Scheffel über Lukas: Arthur Schnitzler - Preprint

Michael Scheffel

Wolfgang Lukas: Das Selbst und das Fremde. Epochale Lebenskrisen und ihre Lösung im Werk Arthur Schnitzlers. Münchner Germanistische Beiträge 41). München: Wilhelm Fink Verlag 1996. 309 S. Kart. DM 78,-.



In seiner Münchner Dissertation erprobt Wolfgang Lukas einen neuen Zugang zu dem umfangreichen und vielseitigen literarischen Werk Arthur Schnitzlers, indem er eine besondere Form von strukturaler Textanalyse mit der Rekonstruktion der spezifischen "Denkstrukturen" der Epoche 1 verbindet. Dabei setzt sich Lukas im wesentlichen zwei Ziele: Zum einen möchte er mit Hilfe einer "auf genauer Textinterpretation basierende(n) konsequenten Modellbildung über die Text- und Gattungsgrenzen hinweg" zeigen, daß es in Schnitzlers Werken jenseits einer "Oberfläche der scheinbaren Selbstverständlichkeit und Unstrukturiertheit eine 'Tiefenebene' der Strukturierung in einem von der Forschung bislang ungeahnten maximalen Ausmaß" gibt (S. 12). Zum anderen möchte er die "besondere Geschichtlichkeit" dieser als exemplarisch ermittelten "Strukturierung" belegen und Schnitzlers literarisches Werk mit den Mitteln einer "historischen Diskursanalyse auf dem von Foucault so genannten 'niveau préconceptuel'" 2 (S. 13) in den "denkgeschichtlichen Kontext" (S. 12) der für den Zeitraum zwischen 1890 und 1930 angesetzten "Frühen Moderne" 3 einordnen. Von seinem Ansatz verspricht sich Lukas neben einem weiteren Beleg für die "Einheitlichkeit" einer durch das "lebensideologische Denken" 4 geprägten Epoche in erster Linie die Möglichkeit einer schärferen Profilierung sowohl des Gesamtwerks von Schnitzler als auch der Struktur seiner einzelnen Texte.

Um zunächst einmal die Grundlagen für den Entwurf eines Strukturmodells zu gewinnen, nutzt Lukas die Beobachtung, daß sich in einem "Großteil" von Schnitzlers Werken so etwas wie eine "ideologische Zweiteilung" nachweisen läßt. Im Sinne einer solchen "Zweiteilung" kommt es, so Lukas, in einem ersten Teil sowohl von Prosa- als auch Dramentexten "zum Ausbruch einer fundamentalen Sinnkrise des Subjekts", die verbunden ist mit dem "optimistischen Aufbruch zu einem alternativen Leben", dem "Entwurf einer neuen expliziten Individualpsychologie, einer neuen Konzeption der 'Person' und einer neuen Moral". Auf diesen "Aufbruch" folgt, so Lukas weiter, "in einem zweiten Teil ein neuerlicher Prozeß, der wiederum zumeist eine Krise und Bewußtwerdung" einschließt, diesmal jedoch "im Zeichen einer umfassenden Desillusionierung" steht (S. 15). Aus dieser Beobachtung leitet Lukas die Hypothese eines "narrativen 3-Phasen-Modells" ab: "Die erste 'Hälfte' erzählt den Übergang von einer Ausgangsphase A in die Zwischenphase B, die zweite den Übergang von letzterer in die Zielphase C." Beide Übergänge, so vermutet Lukas, stellen "Tiefen-Ereignisse" dar, die auf der "Textoberfläche" verschieden realisiert sein können und die sich jeweils als eine "logisch-semantische Operation der Substitution bzw. Hierarchisierung/Überlagerung" rekonstruieren lassen (S. 15). Im einzelnen, so Lukas weiter, ist diese "Grundstruktur einer zweimaligen Substitution so zu verstehen, daß hier in einem ersten "Tiefenereignis E1" eine "Art 'Basiskode der dargestellten Welt'" etabliert wird, während das "zweite Ereignis E2" diesen "Basiskode" auf "höherer Ebene" wieder "auflöst" (S. 15). "So verschiedengestaltig sie auf der Oberfläche sein mögen", so die "Generalthese" von Lukas, "nahezu alle Texte, ob Frühwerk oder Spätwerk, ob Drama oder Erzählung, 'erzählen' (...) auf dieser abstrakten Ebene dasselbe" (S. 15).

In der folgenden Untersuchung geht Lukas nicht Werk für Werk, sondern nach systematischen Kriterien vor. Auf der Basis eines umfangreichen, Dramen und Erzähltexte einschließenden Korpus konkretisiert er das skizzierte "3- Phasen-Modell" sozusagen in idealtypischer Gestalt, indem er in zwei getrennten, jeweils umfangreichen Teilen zunächst die "Konstitution" und dann die "Auflösung des Basiskodes" rekonstruiert. Dabei unterscheidet Lukas im einzelnen noch zwischen zwei Werkphasen, nämlich einer kurzen, bis ca. 1897/98 dauernden "präpsychologisch-'naturalistischen'" Frühphase und einer langen, mit Das Vermächtnis (1898) und Die Frau des Weisen (1897) einsetzenden "psychologisch-lebensideologischen Phase". Nach Lukas erfolgt mit dieser zweiten Phase allerdings kein Bruch, sondern Schnitzler radikalisiert hier ein Modell, das er schon in seinen frühen, scheinbar "naturalistisch" geprägten Werken erprobte.

Das Strukturmodell, das Lukas in den beiden Hauptteilen seiner Arbeit in überaus detaillierter Form ausarbeitet, läßt sich hier naturgemäß nur stark vereinfacht darstellen. Von elementarer Bedeutung für den im Sinne eines spezifischen "Kultur-Modells" 5 verstandenen "Basiskode" der Texte ist nach Lukas ein Gegensatz, der als "Kategorisierung der dargestellten Welt in die zwei disjunkten Welten und Wert- und Verhaltenssysteme SA und SB" (S. 22) verstanden und mit der Opposition "'bürgerliche Normalität' vs. 'Abweichung'" bezeichnet werden kann. Diese "Basisopposition der dargestellten Welt" (S. 21ff.) konkretisiert sich in einer Reihe von Gegensätzen wie "'Jugend' vs. 'Alter'" (S. 29f.), "'Natur' vs. 'Kultur'" (S. 31ff.), "'Leben' vs. 'Nicht-Leben'" (S. 36ff.) sowie einer "Kategorisierung der Figuren in die zwei disjunkten Klassen" "Normalbürger" (sogenannte A-Figuren) und "vom bürgerlichen Lebensmodell Abweichende" (sogenannte B-Figuren) (S. 22ff.). Im Gegensatz zu den "A-Figuren" bewegen sich die "B-Figuren" in einem "Wert- und Verhaltenssystem", das u.a. mit den Qualitäten "Jugend", "Natur" und "Leben" assoziiert ist; den einfachsten Fall solcher "B-Figuren" stellen nach Lukas "Künstler, 'Magier-Psychotherapeuten' und Abenteurer" (S. 24) dar, die "nicht seßhaft" (S. 25) sind und deren "normverletzende Erotik" "zumindest" die Merkmale "der nicht- ehelichen Beziehung und des häufigen Partnerwechsels" (S. 27) bezeichnen (idealtypisch realisiert z.B. in der Figur des Casanova, des Paracelsus und des Cassian). Der zeittypischen "Doppel-Ich-Theorie" (S. 51) entsprechend, die Lukas für die "Personenkonzeption" (S. 45ff.) in verschiedenen theoretischen Diskursen der Epoche wie etwa dem der Psychopathologie und der Lebensphilosophie nachweist, kann sich nun allerdings sowohl die Spannung zwischen zwei gegensätzlichen Personentypen als auch die zwischen zwei "Wert- und Verhaltenssystemen" mit ein und derselben Person verbinden. Mit anderen Worten: "In jeder A-Figur schlummert also latent angelegt eine B-Figur" (S. 47).

Der ermittelte "Basiskode" ist nach Lukas "Ausdruck einer Krise des Systems wie auch einer Sinnkrise des Subjekts". Im Rahmen des in der bürgerlichen Gesellschaft "vorgegebenen kulturellen Wert- und Normensystems" lassen sich weder eine mit "Glück", "Sinn" und "Leben" assoziierte "Erotik" noch das "Eigene" des Individuums realisieren (S. 64). Im zeitgenössischen Denken entspricht dem ein "lebensideologisches Strukurmodell" (S. 77), dem die tradierten sozialen Normen als kulturelle "Formen" gelten, "gegen die das unmittelbare und echte Leben (...) revoltiert" (Georg Simmel). 6 Der "manifeste Ausbruch" der aus einer solchen "Umkodierung" 7 tradierter Werte resultierenden Krise konstituiert - und damit stellt Lukas die Verbindung zwischen "Basiskode" und "narrativem 3-Phasen- Modell" her - das "zentrale erste Ereignis der Texte" (S. 64).

Abstrahiert man von den "Oberflächen-Ereignissen" in den jeweiligen Texten, so läßt sich das allen Werken gemeinsame "semantisch-logische 'Tiefen-Ereignis' E1" 8 nach Lukas als eine Krise beschreiben, die in der "expliziten Verbalisierung und Bewußtwerdung der Basisopposition zwischen beiden Systemen/Welten" besteht und die auf ihrem Höhepunkt zu einem "Lebenswechsel" 9 führt, demzufolge eine Phase des "Nicht-Lebens" von einer Phase des "Lebens" abgelöst werden soll (S. 65). Dieser "Lebenswechsel", der zugleich eine "Normverletzung" bedeutet (S. 66), läßt sich "raumsemantisch" als eine "Grenzüberschreitung" zwischen zwei "Wert- und Verhaltenssystemen" definieren (S. 66), der in concreto ein "Ortswechsel" in der äußeren Welt oder auch nur der Wechsel in einen seelischen "Tiefenraum" entsprechen kann. "Opfer" der Krise sind in erster Linie an der "oberen Schwelle der Jugend zum Alter" stehende Figuren, die in der für das Selbstverständnis der Epoche "zentralen" "Krise der Lebensmitte" stehen (S. 92) und in der Vergangenheit nicht gelebtes Leben nachholen wollen; als Krisenauslöser kommen etwa die unmittelbare Konfrontation mit dem Tod (wie z.B. in Leutnant Gustl, Sterben und Die letzten Masken) oder die unverhoffte Begegnung mit einem Jugendfreund in Frage (wie z.B. Bertas Begegnung mit Emil in Frau Berta Garlan), d.h. "Katalysatorereignisse" und/oder "Katalysatorfiguren" (S. 97ff.), die auf verschiedene Weise mit einer "fremden, anderen Welt korreliert sind" (S. 99).

Seinen ersten, umfangreichen Teil schließt Lukas mit einem Blick auf den Epochenwechsel vom "Realismus" zur "Frühen Moderne". Er setzt hier eine Homologie zwischen dem "Wert- und Verhaltenssystem SA" und der "offiziell gültigen Moral und Personenkonzetion/Psychologie" des "Realismus" an und formuliert die Hypothese, daß dem in der ersten "Hälfte" von Schnitzlers Werken inszenierten Wechsel zwischen zwei "Wert- und Normensystemen" auch ein allgemeiner Wandel entspricht: "Die Schnitzlerschen Texte bilden mit der vorgenommenen Substitution eines gegebenen durch ein alternatives oppositionelles Wert- und Normensystem also immer auch textintern den literarhistorischen und denkgeschichtlichen Systemwandel ab, dessen Produkt sie selbst zugleich sind" (S. 121).

Im zweiten, der "Auflösung des Basiskodes" gewidmeten Teil seiner Arbeit, unterscheidet Lukas zunächst zwischen Werken, die einen "Totalausstieg" (z.B. Die Hirtenflöte, Komödie der Verführung, Frau Beate und ihr Sohn, Flucht in die Finsternis, Fräulein Else) und Werken, die - unabhängig von einem "guten" oder "schlechten" Schluß - eine Wiedereingliederung" in das Normensystem des "bürgerlichen Lebens" gestalten (z.B. Freiwild, Das Vermächtnis, Traumnovelle, Frau Berta Garlan) (S. 128). In diesem Zusammenhang stellt er fest, daß der Ausstieg ausnahmslos mit einem psychischen Selbstverlust verbunden ist, während der Rückkehr in das bürgerliche Leben eine Selbstfindung entspricht. Wenn also in der ersten Texthälfte (im Übergang von der Phase A zu B) eine "Sinnstiftung" im Zeichen eines Gegensatzes von Individuum und gesellschaftlicher Norm erfolgt, der "Totalausstieg" aus der Gesellschaft jedoch notwendig den psychischen Selbstverlust bedeutet, dann müssen Individuum und Gesellschaft, "Natur" und "Kultur", "Psychologie" und "Moral" in der zweiten "Hälfte" (im Übergang von B zu C) in einem zweiten Akt der "Sinnstiftung" neu vermittelt werden (S. 129). Lukas versteht diesen Akt als eine "Substitution" der ersten "Sinnstiftung" und betrachtet ihn als das "hochrangigste Ereignis der Texte" (S. 129f.).

Auch die zweite, im Vergleich zu E1 sehr viel komplexere Substitution E2 versucht Lukas auf einer abstrakten Ebene zu rekonstruieren. Die "Neumotivation der alten Moral" (S. 139), die von den Texten am Ende entworfen wird, kommt demnach - faßt man Lukas Ausführungen wiederum in groben Zügen zusammen - dadurch zustande, daß an die Stelle der alten "kulturellen und moralischen Grenze" eine neue "Grenze" tritt, die jenseits aller Konventionen einzig und allein in der "psychischen 'Natur' des Subjekts" verankert ist (S. 139). Es ist also die "ganz individuelle Psychologie des Subjekts, die an die Stelle der überindividuellen Norm tritt und ihrerseits das neue 'Leben' scheitern läßt" (S. 138). Nach Lukas überlebt das alte System demnach "im paradoxen Modell seiner impliziten Selbstaufhebung" (S. 222), d.h. "erst wenn den Normen jegliche Bedeutung, 'Norm' zu sein, genommen ist, erst wenn die Moral völlig durch Psychologie substituiert worden ist, kann bzw. können sie wieder befolgt werden." Mit dieser Lösung sieht Lukas denkgeschichtlich "die Fortsetzung des Programms der zunehmenden Selbstkontrolle des bürgerlichen Subjekts" verwirklicht (S. 222).

Was Lukas für die sogenannten "3-Phasen- Texte" rekonstruierte, nämlich ein "Modell der psychischen Neuaneignung der Moral über die Substitution einer kulturellen Grenze durch eine psychische 'Naturgrenze", betrachtet er schließlich als "Spezialfall" eines Modells, das sich auch in all den Werken verwirklicht findet, die nach dem - ebenfalls auf lebensideologischen Prämissen basierenden 10 - Muster der "sich selbst erfüllenden Prophezeiung" (S. 232) funktionieren (im Sinne der Todesweissagung z.B. Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg, Die Weissagung, Abenteurernovelle, Der einsame Weg; im Sinne der Vorhersage sexueller Untreue z.B. Alkandis Lied, Der Ehrentag, Der Schleier der Beatrice). Hier wie dort, so die These von Lukas, wird das "Problem der Realitätskonstitution" als das "zentrale Thema der Texte" im "zyklischen Modell der Neumotivierung einer vorgegebenen Realität" "narrativ entfaltet" (S. 238), wobei Schnitzler - wie Lukas u.a. am Beispiel des Grünen Kakadu verdeutlicht - wiederholt die an und für sich paradoxe "Gleichzeitigkeit" von "Dissoziation und Koinzidenz" der "zwei Realitätsebenen des Gedachten und Realen" (S. 257) inszeniert. 11 Das "heimliche Bedürfnis" nach einem höheren "Sinn" verschwindet angesichts der mit dieser Paradoxie verbundenen Unmöglichkeit der Erkenntnis irgendeiner Form von allgemeingültiger "Wahrheit" allerdings nicht. "Sinn gründet nun", so lautet das Fazit von Lukas, "zum einen in der Immanenz des Lebens und seiner Kontingenz, zum anderen im Subjekt und seiner ganz individuellen Psychologie - beide Größen, das 'Leben' und die Psyche des Subjekts, werden damit ihrerseits Träger einer neuen, impliziten Metaphysik" (S. 288).

Alles in allem betrachtet, hat Lukas eine Studie vorgelegt, die sich auf einem beachtlichen Niveau mit Arthur Schnitzler und seiner Epoche auseinandersetzt. Das im Ansatz schlichte, in den Details sehr komplexe Strukturmodell ist überzeugend herauspräpariert, und die Verdienste von Lukas' Modellbildung für die "denkgeschichtliche" Einordnung und das Verständnis der spezifischen "Erzählweise" Schnitzlers sind offensichtlich. Abgesehen davon, daß Lukas die oft unterschätzte, hochartifizielle Kompositionsweise Schnitzlers eindrucksvoll belegt, wird so z.B. sehr schön deutlich, daß Schnitzlers Werk dem Lehrgebäude der Freudschen Psychoanalyse in keiner Weise verpflichtet ist, gleichwohl aber auf der Tiefenebene der "Denkstrukturen" zahlreiche Gemeinsamkeiten bestehen, die für das "lebensideologisch" geprägte Denken der Epoche insgesamt typisch sind.

Die Arbeit von Lukas fordert allerdings auch einige Einwände heraus. Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob die besondere Qualität vieler Kunstwerke nicht gerade darin besteht, zeittypische Denkstrukturen auf spezifische Weise zu funktionalisieren und das "kulturelle Wissen der Zeit" zu überschreiten. An einem Beispiel verdeutlicht: Der grüne Kakadu nimmt gewiß den auch bei Schnitzlers Zeitgenossen Vaihinger, Th. Lessing u.a. reflektierten Gedanken auf, daß, "was bloße Fiktion ist, dennoch praktische Relevanz besitzen kann" (S. 258); er läßt sich aber schon deshalb nicht einfach als "literarisches Parallelunternehmen" (S. 258) erklären, weil Schnitzlers "Groteske" - anders als etwa die theoretischen Modelle von Vaihinger und Th. Lessing - diesen Gedanken nutzt, um in einer über seine Epoche hinausweisenden Radikalität eine Art monströses Sinnbild für die Absurdität des menschlichen Daseins zu gestalten. Was den Ansatz des Schriftstellers Schnitzlers von den "theoretischen Diskursen" seiner Zeit unterscheidet, wird von Lukas jedoch ebensowenig angesprochen wie Schnitzlers besonderer Ort im durchaus vielstimmigen Kanon der zeitgenössischen Literatur.

Weiterhin drängt sich der Eindruck auf, daß Lukas zugunsten der abstrakten Modellbildung im Einzelfall doch sehr vereinfacht. Apodiktische Urteile, wie etwa die Behauptung, daß die als historische Gegenposition zu Schnitzler und seiner Zeit verstandene "Personenkonzeption" des "Realismus" (ohne nähere Spezifizierung schon an und für sich ein problematischer Begriff) das Subjekt auf die "'soziale Person' und das Bewußte" (S. 121) beschränke, sind in dieser Form wohl nicht haltbar und bedürften zumindest einer genaueren Erläuterung. Auch bei der ausschnittsweisen Behandlung einzelner Werke Schnitzlers verstellt zuweilen ein sozusagen systembedingter Hang zum Schematismus den Blick. Im Fall der wiederholt als ein typisches Beispiel für das "3-Phasen-Modell" angeführten Traumnovelle etwa arbeitet Lukas die symmetrische Struktur der Erzählung in vielen Punkten sehr gut heraus, läßt sich von der Bedeutung dieser Symmetrien aber blenden, wenn er z.B. behauptet, daß die Ehekrise von Fridolin und Albertine bloß das "Produkt einer sprachlichen Setzung" (S. 229) sei, und nicht Albertines Geständnisse zu Anfang der Erzählung 12, sondern die Begegnung mit einem toten Patienten (die Lukas in einer Äquivalenz- und Kontrastbeziehung zu Fridolins Begegnung mit der toten Frau am Ende der Erzählung sieht) Fridolins "Wunsch nach einem emphatischen 'Leben'" (S. 179) auslöse. In solchen Ungenauigkeiten macht sich denn doch negativ bemerkbar, daß Lukas auch den Einzelfall nur als Typ und kein einziges Werk im Zusammenhang betrachtet.

Daß die von Schnitzlers Werk "unermüdlich propagierten neuen Normen und Werte" (S. 141) - wie Lukas behauptet - noch nicht rekonstruiert worden wären, ist ebenfalls nicht richtig. Zumindest an diesem Punkt hätte eine bessere Einarbeitung des in dieser und in medizingeschichtlicher Hinsicht einschlägigen großen Schnitzler-Kapitels in Horst Thomés umfassendem, bereits 1993 veröffentlichten Buch Autonomes Ich und 'Inneres Ausland'. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848-1914) erfolgen müssen (ein Buch, dessen Bedeutung Lukas überhaupt vernachlässigt - was sich auch darin zeigt, daß er es unverständlicherweise nur in einer obskuren Manuskriptfassung von 1986 zitiert).

Ein letzter Einwand betrifft die Auswahl der von Lukas untersuchten Texte. Lukas behandelt Leutnant Gustl und Therese nur ganz am Rande und klammert Der Weg ins Freie, den Anatol-Zyklus und den Reigen ohne Begründung aus seinem Korpus aus. Da Lukas nun aber gerade eine für das Gesamtwerk gültige Modellbildung beansprucht, hätte er auch diese doch zweifellos zu den Hauptwerken Schnitzlers zählenden Texte berücksichtigen und ihr z.T. deutlich abweichendes "narratives Modell" zu den Ergebnissen seiner Untersuchung zumindest ins Verhältnis setzen müssen.

"Wir sind so rasch mit dem Systemisieren bei der Hand: wir bringen aber eigentlich viel öfter Ordnung in unsere Gedanken als in die Sachen." So hat Schnitzler selbst einmal in einer Rezension geschrieben. 13 Sein skeptischer Satz berührt wohl auch ein zentrales Problem der im Ansatz so verdienstvollen Arbeit von Lukas.


PD Dr. Michael Scheffel
Universität Göttingen
Seminar für Deutsche Philologie
Humboldtallee 13
D-37073 Göttingen

Preprint der im Internationalen Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) erscheinenden Druckfassung. Ins Netz gestellt am 12.1.1999.

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Anmerkungen

1 Lukas versteht darunter die "epistemologischen Basisannahmen" und die "allgemeinen Prämissen des Denk- und Wissenssystems der Epoche" (S. 13).    zurück

2 Lukas zitiert Michel Foucault: L'Archéologie du savoir. Paris 1969, S. 81ff.    zurück

3 Diesen Epochenbegriff und die entsprechende Periodisierung übernimmt Lukas von Marianne Wünsch: Das Modell der 'Wiedergeburt' zu 'neuem Leben' in erzählender Literatur 1890-1930. In: K. Richter u. J. Schönert (Hg.): Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß. Festschrift für W. Müller- Seidel zum 60. Geburtstag. Stuttgart 1983, S. 379-407.    zurück

4 Die These, daß ein "lebensideologisches Denken" das "Basismerkmal" der "Frühen Moderne" darstellt, bezieht Lukas von Martin Lindner: 'Krise' und 'Leben'. Die intellektuelle Mentalität der 'Frühen Moderne' und die Zeitromane der 'Neuen Sachlichkeit'. Mit einer Fallstudie anhand von Arnolt Bronnen, Ernst Glaeser, Ernst von Salomon, Ernst Erich Noth. Diss. Masch. München 1991.    zurück

5 Lukas bezieht sich hier u.a. auf Jurij M. Lotmann: Die Struktur des künsterischen Textes. München 1973, S. 315-424.    zurück

6 Lukas zitiert Georg Simmel: Der Konflikt der modernen Kultur. Ein Vortrag. München u. Leipzig 1918, S. 37.    zurück

7 Vgl. dazu Lukas, S. 77: "Die lebensideologische Perspektive nimmt also eine Umkodierung vor: Das bislang Fremde erscheint als Eigenes, das bislang Eigene als Fremdes."    zurück

8 Lukas legt hier den "Ereignis"-Begriff Lotmanns zugrunde. Vgl. Lotmann: Die Struktur, S. 347-358.    zurück

9 Den Begriff des "Lebenswechsels" entnimmt Lukas von Wünsch: Das Modell.    zurück

10 Vgl. dazu die Belege bei Lukas, S. 258.    zurück

11 Zu den entsprechenden philosophischen Modellen u.a. bei Vaihinger und Simmel vgl. ebd.    zurück

12 Zur besonderen Bedeutung dieses Anfangs vgl. zuletzt M. Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. Tübingen 1997, S. 175-196 (bes. S. 183ff.).    zurück

13 Vgl. Schnitzlers Rezension zu Cesare Lombroso: Der geniale Mensch. In: Internationale Klinische Rundschau. 5, 1891, Sp. 21-24, hier zit.: Sp. 22.    zurück