- Ulrike Auhagen und Eckart Schäfer (Hgg.): Lotichius und
die römische Elegie. Tübingen: Günter Narr Verlag 2001
(NeoLatina 2) Geb. 323 S.
EUR (D) 54,-.
ISBN 3-8233-5792-1.
Noch einem Martin Opitz galt er als
"Fürst aller Deutschen Poeten": 1
Der Schlüchterner Peter Lotz, bekannt unter dem latinisierten
Dichternamen Petrus Lotichius Secundus (1528–1560), ist im Bewußtsein
der Zeitgenossen wie der literarischen Nachwelt der bedeutendste Lyriker des
16. Jahrhunderts, dem noch an der Schwelle zur Neuzeit
eine opulent-gelehrte Edition seiner Opera zuteil wird. 2 Wie kein anderer
verheißt somit eine Re-Lektüre seiner Elegien und carmina
neue Aufschlüsse über jene weithin unerschlossenen Felder
deutscher Literatur vor Opitz, die in der Folge einer "gestörten
Rezeption" (Hess) 3 durch die
romantisch-nationalphilologische Literaturgeschichtsschreibung noch heute
allenfalls schemenhaft erkennbar sind. Die Freiburger Latinistengruppe um
Eckart Schäfer und Eckard Lefèvre legt mit diesem nunmehr zweiten Band
ihrer Reihe NeoLatina eine exemplarische, alle Aspekte neulateinischer
Dichtung im konfessionellen Zeitalter umspannende Studie vor, die als
bedeutendster neuerer Beitrag zur Lotichius-Forschung der jüngeren
Vergangenheit bezeichnet werden kann.
Das Werk des früh verstorbenen, durch halb Europa
gereisten Schlüchterners ist in jeder Hinsicht der Präzedenzfall
für eine literarhistorisch angemessene Bewertung der neulateinischen
Lyrik insgesamt. Einerseits repräsentiert
Lotichius' Werk bereits für die Zeitgenossen das Ideal einer
verecunda antiquorum imitatio 4 und
gewährt so Aufschlüsse über Prinzipien und Funktionen des
Nachahmungsprinzips in der Frühen Neuzeit, die wiederum auf aktuelle
Anforderungen und bildungssoziologische Prozesse bezogen werden können.
Anders als die meisten neulateinischen Dichter des 16.
Jahrhunderts zählt Lotichius aber auch zu den am besten erforschten
und in modernen Ausgaben greifbaren Lyrikern der Epoche: So liegt nicht nur
die epochale Burmanniana von 1754 mit ihren reichen Similien, gelehrten
Kommentaren und Reaktionen von Zeitgenossen inzwischen in einem Nachdruck
vor, auch die von Wilhelm Kühlmann und seiner Heidelberger Gruppe
herausgegebene Sammlung Humanistische Lyrik macht das erste
Elegienbuch des Lotichius vollständig mit Übersetzung und Kommentar
zugänglich. 5
Der Freiburger Band nutzt die Chance, auf dieser neuen Text-
und Kommentarbasis über Lotichius' Werk hinaus allgemein über
Funktionen und Tendenzen neulateinischer Lyrik im konfessionell gespaltenen
Deutschland zu reflektieren. Sein Ansatz ist schon ausweislich des Titels der
von Intertextualität und Antiken-Rezeption – eine Kennzeichnung, die den
durchaus weiteren und grundsätzlichen Horizont des Unternehmens freilich
eher verdeckt als erhellt.
Bruchstücke einer großen Konfession oder: >Von
der Realität zur Fiktion<
Die beiden gewichtigen Hauptsektionen des Bandes, die sich
mit den Elegiarum libri IV und den Carminum libri II (der
postumen Ausgabe Leipzig 1563) beschäftigen, umkreisen immer wieder
programmatisch einen für jeden Umgang mit vormoderner Lyrik
neuralgischen Punkt: Die Frage nach dem Verhältnis von
autobiographischer und poetischer Referenz. Sieht man auf die spärlichen
Aussagen antiker wie rinascimentaler Gattungspoetik der Elegie, so bleibt das
Sprechen in prima persona – wie allgemein in der rinascimentalen Lyrik
– eher eine technische Beiläufigkeit, die allenfalls dort, wo lyrische
bzw. elegische Dichtung in der Tradition des
spätantiken Grammatikers Diomedes 6 nach
dem sogenannten >Redekriterium< klassifiziert wird,
kategoriell in Erscheinung tritt. 7 So wird die Elegie in den viel rezipierten
gattungspoetischen Partien seiner Ars grammatica zusammen mit Epos,
Jambus, Satire und anderen dem >genus mixtum< zugeschlagen, "in
dem der Dichter selbst spricht und Figuren sprechend eingeführt
werden". 8
Thematisch ist die neulateinische Elegie freilich nicht auf
Selbstaussprache und -ausdruck festgelegt. Von Anfang an erweist sie sich als
offene Gattung, die neben ihrem erotischen Hauptgegenstand eine Fülle
anderer Sujets und Funktionen übernehmen kann. Unter dem Generalnenner
der conquestio versammeln etwa Julius Caesar Scaligers De poetices
libri septem einen Katalog solcher Themen, die einen derartigen
die ovidischen Subformen integrierenden Begriff des Genus Elegie
erkennen lassen. Hier erscheinen (neben vielen
anderen) die Stichworte propriae vitae explicatio (nach Ovid, Tristien
4,10), desperatio cum imprecationibus oder mortis exoptatio,
die beiden letzteren stehende Grundtypen der Liebeselegie. 9
Integral dieser verschiedenen Elegientypen ist ihre
Bestimmung als lyrische >Klage< – über die eigene miseria
amoris (in der subjektiven Liebeselegie), den Verlust einer nahestehenden
Person im Epikedion oder über eine Vielzahl konkreter Anlässe in
der eigenen Vita. Es ist dabei vor allem die ovidische Exildichtung
(Tristia), deren imitatio im 16. Jahrhundert zum Katalysator
einer lyrischen Ich-Kultur wird, die sich sichtbar in der wiederholten
Aufnahme der berühmten Lebensbilanz in Tristien 4, 10 widerspiegelt. Nicht erst in den Regrets eines Joachim du Bellay
wird Ovids Exildichtung zum Prototyp autobiographischer Selbstreflexion und
-beschreibung im Medium literarischer imitatio. 10
An kaum einem anderen Zyklus
neulateinischer Dichtung läßt sich die Bedeutung der ovidischen
Exildichtungen wie überhaupt der Prozeß intertextueller
Subjektkonstitution in vormoderner Lyrik besser fassen als in Lotichius'
berühmtem ersten Elegienbuch. 11 Es ist
das Verdienst von Bernhard Coppels Beitrag, nicht nur die Polarität von
"Realität und Fiktion", sondern auch die grundsätzliche
Bedeutung der Tristia und Epistulae ex Ponto für
Lotichius' erstes Elegienbuch systematisch und programmatisch skizziert zu
haben: "Die Tristien und Briefe aus Pontus haben geradezu das
Imitationsmodell für das erste Elegienbuch abgegeben" (S. 22).
Dies gilt nicht nur auf der Ebene der zyklischen Komposition,
die im ersten Elegienbuch von der Klage über die Verlassenheit in Krieg
und Fremde bis zur glücklichen Heimkehr führt. "Nordmotiv,
Wintermotiv, Krankheitsmotiv" (S. 22), die Rolle des lyrischen Ichs als
"Verbannter und Soldat" (S. 23), vor allem aber das konstitutive
Exilmotiv spiegeln die wie immer biographischen Fakten dieses poetischen
>Kriegstagebuches< aus dem Schmalkaldischen Krieg in der Figur des
Ovidius exul. Freilich kann weder bei Ovid, noch weniger jedoch bei
Lotichius der Terminus exilium buchstäblich gemeint sein. Von
hier aus stellt Coppel konsequent die Frage nach der "Fiktionalität
eines exilium, das im eigentlichen Sinne keine Verbannung ist",
sondern wie Kriegsdienst, Barbarentopik und Odysseus-Rolle zu den seit Ovid
"gattungsspezifischen Phantasien der Exiltopik" gerechnet werden
muß (S. 23). So betont Coppel zu Recht die Faktizität von
Lotichius' Kriegsdienst in der Armee des Schmalkaldischen Bundes (1546 /
47), zeigt kenntnisreich und subtil die vielfältigen Splitter und
Sedimente realer Lebens- und Kriegswirklichkeit, aber auch die allein
literarisch induzierte Barbarentopik der ovidischen Exildichtung.
Im "Psychotop" (S. 26) von Lotichius' hessischer
Heimat spiegelt sich deren >ultimus orbis<, um wenigstens "am Ende
des Buches" einen "direkten Blick auf die Konturen der
geographischen und historischen Wirklichkeit" freizugeben (S. 27). Neben
den konkreten zeithistorischen und politischen Aspekten, die sich in
ovidischem "Exilkolorit" färben – etwa die auf Ovid
verweisende "latente innere Distanz zum Kaiser" (S. 29) – hebt
Coppel zu Recht den poetologischen Aspekt der Ovid-imitatio als
bedeutsamsten Faktor des ersten, Schmalkaldischen Buches der Elegien hervor:
Wenn hier eigentliche Liebeselegien völlig fehlen, so darf man freilich
darin weniger eine "poetologische Entscheidung gegen den
neapolitanischen Dichter Pontano" (S. 31) als
vielmehr einen dezidierten Anschluß an jene ovidische Exildichtung
sehen, die sich gattungsgenetisch einer Verschiebung und Umlegung
liebeselegischer Konstellationen auf die Form der
subjektiv-autobiographischen Klage-Elegie der tristia und Epistulae
ex Ponto verdankt. 12
Demgegenüber scheint die Intensivierung des
Autobiographischen zum lyrischen "Ego-Dokument" entscheidend vom
Vorbild des Conrad Celtis bestimmt, dessen vier Bücher Amores den
Prototyp einer biographischen >Selbsterlebens-beschreibung< in der
Geschichte der Elegie in der Frühen Neuzeit geliefert hat: Zehn Jahre
dauert Lotichius' Odyssee, ebenso lange wie die des Celtis (S. 32; nach
einer Beobachtung Walter Ludwigs). Das Resümee faßt noch einmal
das Exil als "Existenzmetapher" und Ermöglichungsrahmen einer
"Artikulierung des Persönlichen" (S. 33) ins Auge und betont
mit vollem Recht, wie das lyrische Subjekt nur im "klassischen"
Gewand als individuelles sagbar werden kann.
Imitatio und Intertextualität: Wege und Abwege?
Lotichius' bedeutsame Celtis-Rezeption belegt
andererseits, wie sich neulateinische Dichtung nicht nur in einen
intertextuellen Dialog bzw. Agon mit den klassischen Mustern begibt, sondern
immer auch auf zeitgenössische Bezugsautoren und -themen reagiert. Einen
Beleg hierfür bietet Hermann Wiegands Suche nach Spuren des ungarischen
(>pannonischen<) Dichters Janus Pannonius (1434–1472) in den Dichtungen des
Lotichius. Diese bestehen "in Motiv und Struktur" (S. 39), etwa dem
gemeinsamen Thema der militia, vor allem aber in der Beschreibung der
eigenen Krankheit, die sowohl auf Tibull als auch auf den alternden Ovid des
Exils verweist, bei den Neueren jedoch in ungleich drastischerer, die
Symptomatik hervorkehrender Weise behandelt ist – offenbar ein Ergebnis
ärztlicher Autodiagnostik, war Lotichius doch selbst Arzt (S. 41). Wie Wilhelm Kühlmann in einer wegweisenden Studie
gezeigt hat, 13 stellt das Thema der
Selbstvergewisserung in schwerer Krankheit ein topisches Redemuster dar, das
über Gryphius hinaus ein existentielles Anliegen im Medium klassischer
Dichtung verfügbar werden läßt.
Entsprechend intrikat gestalten sich die intertextuellen
Beziehungen zwischen den vielfältigen älteren und neueren
Exponenten dieses in der Frühen Neuzeit weit proliferierenden Subgenus.
So scheint sich Lotichius mehr als einmal unmittelbar auf Ovid (bzw. den
Archegeten, Tibull 1,3, Ovid, Tristien 3,3), weniger jedoch auf Janus
Pannonius zu beziehen. Dabei konzediert auch Wiegand zu Recht die
"intensive Gefühlsaussprache" und Selbständigkeit des
Neulateiners (S. 46), die er exemplarisch an zwei weiteren Gedichten des
ersten Buches, der Elegie auf den Tod des Vaters (El. 1,4) sowie der
großen Luna-Elegie des Lotichius belegt. Letztere besitzt, worauf
Wiegand zuerst hinweist, eine höchst interessante Parallele in einer
Scheltrede des Pannonius an den Mond und ist so tatsächlich als
"Kontrastimitation" zu werten (S .49).
Mit philologischer Akribie verfolgt auch der Beitrag von
Gesine Manuwald das Thema von "Krankheit und Tod in der Fremde",
das Lotichius in El. 1,6 zum krisenhaften Umschlagpunkt seines elegischen
>Kriegstagebuchs< stilisiert hat. Sie verfolgt dazu zunächst die
antike Grundlegung des Texttypus in Tibull 1,3 und Ovid, Tristien 3,3
und kann dabei zeigen, wie Lotichius Elemente beider Grundkonstellationen
verbindet. In minutiösen, kommentierenden Detailanalysen und Vergleichen
stellt Manuwald weiterhin Anknüpfungspunkte und Differenzen heraus:
Namentlich die sich intensivierende Krankheitssymptomatik stellt eine
spezifische Neuerung der neulateinischen gegenüber den antiken Spezimina
des Subgenus dar: Freilich wünschte man sich hier wie an anderer Stelle
auch einen Hinweis auf lebensweltliche und mentalitätsgeschichtliche
Faktoren hinter dem intertextuellen Befund.
Biographisch begründet ist immerhin das Fehlen einer
Geliebten bzw. Ehefrau, anderes harrt noch einer Anknüpfung an
zeitgenössische Praktiken jenseits allfälliger Topik. So wird ein
entscheidender Grund für die intensive Rezeption der Exildichtungen in
der Frühen Neuzeit offenbar von keinem der Beiträger genannt: Es
ist dies die dialogische Form des literarischen Briefes, die noch und gerade
in einer Situation räumlicher wie menschlicher Distanz und Isolation ein
Netz verbindender Freundschaften suggeriert und inszeniert. Sie ist die wohl
wesentliche ovidische Anschlußstelle für Bedürfnisse
humanistischer Sodalitäts- und Geselligkeitskultur, in deren
halb-öffentlichem Rahmen die Selbstthematisierung überhaupt erst
möglich wird. Die Epistelform, die Ovid (über die Zwischenstufe der
Heroidenbriefe) für seine Exilkorpora etabliert, stellte in Verbund und
Spannung mit deren Ich-Repräsentation die wesentliche Anregung und
Ermunterung zur imitatio der Tristia wie vor allem der
Epistulae ex Ponto dar. Manuwald selbst weist in ihrem Ausblick en
passant auf diese "Wertschätzung der Freundschaft in dieser
Zeit" hin (S. 80).
Einen theoretischen Ausblick auf Voraussetzungen der
imitatio in der kontemporanen "Dichtungstheorie" und
"Literaturkritik" (S. 85) schickt Gregor Vogt-Spira seiner Analyse
von El. 1,10 voraus. Zu Recht weist er dabei, unter Berufung auf Scaligers
De poetices libri septem, die in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu
Lotichius' Elegien entstehen, auf die zentrale Funktion des Konzepts
für die "Selbstbeschreibung und Selbstwahrnehmung" einer
ganzen Literatur hin (S. 86). Imitatio ist dabei – als >bloße
Nachahmung< – nicht nur der schon in der zeitgenössischen
Ciceronianismus-Debatte abgewertete Gegenpol >originaler<
Schöpfung: Sie ist zusammen mit dem dynamischen Moment der
Überbietung (aemulatio; superatio) ein Instrument der
Textkonstitution, das wiederum von der literarischen Kritik
überprüft und bewertet wird. In dieser Hinsicht galt Lotichius'
imitatio (etwa der Elegien des Tibull) nicht nur einem Joachim
Camerarius als vorbildlich und >glücklich< (S. 86).
Es ist das Verdienst Vogt-Spiras, in seiner knappen Skizze
der Grundzüge rinascimentaler Nachahmungskonzeption auch auf den
zeitgenössischen Status solcher Begriffsoppositionen wie
>Nachäffen< vs. >Selbstausdruck< hinzuweisen. Denn erst der
Ciceronianismus-Streit, der ausgehend von Erasmus< polemischem Dialog
Ciceronianus (1528) die Gegensätze zwischen italienischem und
nordalpinen Humanismus zutage fördert, bringt ein vertieftes
Bewußtsein für Kategorien des Selbstbeschreibens (se ipsum
exprimere) bzw. der Selbst-Formung (>Self-fashioning<), die ganz an die
Äußerung im literarisch-rhetorischen Text gebunden ist. Aufruhend
auf dem Axiom, "daß Vergangenheit die Zukunftsoption bildet"
(S. 87), gewinnt auch Lotichius erst in der Überschreibung des
autoritativen Textes eines Ovid oder Tibull eine Stimme, >sich selbst
auszudrücken<.
Vogt-Spira diskutiert in seiner Analyse von Lotichius 1,10
dann am Text Reichweite und Implikationen der imitatio-Poetik (S.
90–95). Er weist dabei auf die weithin >lexikalische<, auf den punktuellen
Anklang bezogene Dimension imitativer Verfahren in der zeitgenössischen
Kritik hin (S. 90, Anm. 14) und zeigt am Ende, "in welch hohem, nahezu
aufdringlichem Maße Lotichius in unserem Gedicht die Gattungsnorm der
Elegie zu erfüllen sucht." (S. 92) So bildet nicht eine antike
Einzelreferenz, sondern eine zeitgenössische >Systemreferenz< des
Elegischen den Bezugspunkt des Textes: Diese Poetik der Elegie bestimmt sich
dabei wesentlich durch die Dialektik von Klage und Wunscherfüllung (querimonia – voti sententia compos; nach Horaz, Ars poetica
v. 75 f.). Vogt-Spira zeigt in einer einfühlsamen Interpretation, wie
Lotichius eben diesen affektiven Spannungsbogen in seiner Elegie
nachvollzieht, diese somit tatsächlich mehr ist als ein
"literarisches Spiel" (S. 94).
Vogt-Spiras grundsätzliche Reflexionen über das
Nachahmungsparadigma werden flankiert von einer Reihe von
Einzeluntersuchungen, die sich der konkreten Durchführung der
imitatio in einzelnen Texten widmen. So untersucht Thomas Baier die
berühmte Magdeburg-Elegie (2,4), die Lotichius auf die Zerstörung
der Stadt im Zuge der Belagerung durch Moritz von Sachsen (1550 / 51)
verfaßte und weist auf eine Fülle antiker Reflexe in Formulierung
wie Motivik hin. Dazu zählen etwa die astrologischen Drapierungen sowie
die Bezüge der Traumvision zur antiken und zeitgenössischen
"Oneirokritik" (S. 101 mit Anm. 18). Baier erkennt in der
Magdeburg-Prosopopoiie eine antike Tradition "der Personifikation von
Städten, insbesondere der Stadt Rom" (S. 104), die namentlich auf
Lucans Bellum civile (1,185–192) verweist – eine für das deutsche
bellum intestinum naheliegende, bislang jedoch übersehene
Verbindung. Anknüpfend an ein Modell von Conte / Barchiesi sieht Baier
die Einzelreferenzen – "modelli esemplare" – des Textes in der
lateinischen Elegie (S. 109), während als "modello genere" –
d.h. als Systemreferenz – "Lucans Patria-Erscheinung und Vergils
zweites Aeneis-Buch" zu gelten hätten (S. 109).
Ovidischen Anspielungen geht Alison Keith in einem Beitrag
über die sog. Callirhoë-Gedichte (El. 2,9; 3,3) nach. In einer
minutiösen, beinahe mikrophilologischen Analyse zeigt sich, wie
programmatische Anspielungen auf Ovid solchen aus einer Vielzahl anderer
Dichter gegenüberstehen (S. 136). Wieder tritt hier in besonderer Weise
die ovidische Exildichtung hervor, die dem infelix Lotichius auch im
zweiten Buch der Elegien eine wichtige Bezugs- und Sprachfolie bereitstellt.
Noch deutlicher als im ersten Buch bezieht Lotichius hier sein Exil auf das
des römischen Vorgängers, nimmt er dessen mythologische
Selbstbespiegelung in den archetypischen Reisenden Odysseus und Aeneas auf
(S. 137; 141f.).
Das zweite Buch der Elegien wird freilich dezidiert als
Liebeszyklus angekündigt und so treten hier naturgemäß die
ovidischen Amores in den Vordergrund. Neben Ovid sieht Keith dabei in
El. 2,9 auch Anklänge an die provenzalische Form der pastourelle
(it. pastorella), freilich in entschieden >ovidischem Stil< (S.
139). Die Fülle der Topoi und Anspielungen, die wieder die Frage nach
dem semantisch-hermeneutischen Potential des Verfahrens aufrufen,
bestätigt Keiths Einschätzung, die Elegie biete eine
"sustained meditation on Roman amatory elegy in general and Ovidian
amatory elegy in particular" (S. 143). So vollzieht Lotichius' zweites
Elegienbuch dezidiert den "narrative progress of Ovid's three books of
Amores" nach (S. 143). Unter Bezug auf Baier und Conte /
Barchiesi stellt der ovidische Zyklus damit den "modello codice"
von Lotichius' Sammlung dar.
Auch El. 3,3 auf den Tod der puella wird von Keith auf
eine Fülle von "modelli codice" wie "modelli
esemplare" der römischen Liebeselegie bezogen, der Name
Callirhoë auf Ovids Metamorphosen und die Geschichte von
Alkmaeons zweiter Frau (Metamorphosen IX). So unabweisbar freilich die
"pervasive influence of Ovid on Lotichius' Latin verse" scheint,
so unbefriedigend bleibt doch die Fülle der Einzelreferenzen, die hier
auf der Grundlage des reichen Similienfundus der Editionen von Burman und
Fraiman erschöpfend und gelehrt registriert werden. Eine intensivere
Zuspitzung auf die Kategorien der Intertextualitätsforschung – Conte /
Barchiesi werden immerhin zitiert – könnte gegenüber atomisierten
Einzelreferenzen zu Ergebnissen führen, die auch einem nicht
latinistischen Fachpublikum Einblicke in Voraussetzungen
frühneuzeitlicher Intertextualität eröffnen würden.
Auf die begrenzte Aussagekraft eines solchen "heute
maschinell zu erarbeitende(n) Wissen(s)" (S. 59) verweist daher zu Recht
Udo W. Scholz in seiner behutsamen Analyse von Lotichius' dehortatio a
militia (S. 53–64) zwischen Erst- und Zweitfassung. Nicht in "jenem
Formelgut und Sprachmustern" antiker Dichtung, das als reine
"Formulierungshilfe" bemüht werde (S. 59), sei das eigentlich
Bezeichnende des poetischen Verfahrens zu suchen, sondern in dem "stets
mitzulesende(n) Verweis auf die klassischen Muster" (S. 62) insgesamt.
Jenseits des Intertextuellen, so wäre hier zu
ergänzen, stellt Lotichius' Elegie an den Studienfreund Melchior
Zobel jedoch auch ein Dokument jener Germanen-Ideologie dar, die sich zu
gleichen Teilen der humanistischen Rezeption der Germania (seit
Celtis), ovidischem Sprach- und Barbarendiskurs in den Exildichtungen und
aktueller Türkengefahr verdankt. Die lebensweltliche Aktualität
fordert gerade jene Passagen der ovidischen Dichtung, die den alternden
Dichter als miles im Kampf gegen die >sarmatischen< Hunnen und
Getenvölker zeigen. Wie solche Überblendungen aber auch dazu
führen können, den Sinn des aktuell Gemeinten im
Assozationsfluß klassischer Reminiszenzen zu verdunkeln oder zu
verschieben, belegt Scholz in seinem Beitrag an mehreren Stellen
exemplarisch.
Gelehrtengemeinschaft und Selbstdarstellung im Spiegel der
Kasualdichtung
Einen eigenen Subzyklus in Lotichius' Werk untersucht
Walther Ludwig: Es handelt sich dabei um die Epikedien auf Stibar, Micyllus
und Melanchthon (El. 3,7; 4,2, und 4,4; S. 153–184), die in Gliederung und
Übersetzung am Ende des Beitrags wiedergegeben sind. Ludwigs gelehrte
und kenntnisreiche Untersuchung weist zunächst auf die bevorzugten
antiken Modelle (namentlich Ovids Elegie auf den Tod Tibulls, Elegie 3,9) hin
und erinnert an die obligate Thementrias von "luctus, laus und
consolatio" (S. 155), wie sie seit Scaliger auch von den
kontemporanen Poetiken immer wieder beschrieben wird. Lotichius' 19
Trauergedichte – darunter eines auf einen verstorbenen Delphin (El. 2,7) –
folgen der Tradition dieser Inferiae oder Epitaphia bereits
metrisch-formal, in der Wahl des elegischen Distichons. Sie erstrecken sich
chronologisch auf den Zeitraum zwischen 1547 und 1560 (S. 157) und belegen
einmal mehr die gruppenkonstitutive Funktion literarischen Gedenkens für
die humanistische Sodalität.
Wie die ovidische Exilepistel mit ihren Beschwörungen
eines stützenden Freundschaftsnetzes in der Fremde, so gewinnen auch die
15 Trauergedichte auf Freunde ihre bildungssoziologische Relevanz aus den
Anforderungen und Bedürfnissen humanistischer Gemeinschaftsbildung und
>Zivilität<. Ohne auf diese sodalitäre Dimension der
Epikediengattung einzugehen, konzentriert sich Ludwig auf die "drei
artistisch bedeutendsten" (S. 157) Spezimina des Texttyps, wie immer man
die hier entfalteten literarkritischen Kategorien der Wertung selbst bewerten
möchte. Im Falle Daniel Stibars, der Lotichius "als Tutor seiner
Neffen zum Studium nach Paris geschickt und später trotz eigener
Vermögensverluste im Markgräflerkrieg sein Studium in Italien
finanziert" hatte (S. 157), dann aber selbst beim alten Glauben
geblieben war, zeigen sich exemplarisch die Irritationen des konfessionellen
Zeitalters, die tief in bestehende Freundschaftsnetze und Familienstrukturen
hineinwirken. Es ist daher bis Opitz und darüber hinaus eine Funktion
der Epistolographie wie der hier vorliegenden Kasualdichtung, im
souveränen Ausblenden konfessioneller Spaltung das Ideal der res
publica litteraria zu beschwören und zu bewahren.
Auch wenn solche Perspektiven gleichfalls ungenannt bleiben,
rekonstruiert und registriert Ludwig doch nahezu vollzählig die antiken
Bezüge des Textes, die Mythologisierung der realen Umstände, unter
denen Lotichius in Bologna vom Tod des Freundes erfährt, sowie die
Grundidee "des vom Morgen bis zum Abend unaufhörlich einsam am Ufer
Klagenden" (S. 158), eine "Spezifizierung des vergilischen solo
in litore" (S. 159).
Die beiden Epikedien auf den Lehrer Micyllus und Melanchthon
wählen dagegen die "Form des elegischen Briefes". Gerichtet an
die gemeinsamen Freunde nehmen sie den Verstorbenen symbolisch noch einmal in
ihre Mitte und vergegenwärtigen seinen Verlust für die
Gelehrtengemeinschaft. Gesprochen wird aber auch konkret über eine
mögliche Publikation der nachgelassenen Werke des Micyllus durch
Melanchthon, der freilich wie Lotichius bereits 1560 selbst verstirbt (S.
161). "In ständigem Bezug zu Ovids Elegie auf den toten Tibull
geschrieben" (S. 163), nimmt das Gedicht bewußt Formulierungen des
zehn Jahre zuvor von Micyllus auf den Tod seiner Gemahlin Gertrud
verfaßten Epikedions auf und imaginiert auf diese Weise einen
intertextuellen Dialog über das Grab hinaus (S. 162 f.).
Ähnliches gilt für die Briefelegie auf den Tod
Melanchthons, die Lotichius 1560 an den Wittenberger Rechtsprofessor Georg
Cracow / Cracovius richtet. Das eingerückte poetische Horoskop
Melanchthons soll hier nicht nur dessen Naturbegabung unter Beweis stellen,
es versteht sich einerseits als Hommage an den Astrologen Melanchthon,
demonstriert andererseits die eigenen astrologischen Interessen und
Kompetenzen des poeta doctus bei der Erstellung und poetischen
Beschreibung der eigenen Nativität in El. 2,8 (dazu auch der
interessante technische Beitrag Stefan Fallers, S. 115–134). In der Sache
stimmt Melanchthons Horoskop mit den zeitgenössischen Horoskopen
Melanchthons aus der Hand des Lucas Gauricus und Erasmus Reinhold
überein (S. 169).
Mit stupender Gelehrsamkeit entfaltet Ludwig die positiven
Implikationen der hier vorliegenden Venus-Saturn-Konjunktion – die noch in
Celtis' Eröffnungselegie der Amores (mit Ptolemaios) als
negativ bewertet wird –, ohne aber im Zusammenhang auf die Funktion dieses
neuen Elegientyps De natali suo einzugehen, der in der humanistischen
Dichtung, ausgehend von Celtis, so reiche Rezeption findet. In seinem
Resümee betont Ludwig noch einmal die literarische Qualität und
Originalität der drei Epikedien, die jeweils eine "eigene
gestalterische Idee" (S. 172) durchführten. Als Ausweis der
"poetischen Fortschritte" des Lotichius seit 1548 erörtert
Ludwig abschließend noch ein Epikedion auf Caspar Cruciger, das
freilich "eine stärkere persönliche Beteiligung"
vermissen lasse (S. 173). Wie immer skeptisch man solchen Wertungen insgesamt
gegenübersteht: Ludwigs gelehrte und detailreiche Untersuchung der drei
Epikedien läßt seine Forderung nach dem Blick auf den
"historische(n) Hintergrund" neben dem literarischen nur umso
dringlicher erscheinen (S. 173), ein Blick, der nicht vordergründig auf
ein "Urteil über ihre literarische Qualität" (S. 174)
abzielen sollte.
Wie nämlich privates Leid erst im Horizont der
Gelehrtengemeinschaft rezipierbar wird, zeigt Eckart Lefèvres Analyse von
carmen 1,10 (S. 213–223), eines Epikedions auf den frühen Tod des
noch nicht elfjährigen Bruders Christianus (1544). Wie in den
Trauerdichtungen auf die humanistischen Freunde Stibar, Melanchthon und
Micyllus wird das kontingente Leid erst als exemplarisches, d.h. in der
intertextuellen Spiegelung – hier bezogen auf Catulls carmen 101 auf
den in der Troas verstorbenen Bruder – sag- und mitteilbar (S. 215). So sind
die beiden Versionen des Epikedions tatsächlich "ungeachtet der
Empfindung sehr gelehrt" (S. 217), ist es doch eben diese Spannung
zwischen Affektivität und formaler Beherrschung, die eine
Diskursivierung eigener Leiderfahrung allererst ermöglicht.
Weniger um den >Ausdruck<, als um die rhetorische Formung,
Nachahmung und Ostension von Affekten ist es dieser Dichtung zu tun. Im
Horizont von normativer Gattungspoetik und Affektrhetorik legitimieren und
generieren sich Gefühlsdemonstration und gattungspoetische Erfordernisse
wechselseitig. Im übrigen konzentriert sich Lefèvres Beitrag auf einen
textgenetischen Vergleich zwischen der älteren Fassung des Gedichts
(1551) und dessen Version in der postum besorgten Ausgabe >letzter
Hand< (1563). Auf der Basis stilkritischer Wertungen, deren Kategorien man
nicht teilen muß ("nicht glücklich";
"größere Selbständigkeit"; "Echtheit";
"gelungene Nachgestaltung" u.a.m.), tendiert Lefèvre zu einem
Ansatz der kürzeren Elegie auf das Jahr 1547 (S. 221) – Leiderfahrung
und poetische Reaktion wären so auch chronologisch enger aufeinander
bezogen.
Lotichius' Liebesdichtung: Ein "Experiment mit dem
Leben"?
Steht im Mittelpunkt des Bandes zu recht die
>autobiographische< Elegiendichtung mit ihren vielfältigen
Variationen auf das elegische Grundmotiv der querela, so thematisiert
der Beitrag Eckart Schäfers zu Lotichius' Liebesdichtung noch einmal
abschließend und grundsätzlich die den Band bestimmende Leitfrage
nach dem Verhältnis von biographischer und literarischer Erfahrung (S.
241–298). Dabei wird umfassend und auf der Grundlage des Gesamtwerks
Spurensuche nach Lotichius< Liebesdichtung, ihrer immanenten Poetik wie
ihrer Bezüge zur Lebenswirklichkeit des Dichters betrieben. Die Analyse
ist dabei wesentlich chronologisch-biographisch angelegt, bietet freilich in
diesem Rahmen eine fundamentale Studie zur Werkgenese und -chronologie.
In einer Art poetischem Diptychon ließ Lotichius
zunächst in der Parisina von 1551 den numeri graviores der Elegie
zehn kleinere Gedichte in Catullscher Tradition (carmina) folgen, die
zum größten Teil in den Wittenberger Studienjahren (1547 / 8)
entstanden. Zwischen deren zahlreichen Freundschaftsgedichten finden sich –
dem Prinzip der varietas folgend – auch einzelne Liebesgedichte
eingelassen, die formal wie atmosphärisch "Catulls
Freundeskreis" evozieren sollen (S. 242). Schäfer zeichnet hier
behutsam, im einzelnen kenntnisreich und mit großem
Einfühlungsvermögen die geselligkeitsstiftende Funktion der
Gedichte sowie ihre Nähe zu anderen zeitgenössischen Formen einer
"spielerischen, gefühlsintensiven Kleinkunst" (S. 244) nach.
In der Wendung von gelöster humanistischer Privatheit zur
"Katastrophe" eines Scheiterns der Liebe zeichnet sich ein
"Humanistenexperiment mit offenem Ende [...] eine Liebesgeschichte nach
Catull im Wittenberg Melanchhtons" ab (S. 245).
Lotichius hat auch sein zweites Elegienbuch in der Ausgabe
von 1563 "im Code der römischen Elegie" (S. 248) als
Liebesdichtung gekennzeichnet, obwohl sich hier nur zwei Dichtungen
durchgehend mit diesem Thema beschäftigen. Schäfer kann freilich
zeigen, daß die erotische Materie noch in Aussparungen,
Selbst-Apologien und Reflexionen auf die entfernte Claudia gegenwärtig
ist. So sind auch hier die ovidischen Signaturen dieser Lebenskonstruktion
sichtbar: zwischen Liebes- (Amores) und Exildichtung (mit ihrem
konstanten Thema der excusatio amoris) wird die literarische
Biographie Ovids zum Rahmen von Lotichius' literarischer
Selbstthematisierung (S. 249).
Schäfer zeichnet im folgenden kenntnisreich nach, wie
Lotichius in Montpellier zunächst Heiratsabsichten gegenüber einer
Tunicata und Callirhoë genannten Französin hegt, die er
schließlich nach ihrem Tod in einem weiteren Epikedion besingt.
Schäfer weist zu Recht auf das Modell der Celtis'schen Amores
hin, wenn er das verbindende Konzept von Lotichius'
Elegienbüchern II und III in der Kombination von "poetische(m)
Tagebuch und Exildarstellung in einem benachbarten Ausland" sieht (S.
253).
Einen eigenen Komplex von Liebesgedichten stellen die
Eklogen, dar, in denen Lotichius nach dem Vorbild des neapolitanischen
Dichters Jacopo Sannazaros und seiner eclogae piscatoriae
Liebesdichtung im bukolischen Gewand und in verschlüsselter Form
vorführt (S. 253–267): So kehrt Claudia für einen kurzen Moment als
Ocyroe zurück. Insgesamt zeichnet sich so auch hier als zentrales
Prinzip dieser Liebesdichtung die variatio ab. Schäfers Analyse
ihrer verschiedenen Stadien zeigt nicht nur, wie Lotichius immer wieder
verschiedene Aspekte des Liebesthemas in allen zur Verfügung stehenden
Formen und Gattungen durchspielt. Sichtbar werden auch Vorlieben und
Praktiken der "Verrätselung", wie sie aus der Emblematik der
Zeit (dazu auch höchst aufschlußreich der Beitrag von Dorothee Elm
S. 201–212) oder aus mythopoetischer Tradition (erinnert sei hier an Giovanni
Pontano) vertraut sind.
Variatio in der Nachfolge Catulls macht Schäfer
schließlich für die beiden Bücher Carmina der Ausgabe
von 1563 insgesamt aus (S. 271): Hier finden sich die Liebesgedichte der
Parisina im zweiten Buch "in ihrer ursprünglichen Reihenfolge"
versammelt (S. 273). "Die Art, wie der Liebeszyklus bearbeitet und
integriert wurde, kann nur das Werk des Autors selbst sein" (S. 275). Im
Gegensatz dazu deuten die Modifikationen der Elegien darauf hin, daß
die Liebe im Laufe von Leiderfahrung und Trauer "immer mehr auf der
Strecke geblieben" sei (S. 276). So sieht Schäfer in der
Zusammenstellung der Carmina "so eindeutig die Handschrift des
Sommers 1560, daß man hier noch den Dichter selbst am Werk sieht"
(S. 280). In der Elegienappendix der Ausgabe 1563 legt Lotichius "seine
dritte Liebesdichtung" vor (S. 282).
Anknüpfend an Coppel kann Schäfer schließlich
das vierte "philippistische" Buch der Elegien, das wesentlich die
"bürgerlich-offizielle" Seite der Reformation illustriert, auf
die Redaktion des Camerarius zurückführen (S. 282). Zum
Abschluß seines Beitrages kommt Schäfer schließlich noch
einmal auf die beiden entscheidenden poetologischen Aspekte von Lotichius'
Liebesdichtung zu sprechen, ihren "Bekenntnischarakter und ihre
erotische Provokation" (S. 287). Dabei wird entschieden die
Realitätsreferenz gegenüber der formalen Nachahmung – "die
Mimesis seines Lebens, nicht die Imitatio von Literatur" (S. 288) –
hervorgehoben. Nicht der Stilisierung und Fiktivierung der eigenen Vita und
ihrer kontingenten Daten, sondern deren Bewahrung in einer wesentlich
autobiographischen Form stehe im Zentrum von Lotichius' Dichtung – aber
auch der der Zeitgenossen.
Man mag sich zu den inzwischen vertrauten Oppositionen von
"Faktizität der Realität" und "Ungebundenheit der
Phantasie" (S. 289) stellen wie man will: Die
"Autobiographiequalität" dieser Dichtung und mit ihr eine
intensivierte Realitätsreferenz der Lyrik ist unabweisbar –
gattungspoetisch entspricht ihr die ungeahnte Aufwertung der ovidischen
Exildichtung als Katalysator lyrischer Selbstthematisierung. Freilich: Gerade
die Liebesdichtung entzieht sich der Fraglosigkeit poetischer
Selbstbespiegelung und bleibt, wo sie authentische Konfession zu sein
scheint, seit Catull gefährdet von Einwürfen der senes
severiores. Der sogenannte Fiktionstopos, der nach dem Schema: versus
lascivus, vita pudica Leben und Dichtung des erotischen Lyrikers gerade
trennt, ist der bis ins 18. Jahrhundert
wiederholte strategische und apologetische Kommentar der Liebeslyrik zu der
ihr eigenen biographischen oder eben fiktionalen Qualität. 14
Wie sehr das Skandalon des Erotischen noch den Biographen
Hagius 23 Jahre nach dem Tod des Lotichius bei der Abfassung seiner Schrift
umtreibt, hebt Schäfer selbst hervor (S. 292). Diesen
"konfliktbeladenen Realitätsbezug" neulateinischer Lyrik (S.
292) lassen auch deutlich genug die empfindlichen Reaktionen und Polemiken
erkennen, die sich immer wieder an Zyklen von Carmina Iuvenilia
knüpfen (etwa im Falle eines Théodore de Bèze). Sie mögen
tatsächlich die zunehmende Dekontextualisierung, Fiktivierung und
Literarisierung der Liebesdichtungen des Lotichius herbeigeführt haben,
in denen Schäfer das Signum der zweiten Jahrhunderthälfte wie der
Barocklyrik insgesamt erblickt. Das Klima der Gegenreformation, die
Purgierungen der Liebeslyrik ab omni obscoenitate führen
schließlich zu einer Umlenkung der poetischen Energien auf
religiöse Themen. Der Tod des Lotichius erscheint damit als
"Epochengrenze" (S. 295), und so überrascht es nicht, wenn die
Werke des Dichters noch 200 Jahre später in einer Ausgabe erscheinen,
die alle Liebesdichtungen restlos purgiert (S. 295).
Fazit
Der vorliegende Band darf ohne Zweifel als wichtigster
neuerer Beitrag zur Lotichius-Forschung bezeichnet werden, der über
wertvolle Einzelstudien hinaus grundlegende Vorarbeiten einer – hoffentlich
bald erscheinenden – Neuedition (vorbereitet durch Bernhard Coppel) bietet
(dies gilt insbesondere auch für die wertvollen Konkordanzen wie
für das Stellen- und Namensregister; S. 311–322). Entworfen wird hier
ein umfassendes Panorama all jener Faktoren, in welche die deutsche
neulateinische Literatur der Reformationszeit eingestellt ist. Es liegt dabei
in der leitenden Fragestellung des Bandes wie in der disziplinären
Zusammensetzung der Gruppe begründet, wenn der Aspekt innerliterarischer
Referenzen ein Übergewicht gegenüber bildungssoziologischen Fragen
gewinnt. So umkreist der Band beständig die Leitdichotomie von Ausdruck
und imitatio, Realitätsreferenz und intertextueller Beziehung und
weist dabei mehrfach auf jene doppelte Mimesis hin, deren Spannung sich die
humanistische Literatur bis an die Schwelle zur Neuzeit ausgesetzt sieht.
Der Freiburger Band versucht, beiden Formen der imitatio
bzw. Mimesis im Werk des Lotichius nachzuspüren, erreicht
freilich dort seine besondere Aussagekraft, wo er hinter der
literarisch-formalen Selbstreflexion deren aktuelle Voraussetzungen und
Interessen offenlegt und Konturen einer späthumanistischen
Gelehrtenrepublik jenseits von Nationalität und Konfession erkennen
läßt, über deren Prinzipien und Selbstentwürfe man
bisweilen gerne mehr als allfällige Similien erfahren hätte. Denn
nicht um eine Auseinandersetzung mit Ovid oder der >römischen
Elegie< als solcher geht es Lotichius und seinen Zeitgenossen, sondern in
jeder Hinsicht um jenes "Experiment mit dem Leben", auf dessen
(auch literaturwissenschaftlich) offenen Ausgang der Sammelband nun ein neues
Licht wirft.
Dr. Jörg Robert
Universität München
Sonderforschungsbereich 573
Institut für deutsche Philologie
Schellingstr. 3 RG
D-80799 München
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Ins Netz gestellt am 14.05.2003
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Anmerkungen
1 Martin Opitz: Lob des Feldtlebens (1625),
in: Deutscher Poematum Erster Theil, Breslau 1628, S. 122. zurück
2 Pieter Burman: Petrus Lotichius Secundus:
Opera omnia. Notis et praefatione instruxit. I-II, Amsterdam (Nachdr.
Hildesheim / Zürich / New York 1988). zurück
3 Günter Hess: Deutsche
Literaturgeschichte und neulateinische Literatur. Aspekte einer
gestörten Rezeption. In: P. Tuynman, C. Kuiper, Eckard Kessler (Hg.):
Acta Conventus Neo-Latini Amstelodamensis. Proceedings of the Second
International Congress of Neo-Latin Studies. (Humanistische Bibliothek. Reihe
1. Abhandlungen 26) München 1979, S. 493–538. zurück
4 Burmann (Anm. 2), I, S. 421. zurück
5 Wilhelm Kühlmann, Robert Seidel und
Hermann Wiegand (Hgg.): Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lateinisch
und deutsch. (Bibliothek deutscher Klassiker 146) Frankfurt / Main 1997, hier
S. 396–455. zurück
6 Diomedes' Taxonomie der Dichtungsformen
beruht auf Platons Politeia (393c). Dazu knapp Irene Behrens: Die
Lehre von der Einteilung der Dichtkunst. Vornehmlich vom 16. bis 19.
Jahrhundert. Studien zur Geschichte der poetischen Gattungen. (Zeitschrift
für romanische Philologie. Beihefte 92) Halle / Saale 1940, S.
25–30. zurück
7 Die drei Kategorien lauten bei Diomedes:
"Genus activum" ("dramatikòn": Tragödie,
Komödie, Satyrspiel, Mimus), "genus enarrativum"
("dihghmatikòn": Lehrdichtung) und "genus commune" bzw.
"mixtum" ("miktòn": Epos, Elegie, Jambus, Satire).
zurück
8 "In quo poeta ipse loquitur et
personae loquentes introducuntur". Zitat nach Behrens (wie Anm. 6), S.
26f. zurück
9 Buch III, Kap. 125. Nach: Scaliger, Julius
Caesar: Poetices libri septem. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von Lyon 1561
mit einer Einleitung von August Buck, Stuttgart / Bad Cannstatt 1964, hier S.
169. zurück
10 Vgl. Vf.: Exulis haec vox est.
Ovids Exildichtungen in der Lyrik des 16. Jahrhunderts, in:
Germanisch-Romanische Monatsschrift 52 (2002), S. 437–461.
zurück
11 Zuerst 1551 in Paris separat erschienen.
Abgedruckt mit Übersetzung und Kommentar in der monumentalen Anthologie
Kühlmanns u.a. (Anm. 5), S. 396–455. zurück
12 Grundlegend Betty Rose Nagle: The Poetics
of Exile. Program and Polemic in the Tristia and Epistulae ex Ponto of Ovid.
(Collection Latomus 170) Brüssel 1980. zurück
13 Wilhelm Kühlmann:
Selbstverständigung im Leiden. Zur Bewältigung von
Krankheitserfahrungen im versgebundenen Schrifttum der Frühen Neuzeit
(P. Lotichius Secundus, Nathan Chythraeus, Andreas Gryphius). In: Udo
Benzenhöfer und Wilhelm Kühlmann (Hg.): Heilkunde und
Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit. Studien am Grenzrain von
Literaturgeschichte und Medizingeschichte. (Frühe Neuzeit 10)
Tübingen 1992, S. 1–29. zurück
14 Jürgen Stenzel: "Si vis me
flere" – "Musa iocosa mea". Zwei poetologische Argumente in
der deutschen Dichtung des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Deutsche
Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 48
(1974), S. 650–671. zurück
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