Schauer über Campioni u.a. (Hg.): Nietzsches persönliche Bibliothek

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Herbert Schauer

Nietzsches Bibliothek.
Ein neuer Bibliothekskatalog
mit vielen Fehlern

  • Giuliano Campioni / Paolo D'Iorio / Maria Cristina Fornari / Francesco Fronterotta / Andrea Orsucci (Hg.) unter Mitarbeit von Renate Müller-Buck: Nietzsches persönliche Bibliothek. (Supplementa Nietzscheana. Bd. 6) Berlin: Walter de Gruyter 2003. 736 S. 77 Faks. Leinen. EUR (D) 148,-.
    ISBN 3-11-015858-2.


Als Nietzsche um die Jahreswende 1888 / 89 in den Wahnsinn entschwand, hinterließ er ein unvollständiges Werk und eine verstreute Bibliothek. Das Werk wurde ediert, die Bibliothek zusammengetragen und sekretiert. Weil seine Schwester den ganzen Nachlaß in die Hand bekommen wollte, erstellte Rudolf Steiner ein handschriftliches Verzeichnis der Bibliothek. Das erste gedruckte, recht summarisch ausgefallene, erschien 1900 in dem Sammelband "Bücher und Wege zu Büchern" und gleichlautend im "Deutschen Bibliophilen-Kalender" 1913. Die bis heute gültige Bibliographie verfaßte Max Oehler 1942. Ihre Mängel waren bekannt, eine neue, Nietzsches ausgedehnte Lektüre besser erfassende Bibliographie war ein Desiderat. Nach über zehnjähriger Arbeit ist sie nun erschienen, und die Erwartung ist groß, waren doch, wie man der "Aufgabenverteilung" entnehmen kann, allein 4 Wissenschaftler an der "Entzifferung und Verzeichnung der Buchhändlerrechnungen" beteiligt (etwa eine Handvoll), und die einzige deutsche Frau im Team sorgte auch noch für die "Revision der Entzifferungen".

Wer das Werk zur Hand nimmt, muß zunächst sein Befremden überwinden. Die Titelformulierung scheint von der Sprache der Werbung infiziert zu sein. Früher hießen Bibliotheks-Kataloge noch ganz einfach "Goethes Bibliothek" (Ruppert) oder "Schopenhauers Bibliothek" (Hübscher). Inzwischen hat die Telekomsprache "Ihr persönlicher ..." (die in falsches Deutsch übersetzte englische Wendung "your personal") auch die Universitäten und Verlage erreicht. Aber vielleicht ist nur der Titel mißglückt und das Werk selbst ist in bester trockener Wissenschaftsprosa verfaßt. Machen wir eine Stichprobe: "... wie aus der Beschreibung Steiners hervor geht. Wir können jedoch nicht ausschließen das Steiner sich auf eines dieser drei Exemplare bezieht ... Wir haben auch keine Anhaltspunkte auf welches der drei Exemplare sich Steiner bezieht ... Aus der aktuellen Sachlage geht jedoch nicht hervor, ob eines dieser drei Exemplare jenes ist, das Steiner in seinem Katalog aufgenommen hat und dessen Seiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgeschichten worden sind." (S. 230) Da reibt sich der Leser verblüfft die Augen. Und macht einen zweiten Test: "Außerdem enthält des Exemplar Bemerkungen, die sich auf die Gesammtausgabe beziehen." (S. 413; alles so geschrieben). Ist das die neue Rechtschreibung? Dafür spräche die Auseinanderschreibung des Verbs "hervorgehen". Man stellt aber schnell fest, daß das Buch in einer Phantasierechtschreibung abgefaßt ist. Fünf Italiener haben es geschrieben, das erklärt die sprachlichen Unsicherheiten, aber es sind drei Deutsche, die den Galimathias verantworten, und das Buch erscheint in einem deutschen Verlag.

Oehlers Verzeichnis von 1942 hatte 56 Seiten, das vorliegende 736. Worauf ist die Inflation zurückzuführen? Einmal auf einen großen Vorzug gegenüber dem alten Verzeichnis. Oehler gab die Lesespuren nur pauschal an (mit einem Punktesystem), das vorliegende gibt bei jedem Buch alle Anstreichungen und Marginalien an (diese Herkules-Arbeit sei ausdrücklich gerühmt; und sie allein macht das Werk unverzichtbar). Die zweite Umfangserweiterung resultiert aus einem 94seitigen Vorwort (Oehler kam mit zwei Seiten aus), dessen erster 30seitiger Teil zunächst einmal eine entsetzlich langwierige Geschichte des Buches erzählt; dann werden die befolgten Prinzipien dargelegt (alle Selbstverständlichkeiten breit auswalzend). Das wäre alles noch gerade so zu ertragen, wenn nicht auch noch hergebetet würde, wie und auf welche Weise Montinari das Projekt anstieß, verfolgte und zu einem halben Ende führte. Das alles gewürzt mit Faksimiles aus seinen Notizbüchern und bewilligten Antrags-Formularen (ganzseitig!). Den Rest des Vorworts füllt eine Geschichte der Bibliothek, am Schluß folgen die "Kriterien zur Erschließung". – Und hier wird es interessant.

Denn hier erklären die Verfasser den Vorsatz, den Titel "entsprechend der Vorlage vollständig wiederzugeben". Das hat aber eine böse Konsequenz. Bei mehrbändigen Werken wird der ganze Titel bei jedem Band in extenso zitiert. Also die ganzen 40 Goethe-Bände hindurch "vollständige neugeordnete Ausgabe". Dadurch bläht man das Verzeichnis natürlich zu seiner vorliegenden Monstrosität auf. Man begibt sich aber auch in eine Ermüdungs-Falle: bei zwei Titeln heißt es auf einmal "Völlstandige". Und eine zweite Gefahr lauert ums Eck. Hat man einmal den Titel abgeschrieben, ist die Versuchung groß, den ganzen ganzen langen Bandwurm des Titels beim nächsten mal einfach zu duplizieren und nur die Bandangabe zu ändern. Dann bleiben die Fehler natürlich stehen. Und so liest man 12 lange "Demokritos"-Bände hindurch immer wieder den marternden Druckfehler "Augabe".

Setzungen

Die Autoren werden nach folgendem Prinzip angesetzt: "Der Verfassername wird immer in der Muttersprache ... wiedergegeben." Sehen wir uns um. John Barclay, der Verfasser der berühmten "Argenis", wurde zwar 1582 in Pont-à-Mousson geboren (und damit könnten ihn die Franzosen für sich reklamieren), er ging aber 1603 nach England, und aufgrund seiner schottischen Abstammung gilt er allgemein als englischsprachig. Anzusetzen also unter "Barclay". Wie finden wir ihn im Verzeichnis? Unter "Barklai, Johann". – Den Portugiesen Luís de Camoes (mit Tilde über dem o) finden wir unter "Camoen", den Spanier, nach RAK mit José Caveda y Nava anzusetzen, finden wir unter "Caveda, Josè" (mit accent grave), den Franzosen Fénelon unter "Salignac" (aber mit 2 accents; in der vom "Centre national de la recherche scientifique" herausgegebenen "Bibliographie de la littérature française du dix-septième siècle" wird er mit "Fénelon" angesetzt ). Madame de Rémusat wird zweimal "Rémusat, Claire Elisbeth" angesetzt (hat also ein "a" verloren), beim drittenmal kurz und schmerzlos "Madame de Remusat". Die hier schon zu beobachtende leichte Germanisierungstendenz findet ihren logischen Abschluß beim Franzosen Ernest Renan, der beim zweiten Auftauchen zum deutschen "Ernst" wird. – Da Adelstitel mit angegeben werden, ist Chateaubriand natürlich Vicomte und Eichendorff Freiherr. Glücklich ist das nicht, aber gegen die anderen Schrecklichkeiten fällt es weniger ins Gewicht.

Die Verfasser haben sich entschieden, pseudonyme Autoren unter ihrem nom de plume einzuordnen. Das erfordert natürlich an der Stelle des eigentlichen Autorennamens einen Verweis. So wird man, wenn man Spittelers "Prometheus und Epimetheus" sucht, auf sein Pseudonym "Tandem" verwiesen. Dieses Verweissystem funktioniert recht gut (mit Ausnahme von Fénelon; hier fehlt der Hinweis auf "Salignac"). Voraussetzung dieses Verfahrens ist aber eine korrekte Entschlüsselung des Pseudonyms. Wie steht es damit? Sehen wir uns ein Beispiel an. Wer nachschaut, ob Nietzsche ein Buch von Laurence Sterne besessen hat, wird unter dem Lemma "Sterne" auf "Yorik" verwiesen. Dort findet er die "Nachgelaßenen Werke", die unter dem Pseudonym "Yorik" 1771 bei Schwickert in Leipzig erschienen sind, und liest in der Anmerkung: "Lawrence Sterne ist der Name des Verfassers." Das ist aber doppelt falsch. Bekanntlich schreibt man den Vornamen anders, und zweitens handelt es sich bei dem Werk um eine Übersetzung der "Posthumous Workes of a late celebrated Genius deceased. The Koran", erschienen in zwei Bänden 1770 in London, verfaßt von Richard Griffith. Dieser wettete darauf, daß seine Sammlung intelligenter Aphorismen Sterne zugeschrieben werden würde, und alle Welt tat das auch (auch noch Goethe; vgl. Thayer 103–107). Übersetzer der vorliegenden Ausgabe ist Johann Gottfried Gellius. Eine andere, bekannter gewordene Übersetzung erschien 1778 unter dem Titel "Der Koran". Nietzsche hat das Werk gelesen, die aufgelisteten Lesespuren beweisen das. Ob er die Fälschung erkannt hat, ist zumindest zweifelhaft.

Datierungen

Das Erscheinungsjahr wird "entsprechend der Vorlage gegeben". Das heißt, man verzichtete darauf, die ohne Jahresangabe erschienenen Bücher zu datieren. Was (mit Ausnahme der Reclam-Bändchen) ja eine ganz leichte Übung gewesen wäre. In den meisten Fällen ist das auch nicht weiter schlimm, aber es führt zu einem katastrophalen Systemfehler. Warum? Nun, die Bearbeiter wollten (zu Recht) nur Bücher verzeichnen, die Nietzsche vor seinem Zusammenbruch besessen hatte. Alle anderen, die von den früheren Bearbeitern noch der Bibliothek zugeschlagen wurden, verbannten sie in einen Anhang, den sie "Eindringlinge" benannten. Dort finden sich alle Werke, die nach 1889 erschienen sind, allerdings nur die datierten. Deshalb finden sich beispielsweise die "Aegineten" von Paul Lauterbach, die zwar mit der gedruckten Widmung "Dem Meister des Zarathustra", aber undatiert erschienen sind, im Hauptalphabet, und da haben sie nichts zu suchen. Denn sie sind laut GV im Jahr 1891 erschienen. Und wenn man schon nicht datiert, dann hätte man auch besser in den Anmerkungen darauf verzichten können, seine Unwissenheit mit Steinerschen Vermutungen zu kaschieren. Georg Heinrich Schneiders Werk "Der thierische Wille" erschien undatiert 1880 bei Abel in Leipzig. Die Bearbeiter datieren nicht, schreiben aber in rührender Unbeholfenheit in der Anmerkung: "Steiner gibt als Erscheinungsjahr 1880 an."

Unsicherheiten

Ein jedem Bibliographen wohlbekanntes Problem ist die Umsetzung von Versalien in Minuskeln: Groß oder klein; Umlaut oder nicht. Die Bearbeiter schwanken. Zwei Beispiele: S. 239 "renaissance", dagegen S. 240 "Renaissance"; S. 432: "Handwörterbuch" und "Handwoerterbuch" (die Bearbeiter entscheiden sich beim ersten Band für die eine, beim zweiten für die andere Variante). Ein weiterer Punkt betrifft die Verlagsangaben. Es klingt komisch, wenn man liest "Meurs: Rheinischen Schulbuchhandlung", oder "Leipzig: F. Lankischens Erben". All das wäre leicht zu beheben gewesen, wenn man nur die Verlagsangabe komplett abgeschrieben hätte (also "bey Lankischens Erben") oder die Verlage nach Benzing normalisiert hätte. Die Flexionsunsicherheiten bei Angaben der Art "Sonderdruck aus dem >Rheinischen Museum<" (dagegen zweimal "Rheinisches") führen zu einem generellen Chaos. Und der Münchner Verleger Theodor Ackermann heißt auch nicht "Akkermann". Zu all diesen Ungeschicklichkeiten gesellen sich noch die einfachen Lesefehler (jedem Ausländer im heroischen Kampf mit der Fraktur verziehen, aber nicht dem deutschen Herausgebern, die das ja verantworten – und früher hatte man dafür einen Assistenten zum Durchlesen). Man kennt die Lieblingsverlesungen ja sehr gut, und wirklich, sie finden sich: "Heinfius" (S. 210; statt "Heinsius"), das schottische Nationalepos wird zu "Lala Rooth" (S. 340; statt "Rookh"), der Verleger Rieger wird zu einem Herrn "Nieger" (S. 323), so bekannt so traurig. Nur bei einer Verlesung ist man den Autoren fast dankbar. In einem wüsten Antisemiticum wird der "Judencharakter" zu einem "Jedencharakter" umgewandelt (S. 690).

Lagen den Bearbeitern Kaufquittungen vor, geben sie das an. Paul Rées "Psychologische Beobachtungen" werden deshalb mit folgendem Kommentar versehen: "Gekauft am 11. Oktober 1875 ... gebunden am 29. Januar 1876". So weit, so gut. Aber das Buch hat eine Widmung von Rée an Nietzsche. Und daß Nietzsche dieses Buch gekauft haben soll, ist natürlich völlig undenkbar. Viel wahrscheinlicher ist, daß er ein zweites Exemplar kaufte, um es zu verschenken (übrigens fehlt bei der Abbildung der anderen Rée-Widmung auf der nachfolgenden Seite die Unterschrift).

Manche Bücher sind heute nicht mehr vorhanden, finden sich aber in den alten Verzeichnissen von Steiner und dem der Schwester Nietzsches. Deren Titelaufnahmen sind natürlich nicht zuverlässig, also muß man andere Quellen heranziehen. Entweder autoptisch oder über Bibliographien. Schauen wir uns ein Beispiel an: Johan Nieuhofs Bericht über seine China-Reise von 1655–57, deutsch erschienen 1666 bei Mörs in Amsterdam. Die Bearbeiter geben ihre Quelle nicht an, schreiben den Titel aber mit 14 Fehlern ab (vgl. die Transkription bei Landwehr, VOC, 541). Gegenüber den Titelwiedergaben solchermaßen mißtrauisch geworden, mögen andere die autoptischen Einträge kontrollieren. Hier nur zwei Beispiele für Mißglücktes: Bei der dritten Ausgabe von Schopenhauers Schrift "Über den Willen in der Natur" setzen die Bearbeiter hinter "Natur" einen Doppelpunkt. Es gehört aber ein einfacher Punkt gesetzt und groß fortgefahren. Außerdem ist in dem nachfolgenden Satz einfach das Verb "erhalten" ausgefallen. Im selben Band war "Über das Sehn und die Farben" angebunden; daraus haben die Bearbeiter "Sehen" gemacht (im übrigen ist nicht klar, ob das Werk nun doppelt vorhanden war oder nur einmal verkauft wurde, was eher wahrscheinlich ist).

Kollationen und Beschreibungen

Die Kollation ist seit jeher ein Stiefkind der Bibliographen. Die Bearbeiter folgen der guten (d. h. eo ipso schlechten) RAK-Tradition, erklären ihren Unwillen zur Kollation und fassen ihre Vorgehensweise in dem schlichten Satz zusammen: "Es wird jeweils die Seitenzahl der letzten paginierten Seite angegeben." Also noch nicht einmal die elementarsten Grundbegriffe (beispielsweise Unterschied folium und pagina) der Bibliographie sind bekannt. Die Kollation von Jacob Burckhardts "Griechischer Kulturgeschichte" lautet demzufolge "224 S", aber dann folgt die Anmerkung: "Da nur die rechten Seiten paginiert sind, kommt die Seitenzählung nur auf die Hälfte der tatsächlichen Seitenzahl". Großartig. Aber eigentlich nur grotesk-unbeholfen und rührend komisch.

Auf eine Bestimmung der Ausgabe wurde (bewußt?) verzichtet, eine sehr weise Entscheidung. Manchmal überkam einen Bearbeiter aber der Ehrgeiz, und er kramt seine ganze Gelehrsamkeit in der Anmerkung aus: zu Fontenelles "Gesprächen von mehr als einer Welt", die Nietzsche in der Ausgabe von 1730 besaß, heißt es: "Es handelt sich wahrscheinlich um die zweite Ausgabe." Die zweite Ausgabe überhaupt? Nein, er meint sicherlich die zweite deutsche Ausgabe. Stimmt das aber nun? Natürlich auch nicht. Die erste deutsche Ausgabe erschien bereits 1698 (Holzmann / Bohatta VI, 5420), die zweite 1726 (erstmals übersetzt von Gottsched; Goedeke III, 361, 29).

Ein Kapitel für sich sind die "sic"-Angaben. Um zu markieren, daß auf dem Titel tatsächlich ein Druckfehler steht, schreibt der Bibliograph normalerweise nach der falschen Schreibung ein "sic". Das setzt voraus, daß man weiß, was wirklich ein Fehler ist und das klingt einfach, setzt aber in Wahrheit einige Kenntnisse voraus. Deshalb unterlassen gewitzte Bibliographen diesen Ausruf. Die Bearbeiter waren kühn, streuten zahlreiche "sic" in ihre Aufnahmen – und brachen sich den Hals. Beliebige Beispiele sind Fontenelles "Gespräche" (sogar die "Anmerckungen", die im 18. Jahrhundert immer mit "ck" geschrieben wurden, bekommen ein "sic" verpaßt), Hayleys "Leben Miltons" (das "übersezt" ist zur damaligen Zeit die Hauptvariante), Montaignes "Versuche", das "sechszehnte" Bändchen von Schillers "Sämmtlichen Werken" ("sechszehn" war die damalige Rechtschreibung; auch wenn ein Italiener das nicht glaubt), und daß man Shakespeare früher mitunter recht kraus schrieb, das wissen sogar deutsche Gymnasiasten. Das "sic"-Kapitel endet mit einer lustigen Katastrophe. Der Sprachreformer Christian Hinrich Wolke veröffentlichte 1816 eine "Anleit zur deutschen Volksprache" (ein Vorschlag zu einer radikalen Rechtschreibreform avant la lettre); da gehen den Bearbeitern fast die "sics" aus, aber man weiß wirklich nicht, ob man lachen oder weinen soll, so verzweifelt ist man im Grunde seines Herzens über den Zustand der deutschen Wissenschaft im Jahr 2003.

Butlers "Hudibras", den Nietzsche in der Ausgabe von 1765 besaß, ist natürlich wieder ein "sic"-Fall. Das kennen wir nun schon, und wollen es auch nicht weiter monieren, aber wir wollen an diesem Fall etwas anderes demonstrieren. Eine allgemein zu beobachtende Hilflosigkeit dem alten Buch gegenüber. Ob das nun Profis verantworten (der letzte Totalschaden ist die Maaßen-Bibliographie) oder eher "unschuldige" Germanisten und Philosophen, das Ergebnis ist überall gleich. Eine mittlere Katastrophe. Sehen wir uns den Butler genauer an. Als Erscheinungsort wird "Hamburg und Leipzig" angegeben, und einen Verleger fanden die Bearbeiter nicht, also "ohne Verlag". In Wirklichkeit ist das Werk bei Orell, Gessner und Cie. in Zürich erschienen, übersetzt von J. H. Waser (Goed. IV / 1, 578, 18, 10. Rümann 143; die Abkürzung für die "Compagnie" wird von den Bearbeitern übrigens konsequent falsch geschrieben). Die angegebene Kollation stimmt, aber in den Anmerkungen findet sich der rätselhafte Satz: "Auf der Vignette gegenüber dem Titelblatt ein Namenszug". Was ist mit der "Vignette gegenüber dem Titelblatt" gemeint? Ein mit einer gestochenen Vignette versehener Vortitel? Wohl nicht. Aufklärung erhält man nur, wenn man aus anderen Quellen eruiert, daß das Werk von Salomon Gessner illustriert wurde, und zwar nicht mit Vignetten, sondern mit veritablen Kupfertafeln, insgesamt 8 (alle verzeichnet bei Leemann-van Elck 328–336). Aus der "Vignette gegenüber dem Titel" wird also eine Kupfertafel, welche von den acht kann man nur raten, und ob die anderen sieben noch im Buch sind, darüber mag man sich in Weimar Auskunft holen. – Noch unbeholfener wird bei der Beschreibung von Barock-Titeln vorgegangen. Nietzsche besaß eine Ausgabe von Zincgrefs "Apophthegmata". Anstatt nun das Werk mit einem kurzen Griff zum Dünnhaupt zu bibliographieren, wird forsch datiert und in der Anmerkung auf 24 Druckzeilen eine lehrlingshafte Beschreibung der Vorstücke versucht. Überprüft man die Datierung anhand der Kollation (was schwierig ist, da diese auch nicht den mindesten Standards genügt), kommt man zum Ergebnis, daß wohl nicht (wie angegeben) die Erstausgabe von 1626 vorliegt, sondern die dritte Ausgabe von 1639 (Dünnhaupt 1.3). Merke: man kann alte Bücher nicht mit Blauäugigkeit und gutem Willen bibliographieren.

Fazit

Wenn notwendige und wichtige Bibliographien mit derartigen Fehlern behaftet sind, ist das zunächst einmal traurig. Wichtiger als die Trauerarbeit ist aber die Beantwortung der Frage, warum heutzutage so etwas veröffentlicht (und bestimmt ausgiebig gefeiert) wird. Ich sehe zwei Ursachen. Einmal die generelle Mißachtung der Bibliographie von seiten der Geisteswissenschaftler. Und wenn dann einer mal eine schreibt, erfindet er jedesmal das Rad neu. Aber es gibt nun einmal mühsam erarbeitete Standards, bei deren Mißachtung jeder dem Gelächter oder der Kritik verfällt. Zum zweiten haben die deutschen Verlage ja stillschweigend das Lektorat abgeschafft. Schlampigen Wissenschaftlern hat früher ein Lektor eine Warnungstafel vorgehalten (keiner hätte früher folgenden Satzanfang durchgehen lassen: "In der Betonung dieses Kosmopolitismus eines Nietzsche, der neue europäische und übereuropäische Wege experimentiert ..."), heute gibt jeder seine Arbeit per email direkt in den Satz. – Aber nun liegt es einmal da, dieses aufgeblähte Monster, und es wird keine Neubearbeitung geben. Jeder Leser wird hunderte Male lesen "Laut Steiner gebunden. Heute gebunden", wird die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und davon träumen, was man alles in den manchmal so umfangreichen (aber durchwegs belanglosen) "Anmerkungen" hätte unterbringen können (vor allem einer der Bearbeiter, Andrea Orscucci, der ein nicht genug zu rühmendes Buch über Nietzsches Lektüre geschrieben hat: "Orient und Okzident").

Druckfehler

Am Schluß eine kleine Liste von Druckfehlern:

10 beim jungem Nietzsche

20 um eine Exemplar

34 Elisabeth Förster-Nietzsche (zweimal mit Bindestrich, zweimal ohne)

35 erfoderlich

42 Klassiche

44 Stifters'schen

52 russiche

52 durcheinnander

52 Nietzsche – fehlt das Genitiv-s

57 zeimlich

66 weitern

88 Leibbibliothek

88 Musikalien-Leihanstalt

89 betreffeden

98 DuMont-Schauer (statt Schauberg; zweimal hintereinander)

98 Durchschußblättern, auf denen

100 Coephoren (dann Choephoren)

111 Vermaße (statt Versmaße)

131 Thessing (statt Theissing)

136 Abt-heilung (statt Ab-theilung)

153 schönwissentschaftliche

161 Einzelen

162 Einzelen (zweimal hintereinander)

165 Tauschnitz

166 vielfach, verb. (das Komma dürfte zuviel sein)

170 Französichen

172 Überstetzt

174 Gros-sherzoglich (Brutaltrennung)

177 2. Bde. (der Punkt ist zuviel; gemeint sind zwei Bände)

184 Alp-honse (getrennt wie Alp-horn)

185 Das System (man vergleiche das Faksimile auf der übernächsten Seite; bei der Ansetzung sind offensichtlich die Zeichen ausgegangen)

193 apophthegmaticus

206 Verein-sausschusses

210 Heinfius (ach ja, die Fraktur: das ist natürlich der Herr Heinsius)

223 manu scriptorum (wirklich getrennt?)

231 Holschnitten

233 Aechylus

235 24te (nicht 24ter?)

243 deutschter

244 Reiseabenteur

245 Schubuchhandlung (zweimal)

245 Vauvenarges

247 Jahrszeiten (nicht Jahres?)

247 Völlstandige (und 248)

266 Gesangsunterricht in der Volkschule (richtig Volksschule)

283 da (statt das)

296 achtzenten (statt achtzehnten; zweimal hintereinander)

296 Appolodor (statt Apollodor)

305 Notizen die (Komma fehlt)

307 französische (statt französischen)

307 metrischen Uebersetzungen (nächste Nummer: Uebersetzung; was stimmt?)

323 Nieger (statt Rieger; wieder die Fraktur)

336 Uebersezt (statt übersetzt; sonst wäre ja ein "sic" fällig gewesen)

340 Rooth (statt Rookh)

367 Wörtwechsel

371 Verstrorbenen

372 Hundertund-fünftes (nächste Aufnahme: Hundertundsiebentes)

381 Ranbemerkungen

390 Unter-streichungen

409 heite (statt heute)

410 Notizen die sich (fehlt das Komma)

413 Gesammtausgabe

414 zusammenbebunden

415 durschschossen

417 derjeningen

426 tabellarischen (statt tabellarischem)

428 bd (statt Bd.)

436 wird (fehlt das Komma)

497 blasphèmes, (wahrscheinlich Punkt)

499 erste (statt ersten)

506 herzlichen (vermutlich herzlichem)

527 Unbeabstichtigte

620 Unaufgeschnichten (elfmal hintereinander)

632 Profesor (statt Professor)

645 Augabe (zwölfmal hintereinander)

648 Altert-hümern

667 Giessel (oder Giesse?)

670 Einjärhig

683 Edler (statt Edle)

683 Vereinigen (statt Vereinigten)

689 Inahlt (zweimal hintereinander)

690 Jedencharakters (statt Juden-)

694 Settlemint

716 Therminologie

724 Französichlehrer

724 auftauchte,

725 Hillebrandt (statt Hillebrand; fehlt im Hauptalphabet!)

726 fortlaufende (statt fortlaufenden)

730 jetzgigen

730 Vereherung

731 ist der Verlagsort ausgefallen: Stuttgart

731 Schülz (richtig Schulz?)

732 Hillebrand

732 verloren gegangen (und folgende)

735 Bilde (statt Bilder)

letztes Blatt :Werk-ausgaben, bedeu-tet, Interpunktion, Unter-streichungen


Herbert Schauer
Kyreinstr. 18
81371 München

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Ins Netz gestellt am 21.11.2003
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IASLonline ISSN 1612-0442
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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.


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