Rohmer über Anderegg / Kunz: Kulturwissenschaften

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Ernst Rohmer

Legitimationsdruck und Wissenschaftskrise

  • Johannes Anderegg / Edith Anna Kunz (Hg.): Kulturwissenschaften. Positionen und Perspektiven. Bielefeld: Aisthesis 1999. 207 S. Kart. € 20,50.
    ISBN 3-89528-224-3.


Das von Johannes Anderegg und Edith Anna Kunz herausgegebene Bändchen "Kulturwissenschaften" verspricht in Untertitel und Klappentext "Positionen und Perspektiven" dieser als Neuorientierung der Geisteswissenschaften, aber auch als Gegenbegriff zu den Geisteswissenschaften verstandenen wissenschaftlichen Ausrichtung. Angekündigt werden dazu Beiträge einer "international zusammengesetzten Gruppe von Wissenschaftlern" (Klappentext) der Fächer Germanistik, Romanistik, Anglistik, Philosophie und Ethnologie. Diese entwickeln freilich in ihrer Gesamtheit kein gemeinsames Konzept einer Kulturwissenschaft aus der jeweiligen Fachperspektive.

Die Beiträge sind vielmehr eher dazu geeignet, die Vielzahl von "Wissenschaftskulturen" zu dokumentieren, die sich auf der Basis unterschiedlicher "Wissenschaftssprachen" an "unterschiedlichen Konzepten von Kultur und Kulturwissenschaft orientieren" (S.8). Folgerichtig sprechen die Herausgeber also auch von ihrem Gegenstand im Plural, denn selbst innerhalb einer schon seit Jahrzehnten kulturwissenschaftlich ausgerichteten Abteilung wie der der Universität St. Gallen scheint der Konsens darüber, wie >Kulturwissenschaft< zu verstehen und zu praktizieren sei, nicht besonders ausgeprägt zu sein.

Multiperspektivische Annäherungen

Der Sammelband präsentiert die Vorträge anläßlich eines Forschungsgesprächs an der Kulturwissenschaftlichen Abteilung der Universität St. Gallen im Jahr 1998. Sie sind in fünf größeren Zusammenhängen gruppiert; ihnen voraus geht ein einleitender Beitrag zum Begriff >Kulturwissenschaften<, der aus der Feder der beiden Herausgeber stammt.

Die Anordnung hat einige Plausibilität für sich: Wolfgang Marschall beschäftigt sich zunächst im ersten Abschnitt "Kulturwissenschaft aus der Sicht der Ethnologie" mit der Frage "Wozu die Kulturwissenschaften da sind". Er kann sich dabei auf eine lange Forschungstradition der Ethnologie berufen, aus der er Aufgaben und Ziele einer Kulturwissenschaft zu Thesen verdichtet darstellt. Während sich für sein Fach das "Wozu" sowohl für die in ihm aktiven Wissenschaftler ebenso wie für die Gesellschaft offenkundig befriedigend beantworten läßt, gilt das für die Geisteswissenschaften in toto nicht mehr. Das motiviert die zweite Gruppe der Beiträge, die sämtlich um die Frage des Verhältnisses von Kultur und Wissenschaft zueinander kreisen und dabei insbesondere eine Antwort auf die Frage suchen, welche Rolle die Geisteswissenschaften in einer von Naturwissenschaften und Technik dominierten Gesellschaft spielen können.

Die gebotenen Ansichten hängen dabei naturgemäß jeweils auch von der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplin ab, aus der die Beiträger kommen. Der Philosoph Helmut Holzhey greift dazu das Wort C.P. Snows aus dem Jahr 1959 von den zwei Kulturen auf und diskutiert dessen aktuelle Rezeption. Zentrale Aufgabe der Kulturwissenschaft ist seiner Ansicht nach, die "Entwicklung einer postreligiösen kulturellen Lebensform" zu betreiben, da die Natur und also auch die sich mit ihr beschäftigenden Wissenschaften "Halt und Orientierung" (S.48) nicht bieten könnten.

Der Literaturwissenschaftler Michel Pierssens entwickelt unter dem Titel "Literatur und Erkenntnis" ebenfalls Gedanken zum Dualismus zwischen den zwei Kulturen und zeigt ihn als schon in den Romanen Balzacs und Flauberts dominant auf.

Der Philosoph Tomás Gil dagegen entwickelt seinen Beitrag "Das kulturelle Begreifen des Geistigen" aus dem philosophischen System G. W. F. Hegels. Aus einer Bestimmung dessen, was unter >Geisteswissenschaften< zu verstehen sei, ergibt sich dann eine Beschreibung der ">kulturalistischen< Wende der geisteswissenschaftlichen Reflexion [...]", die seiner Auffassung nach zu einer "radikalen Transformation der klassischen Geisteswissenschaften in interpretative Kulturwissenschaften geführt" habe (S.71).

Auch Johannes Anderegg antwortet in "Zur Legitimation und zur Wissenschaftlichkeit der Literatur- und Sprachwissenschaften" vor allem auf die Forderung der Gesellschaft, die für ihre Finanzierungsleistung Ergebnisse geboten haben möchte. Dem steht seiner Ansicht nach die Vorläufigkeit aller auf die Deutung von Zeichen gerichteten Erkenntnis entgegen. Die hier beschriebenen "Ordnungen, so evident sie im Einzelfall auch sein mögen, sind allemal Hilfskonstruktionen [...]; eben deshalb können und müssen Literatur- und Kulturgeschichten immer wieder neu geschrieben werden" (S.87).

Der Literaturwissenschaftler Christiaan L. Hart Nibbrig schließlich kennzeichnet die "Kulturwissenschaft als Grenzwissenschaft", die dann sinnvoll sei, wenn sie nach dem Wort Wilhelm von Humboldts Wissenschaft auffasse "als etwas noch nicht ganz Aufgefundenes und nie ganz Aufzufindendes" (S.94). Dazu verhilft seiner Ansicht nach insbesondere die Fremderfahrung, weshalb Kulturwissenschaft interkulturell und interdisziplinär sein müsse, um zu Ergebnissen kommen zu können. Freilich dürfe sie sich nicht auf die "postmoderne Fundamentalisierung von kultureller Pluralität und Differenz" einlassen, die letztlich zur Aufhebung und Verwischung der Differenz führe. Vielmehr müsse die Kulturwissenschaft dafür sorgen, daß die Wahrnehmung des Verschiedenen weiter möglich bleibe.

Die Beiträge der beiden St. Gallener Romanisten Vincent Kaufmann und Renato Martinoni sind unter der Rubrik "Wissenschaftskulturen" zusammengefaßt. Mit den unterschiedlichen Wissenschaftskulturen haben ja schon die Herausgeber die Divergenzen im Band begründet. Tatsächlich thematisieren die beiden Beiträge nicht nur Divergenzen im Verständnis von Kultur und damit von Kulturwissenschaften überhaupt; sie nehmen auch gegenüber der in den vorhergehenden Beiträgen entwickelten Linie eine Sonderstellung ein, auf die ich noch eingehen will.

Die vierte Rubrik "Text und Bild" wird nur von einem einzelnen Beitrag ausgefüllt. Der Berliner Mediävist Horst Wenzel charakterisiert die "Kulturwissenschaft als Medienwissenschaft" und untersucht exemplarisch Anfang und Ende der Gutenberg-Galaxis als Systemwechsel der Gedächtnisse. Demnach werden die Dichotomien, die noch den Abschnitt über das Verhältnis zwischen Natur- und Geisteswissenschaften bestimmt haben, durch die technische Entwicklung aufgehoben. Die Informationsgesellschaft der Zukunft wird seiner Auffassung nach eine Konvergenz der beiden Wissensbereiche erleben, in denen sich traditionelle Forschungsbereiche als "heillos überfordert" (S.151) erweisen werden, die Wirklichkeit zutreffend zu beschreiben.

Ein Plädoyer für die Geisteswissenschaften?

Daß sich der letzte Abschnitt des Bandes mit der Zwischenüberschrift "Text und Theorie" ausschließlich aus anglistischen Beiträgen (von Paul H. Fry, Alan Robinson und Valentine Cunningham) zusammensetzt, ist eigentlich nicht überraschend, daß sie – im Unterschied zu den romanistischen Beiträgen! – nicht übersetzt sind, allerdings schon. Zumal die Herausgeber sich in der Einleitung selbst die Lizenz zur Aneignung fremder Kulturen in der Übersetzung geben, indem sie darauf verweisen, "daß ein Sprachgrenzen überschreitendes Kulturbewußtsein – wo es dieses denn gibt – allemal auf Übersetzungen angewiesen" sei (S.12).

Wer sich nun freilich von den Beiträgen in diesem Abschnitt eine Klärung theoretischer Positionen insbesondere im Hinblick auf das Verhältnis theoriegeleiteter >cultural studies< zum (literarischen) Text erwartet, wird sich weitgehend enttäuscht finden. Zwar machen alle drei Beiträge auf den Unterschied zwischen den im anglo-amerikanischen Raum praktizierten >cultural studies< und der >Kulturwissenschaft< im deutschsprachigen Wissenschaftsbereich aufmerksam, keiner allerdings will sich zum Anwalt einer kulturwissenschaftlichen Wende machen.

Fry diskutiert in "Beneath Interpretation. Significance and the Experience of the Literary" zunächst den Einfluß literaturtheoretischer Debatten, wie sie im Anschluß an Jacques Derrida, aber auch Paul de Man geführt wurden, auf das Konzept der >cultural studies<, um dann aber doch gegen theoretischen Fundamentalismus und für einen am Sinn des Zeichens interessierten Umgang mit literarischen Texten zu plädieren.

Alan Robinson tritt in "What We Talk About, When We Talk About Books" "consciously old-fashioned and unfashionable" für eine Rückbesinnung auf die Ästhetik des literarischen Textes ein. Die Bedeutung der mit diesen Texten befaßten Wissenschaft ergebe sich aus der Tatsache, daß – wie es im >Abstract< des Aufsatzes heißt – "Literatur einen intrinsischen Wert hat und eine unentbehrliche soziale Rolle in der Vermittlung und der Aufrechterhaltung menschlicher Werte" (S.191) übernehme.

Valentine Cunningham schließlich betont in "Kulturgeschichte, Cultural Studies and the Literary" unter gezielter Verwendung der deutschen Begriffe >Literaturwissenschaft< und >Kulturgeschichte<, daß beide nie von einander getrennt gewesen seien, daß die Beschäftigung mit volkssprachlicher Dichtung immer das Studium von kultureller Produktion und kultureller Praxis bedeutet habe. Von der kulturwissenschaftlichen Wende gehe allerdings die Gefahr aus, daß sich der Blick auf die Erscheinungen der Alltags- und Jugendkultur verenge und die Perspektive ausschließlich die des Geschlechts, der Rasse oder Klasse sei. Insofern stellten die >cultural studies< eine Bedrohung für die Beschäftigung mit "Literatur als elementarer Stifterin von Kultur und historischem Gedächtnis" (S.205) dar.

Deutsche Wissenschaftstraditionen

Nach diesem Überblick über die Facetten der Aufsatzsammlung läßt sich der Stellenwert der beiden romanistischen Beiträge darin vielleicht am deutlichsten beschreiben. Während die deutschsprachigen Literaturwissenschaftler unter erheblichem gesellschaftlichem Legitimationsdruck in der Kulturwissenschaft die Zukunft geisteswissenschaftlichen Forschens sehen, lehnen die angelsächsischen Literaturwissenschaftler eine kulturwissenschaftliche Orientierung ab. Ist bei ihnen als Motiv die Auseinandersetzung mit Positionen des Poststrukturalismus und des Dekonstruktivismus zu erkennen, so argumentieren die Romanisten Kaufmann und Martinoni in Auseinandersetzung mit der geisteswissenschaftlichen Tradition deutscher Prägung:

Dem Gallo-Romanisten ist dabei der deutsche Kulturbegriff wie der angloamerikanische letztlich ein Fremdkörper im Hinblick darauf, was >Kultur< für >den Franzosen< bedeutet. Im Vordergrund steht hier "nicht das >wissenschaftliche Studium< von Kultur nach deutscher Art [...], sondern deren Übermittlung" (S.106).

Der Italo-Romanist dagegen erhofft sich von einer neuen Generation von Gelehrten – "die Auerbachs, die Curtius, die Vossler, die Spitzer" unserer Zeit – "neue interkulturelle Dialogformen", die den Unterschied zwischen den Kulturen nicht verwischen und sich deswegen an "hermeneutischen Disziplinen" (S.130) orientieren müssen.

Eine gemeinsame >kulturwissenschaftliche Position< kann und will die Aufsatzsammlung nicht bieten. Dennoch macht das Bändchen – und das kann man wohl als Resümee festhalten – in seiner Anlage und in einigen seiner Beiträge recht deutlich, daß die Diskussion um die Kulturwissenschaften nicht zuletzt die Konsequenz einer Auseinandersetzung mit der deutschsprachigen Tradition der Geisteswissenschaften ist. Die freilich ist weniger von der Konkurrenz unterschiedlicher Wissenschaftssysteme und Kulturkonzepte bestimmt als von der Tatsache, daß die deutschsprachigen Geisteswissenschaften unter einem erheblichen Legitimationsdruck stehen.

Die Herausgeber stellen in ihrer Einleitung einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen diesem gesellschaftlichen Legitimationsdruck und der Krise der Geisteswissenschaften her und rechtfertigen damit die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit dem kulturwissenschaftlichen Konzept (vgl. S.9 ff.). Daß hier Zusammenhänge bestehen, ist überhaupt nicht zu bestreiten. Allerdings hält die Krise der Geisteswissenschaften schon sehr viel länger an und hat einen Legitimationsdruck meines Erachtens überhaupt erst evoziert. Fächer, die "ihre Probleme und Zwiste schon immer in der Öffentlichkeit ausgetragen haben" (S.9), tun sich dann freilich schwer, ein differenziertes Bild ihrer Leistungen und ihrer Leistungsfähigkeit dorthin zu vermitteln.

So sinnvoll eine Selbstbesinnung auf "Positionen und Perspektiven" auch immer sein mag: solange sie nicht Möglichkeiten und Ansätze kulturwissenschaftlichen Forschens dokumentiert und handhabbar macht, sondern >nur< mögliche Haltungen und Einstellungen zu diesem Konzept dokumentiert, wird sie nicht mehr sein können als selbst wieder Ausdruck jener zu überwindenden Krise.


apl. Prof. Dr. Ernst Rohmer
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen
Institut für Germanistik

zur Zeit:
PH Heidelberg
Institut für Deutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik
Im Neuenheimer Feld 561
D-69120 Heidelberg

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Ins Netz gestellt am 23.04.2002
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Manfred Engel. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.


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