen Titel "Die Kleidung aus historischer und archäologischer Sicht" trägt, als rein kleidungstechnische Untersuchung angelegt werden sollen.

Müller arbeitet immer auch die geschichtliche Verwurzelung der einzelnen Techniken heraus, indem sie Bezüge zu Vor- und Frühgeschichte, dem antiken Griechenland und dem Römerreich herstellt. 11 Außerdem hat sie zu Spezialthemen Fachleute konsultiert. 12

Rohstoffe

Im Kapitel "Rohstoffe" (Kap. 7.2) stellt die Autorin Materialien von Flachs bis hin zu der Asbestart Amiant vor, die u.a. bei Totenkleidern verwendet worden sein könnte.

Farben

Bei den "Farben und Färbemitteln" (Kap. 7.3) präsentiert sie die erstaunlich umfang- und nuancenreiche Palette der frühmittelalterlichen Kleiderfarben bis hin zu Goldfäden und deren Herstellung. Eine eingehendere Analyse hätten die Farbbezeichnungen und insbesondere die Farbsymbolik (S. 227; ohne Stichwort im Sachregister) verdient, die angesichts ihrer wichtigen Rolle in der mittelalterlichen Malerei oder Goldschmiedekunst sicherlich auch eine wichtige Rolle bei der Kleidung gespielt hat.

Herstellungs- und Verarbeitungstechniken

Im Kapitel "Vom Spinnen und Weben" (Kap. 7.4) werden Arbeitsgeräte, Techniken und auch die Werkstätten (Webereien in eingetieften Grubenhäuser, S. 235 ff.) vorgestellt. Bei den ausführlichen Erläuterungen der Spinntechnik(en) (S. 232 ff.) mit Rocken und Spinnschale – das Spinnrad war im Frühmittelalter in Europa noch nicht bekannt – wünscht man sich Illustrationen.

Beim Kapitel "Zuschneidekunst, Nähtechnik und Rekonstruktionsversuche" (Kap. 7.5) ist die ungeschickte Untergliederung bedauerlich, die sich in ungeordneter Abfolge auf einzelne Gewandtypen und Kleidungsstücke (hier eingeschlossen auch die Rekonstruktion der >Viborg-Tunika<), Accessoires sowie technische Details bezieht. Die Information, dass Verzierungen der Kleidung Jesu auf bildlichen Darstellungen ein verlässlicher Indikator damaliger "Modetrends" sind (S. 262), ist für Datierungsfragen so relevant, dass sie ausführlicher hätte behandelt werden sollen.

Fazit

Wer die Vorstellung hegte, die Kleidung in karolingisch-ottonischer Zeit sei eintönig, schlecht gearbeitet und ohne Raffinesse gewesen, wird spätestens bei der Schilderung exotisch-schillernder Stoffe aus Pfauenseide eines Besseren belehrt! Es gelingt Mechthild Müller zu verdeutlichen, dass die textilen Künste dieser Epoche den höchsten Qualitätsansprüchen genügen konnten (S. 258).

Wie von der Herausgeberin Rosemarie Müller empfohlen, ist dieser 33. Ergänzungsband zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde nicht nur für Textilspezialisten und Historiker, sondern zumindest partiell auch für wissenschaftlich interessierte Laien geeignet (S. v / vi). Denn auch wer sich "nur" für Mode interessiert, wird von der Vielzahl von Informationen, die die Autorin in "jahrzehntelangen, enthusiastischen Bemühungen" (S. v) zusammengetragen hat, beeindruckt sein. Zweifellos profitiert der Leser davon, dass sich hier eine handwerklich-praktisch verwurzelte Autorin dem Quellenstudium gewidmet hat, um Licht in die bis dato noch unzureichend bearbeitete Geschichte der Laien- und Klerikerkleidung des Frühmittelalters (und des beginnenden Hochmittelalters) zu bringen. Der geographische Untersuchungsraum erstreckt sich dabei von Italien bis Skandinavien mit gelegentlichen Vergleichen zwischen kontinentaler und englischer Mode.

Die Ergebnisse ihrer interdisziplinären Studie, die archäologische, kunsthistorische, kodikologische, germanistische, textil- und kostümkundliche Aspekte in sich vereint, werden durch einen hervorragenden Abbildungsteil am Ende des Bandes illustriert, der 20 Tafeln mit 80 Einzelabbildungen umfasst, die Hälfte davon in Farbe. 13

Diese reiche Bebilderung tröstet etwas darüber hinweg, dass sich der Zugang zur Materie über das Wort recht spröde gestaltet. Die Autorin neigt zu einer unzusammenhängenden und unsicher gegliederten Präsentation des Stoffes, die durch ihre parataktisch-enumerative Schreibweise und Schwächen im sprachlichen Ausdruck noch verstärkt wird. Störend ist auch, dass insbesondere lateinische (Buch-)Titel nicht kursiviert und Fußnoten satzintern platziert wurden.


Dr. Susanne Rischpler
Johanniterplatz 2
D - 97070 Würzburg

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Ins Netz gestellt am 01.12.2003
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Anmerkungen

1 Die mittellateinischen Quellen wurden von Dr. Katharina Colberg (Hannover) übersetzt. Eine kunsthistorische Beratung wäre hierbei von Nutzen gewesen. So wurde bei der Übersetzung der Beschreibung eines Kleidungsstücks, das Königin Adelheid, die Mutter Roberts II., Ende des 10. Jahrhunderts für eine Heiligenfigur anfertigte, "inter scapulas majestatem veri pontificis continentem" (Helgald de Fleury: Epitoma vitae regis Roberti Pii. Paris 1965, c. 14, S. 82) mit "zwischen den Schultern die Majestät des wahren Bischofs enthaltend" (S. 257) wiedergegeben. "Majestas" bezeichnet hier mit großer Wahrscheinlichkeit die >Maiestas-Domini<-Darstellung Christi, des wahren Bischofs, d.h. Christus wird frontal thronend als Herr der Christenheit gezeigt.   zurück

2 Capitula cum primis constituta. In: Monumenta Germaniae Historica [MGH] Capitularia 1. Hannover 1883. Nr. 52.5, S. 139 f.; Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen. In: MGH Deutsche Chroniken 1,1. Hannover 1892 (Neudruck: München 1984), S. 349, V. 11791–11814. Der von Müller monierte Irrtum findet sich beispielsweise auch in einem der bekanntesten kostümgeschichtlichen Nachschlagewerke: Ingrid Loschek bezeichnet in Reclams Mode- & Kostümlexikon (Stuttgart 3. Aufl. 1994, S. 28) den Erlass Karls des Großen von 808 als die "erste deutsche Kleiderordnung in Form eines >Aufwandgesetzes<".   zurück

3 Müllers Klage, dass längst nicht alle Handschriften als Faksimile ediert worden sind (S. 49), zeugt von mangelnder Vertrautheit mit der Fülle mittelalterlicher handschriftlicher Überlieferung und den Kosten ihrer Faksimilierung bzw. Digitalisierung. Eine vollständige Reproduktion auch nur der kunsthistorisch interessanten Kodizes wird auf absehbare Zeit weder finanzier- noch durchführbar sein; die Arbeit vor Ort in den jeweiligen Bibliotheken und Sammlungen bleibt also weiterhin unerlässlich. Dennoch ist darauf hinzuweisen, dass mittlerweile viele Manuskripte – wenn nicht zur Gänze, so doch partiell – als digitale Faksimiles auf CD-ROM bzw. im Internet zugänglich sind;
z.B. eine Reihe von Kodizes der Bibliotheca Palatina
(http://www.ub.uni-heidelberg.de/helios/fachinfo/www/kunst/digi2/welcome.html)
sowie die Codices Electronici Ecclesiae Coloniensis
(CEEC; http://www.ceec.uni-koeln.de/);
Beispiel für die Abbildung einer einzelnen Handschriftenseite im Internet: Folium 40v des Petershausener Sakramentars (Heidelberg, Universitätsbibliothek, Sal. IX b), das Müller in der Liste ihrer Bildquellen anführt (S. 319), ist auf der Homepage des Erfatal-Museum Hardheim zu finden
(http://www.erfatal-museum.de/2000-hp.htm).   zurück

4 Zitat nach Otto Pächt, Buchmalerei des Mittelalters, München 4.Aufl. 2000,
S. 24 f., Anm. 13: Pächt bezieht in diesen Modernisierungsaspekt insbesondere die Aktualisierung von Kostümen ein, d.h. die Illuminatoren übertrugen die Darstellung von Kleidung in ihre eigene Zeit, wobei es immer wieder zu Missverständnissen und Korrumpierungen kam.   zurück

5 "Die materielle Kultur des Mittelalters kann nur in ihren auftretenden Kontextvarianten und unter Berücksichtigung der Verschiedenheit und Komplexität derselben analysiert werden. Die einzelnen >Realien< an sich und ohne Berücksichtigung von Zusammenhängen entbehren mehr oder weniger jeder Aussage. Dies gilt sowohl für die erhaltenen Originalobjekte als auch für die Darstellungen von Objekten in Bildquellen oder deren Auftreten in der schriftlichen Überlieferung." Gerhard Jaritz: Mittelalterliche Realien im Kontext (Abstract). In: Stuart Jenks, Felicitas Schmieder (Hg.): Quellen und Quellenedition im neuen Medienzeitalter (05.07.2000). URL (05.11.2003): http://www.erlangerhistorikerseite.de/reimers/abstracts.html.   zurück

6 In den Gesta Karoli schildert Notker Balbulus, dass die Franken, als sie die gallischen Krieger in "mit Streifen besetzten Kriegsmäntelchen leuchten" sahen, diese Mode nur zu gerne übernommen haben (Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte 3. Darmstadt 1960, S. 374 f.; Müller, S. 86, Anm. 117)   zurück

7 Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Bibl. 95, f. 8v – Müller, S. 73, Taf. 9, Abb. 33.   zurück

8 Verschlüsse (S. 263 f.) und insbesondere Fibeln: S. 88 f., S. 101. Hier verweist die Autorin auf eine Mode aus der Zeit um 1030: Frauen trugen im Brustbereich zwei Scheibenfibeln übereinander, wobei die untere Fibel kleiner ist als die obere; vgl. hierzu Mechthild Schulze-Dörrlamm, Der Mainzer Schatz der Kaiserin Agnes, Sigmaringen 1991: Es handelt sich um die >Zweifibeltracht<, die vermutlich von stillenden Frauen getragen wurde, die den Halsausschnitt weit öffnen mussten. Daher ist diese Fibelanordnung auch auf Marienbildnissen zu finden.   zurück

9 Was heute als >Crossdressing< gang und gäbe ist, wurde damals auf der Basis der Bibel verdammt (Aachener Konzil von 816; relevante Bibelstelle: Deuteronomium 22,5; cf. Müller, S. 93, Anm. 155.).   zurück

10 URL: http://www.degruyter.de/rs/bookSingle.cfm?id=IS-3110172194-1&fg=GE&l=D.   zurück

11 Z.B. Nahtform und Stichlänge in der Hallstattzeit (S. 268); Faltenstoff der Griechen, der an Plisseestoff erinnert (S. 266, Anm. 363); Überreste einer römischen Tuchwalkerei in Kaiseraugst (S. 254).   zurück

12 So hat sie beispielsweise einen kretischen Weber über Färberbeizen befragt (S. 224) oder eine Stoffschuhnäherin aus der Rhön zu textilen Sohlen (S. 268,
Anm. 377).   zurück

13 Sehr übersichtlich sind die marginalen Abbildungsverweise im Haupttext. Bei den Bildunterschriften innerhalb des Abbildungsblocks wären allerdings genauere Detailbezeichnungen wünschenswert gewesen.   zurück