Michael Scheffel
Wolfgang Lukas: Das Selbst und das Fremde. Epochale Lebenskrisen und ihre
Lösung im Werk Arthur Schnitzlers. Münchner Germanistische Beiträge
41). München: Wilhelm Fink Verlag 1996. 309 S. Kart. DM 78,-.
In seiner Münchner Dissertation erprobt Wolfgang Lukas
einen neuen Zugang zu dem umfangreichen und vielseitigen literarischen Werk Arthur
Schnitzlers, indem er eine besondere Form von strukturaler Textanalyse mit der
Rekonstruktion der spezifischen "Denkstrukturen" der Epoche 1 verbindet. Dabei setzt sich Lukas im wesentlichen zwei Ziele: Zum einen
möchte er mit Hilfe einer "auf genauer Textinterpretation basierende(n)
konsequenten Modellbildung über die Text- und Gattungsgrenzen hinweg" zeigen,
daß es in Schnitzlers Werken jenseits einer "Oberfläche der scheinbaren
Selbstverständlichkeit und Unstrukturiertheit eine 'Tiefenebene' der Strukturierung in
einem von der Forschung bislang ungeahnten maximalen Ausmaß" gibt (S. 12). Zum anderen möchte er die "besondere
Geschichtlichkeit" dieser als exemplarisch ermittelten "Strukturierung"
belegen und Schnitzlers literarisches Werk mit den Mitteln einer
"historischen Diskursanalyse auf dem von Foucault so genannten 'niveau
préconceptuel'" 2 (S. 13) in den "denkgeschichtlichen
Kontext" (S. 12) der für den Zeitraum zwischen 1890 und 1930 angesetzten
"Frühen Moderne" 3 einordnen. Von seinem Ansatz verspricht sich Lukas neben einem weiteren Beleg
für die "Einheitlichkeit" einer durch das "lebensideologische
Denken" 4 geprägten Epoche in erster Linie die
Möglichkeit einer schärferen Profilierung sowohl des Gesamtwerks von Schnitzler
als auch der Struktur seiner einzelnen Texte.
Um zunächst einmal die Grundlagen für den Entwurf eines Strukturmodells zu
gewinnen, nutzt Lukas die Beobachtung, daß sich in einem "Großteil"
von Schnitzlers Werken so etwas wie eine "ideologische Zweiteilung" nachweisen
läßt. Im Sinne einer solchen "Zweiteilung" kommt es, so Lukas, in
einem ersten Teil sowohl von Prosa- als auch Dramentexten "zum Ausbruch einer
fundamentalen Sinnkrise des Subjekts", die verbunden ist mit dem "optimistischen
Aufbruch zu einem alternativen Leben", dem "Entwurf einer neuen expliziten
Individualpsychologie, einer neuen Konzeption der 'Person' und einer neuen Moral". Auf
diesen "Aufbruch" folgt, so Lukas weiter, "in einem zweiten Teil ein
neuerlicher Prozeß, der wiederum zumeist eine Krise und Bewußtwerdung"
einschließt, diesmal jedoch "im Zeichen einer umfassenden
Desillusionierung" steht (S. 15). Aus dieser Beobachtung leitet Lukas die Hypothese
eines "narrativen 3-Phasen-Modells" ab: "Die erste 'Hälfte'
erzählt den Übergang von einer Ausgangsphase A in die Zwischenphase B, die
zweite den Übergang von letzterer in die Zielphase C." Beide
Übergänge, so vermutet Lukas, stellen "Tiefen-Ereignisse" dar, die
auf der "Textoberfläche" verschieden realisiert sein können und die
sich jeweils als eine "logisch-semantische Operation der Substitution bzw.
Hierarchisierung/Überlagerung" rekonstruieren lassen (S. 15). Im einzelnen, so
Lukas weiter, ist diese "Grundstruktur einer zweimaligen Substitution so zu verstehen,
daß hier in einem ersten "Tiefenereignis E1" eine "Art 'Basiskode der
dargestellten Welt'" etabliert wird, während das "zweite Ereignis E2"
diesen "Basiskode" auf "höherer Ebene" wieder
"auflöst" (S. 15). "So verschiedengestaltig sie auf der
Oberfläche sein mögen", so die "Generalthese" von Lukas,
"nahezu alle Texte, ob Frühwerk oder Spätwerk, ob Drama oder
Erzählung, 'erzählen' (...) auf dieser abstrakten Ebene dasselbe" (S. 15).
In der folgenden Untersuchung geht Lukas nicht Werk für Werk, sondern nach
systematischen Kriterien vor. Auf der Basis eines umfangreichen, Dramen und
Erzähltexte einschließenden Korpus konkretisiert er das skizzierte "3-
Phasen-Modell" sozusagen in idealtypischer Gestalt, indem er in zwei getrennten, jeweils
umfangreichen Teilen zunächst die "Konstitution" und dann die
"Auflösung des Basiskodes" rekonstruiert. Dabei unterscheidet Lukas im
einzelnen noch zwischen zwei Werkphasen, nämlich einer kurzen, bis ca. 1897/98
dauernden "präpsychologisch-'naturalistischen'" Frühphase und einer
langen, mit Das Vermächtnis (1898) und Die Frau des Weisen (1897) einsetzenden
"psychologisch-lebensideologischen Phase". Nach Lukas erfolgt mit dieser zweiten
Phase allerdings kein Bruch, sondern Schnitzler radikalisiert hier ein Modell, das er schon in
seinen frühen, scheinbar "naturalistisch" geprägten Werken erprobte.
Das Strukturmodell, das Lukas in den beiden Hauptteilen seiner Arbeit in überaus
detaillierter Form ausarbeitet, läßt sich hier naturgemäß nur stark
vereinfacht darstellen. Von elementarer Bedeutung für den im
Sinne eines spezifischen "Kultur-Modells" 5 verstandenen
"Basiskode" der Texte ist nach Lukas ein Gegensatz, der als
"Kategorisierung der dargestellten Welt in die zwei disjunkten Welten und Wert- und
Verhaltenssysteme SA und SB" (S. 22) verstanden und mit der Opposition
"'bürgerliche Normalität' vs. 'Abweichung'" bezeichnet werden kann.
Diese "Basisopposition der dargestellten Welt" (S. 21ff.) konkretisiert sich in einer
Reihe von Gegensätzen wie "'Jugend' vs. 'Alter'" (S. 29f.), "'Natur' vs.
'Kultur'" (S. 31ff.), "'Leben' vs. 'Nicht-Leben'" (S. 36ff.) sowie einer
"Kategorisierung der Figuren in die zwei disjunkten Klassen"
"Normalbürger" (sogenannte A-Figuren) und "vom bürgerlichen
Lebensmodell Abweichende" (sogenannte B-Figuren) (S. 22ff.). Im Gegensatz zu den
"A-Figuren" bewegen sich die "B-Figuren" in einem "Wert- und
Verhaltenssystem", das u.a. mit den Qualitäten "Jugend",
"Natur" und "Leben" assoziiert ist; den einfachsten Fall solcher
"B-Figuren" stellen nach Lukas "Künstler, 'Magier-Psychotherapeuten'
und Abenteurer" (S. 24) dar, die "nicht seßhaft" (S. 25) sind und deren
"normverletzende Erotik" "zumindest" die Merkmale "der nicht-
ehelichen Beziehung und des häufigen Partnerwechsels" (S. 27) bezeichnen
(idealtypisch realisiert z.B. in der Figur des Casanova, des Paracelsus und des Cassian). Der
zeittypischen "Doppel-Ich-Theorie" (S. 51) entsprechend, die Lukas für die
"Personenkonzeption" (S. 45ff.) in verschiedenen theoretischen Diskursen der
Epoche wie etwa dem der Psychopathologie und der Lebensphilosophie nachweist, kann sich
nun allerdings sowohl die Spannung zwischen zwei gegensätzlichen Personentypen als
auch die zwischen zwei "Wert- und Verhaltenssystemen" mit ein und derselben
Person verbinden. Mit anderen Worten: "In jeder A-Figur schlummert also latent
angelegt eine B-Figur" (S. 47).
Der ermittelte "Basiskode" ist nach Lukas "Ausdruck einer Krise des
Systems wie auch einer Sinnkrise des Subjekts". Im Rahmen des in der
bürgerlichen Gesellschaft "vorgegebenen kulturellen Wert- und
Normensystems" lassen sich weder eine mit "Glück",
"Sinn" und "Leben" assoziierte "Erotik" noch das
"Eigene" des Individuums realisieren (S. 64). Im
zeitgenössischen Denken entspricht dem ein "lebensideologisches
Strukurmodell" (S. 77), dem die tradierten sozialen Normen als kulturelle
"Formen" gelten, "gegen die das unmittelbare und echte Leben (...)
revoltiert" (Georg Simmel). 6 Der
"manifeste Ausbruch" der aus einer solchen "Umkodierung" 7 tradierter Werte resultierenden Krise konstituiert - und damit stellt Lukas
die Verbindung zwischen "Basiskode" und "narrativem 3-Phasen-
Modell" her - das "zentrale erste Ereignis der Texte" (S. 64).
Abstrahiert man von den
"Oberflächen-Ereignissen" in den jeweiligen Texten, so läßt sich
das allen Werken gemeinsame "semantisch-logische 'Tiefen-Ereignis' E1" 8 nach Lukas als eine Krise beschreiben, die in der "expliziten
Verbalisierung und Bewußtwerdung der Basisopposition zwischen beiden
Systemen/Welten" besteht und die auf ihrem Höhepunkt zu einem
"Lebenswechsel" 9 führt, demzufolge eine Phase des
"Nicht-Lebens" von einer Phase des "Lebens" abgelöst werden
soll (S. 65). Dieser "Lebenswechsel", der zugleich eine
"Normverletzung" bedeutet (S. 66), läßt sich
"raumsemantisch" als eine "Grenzüberschreitung" zwischen
zwei "Wert- und Verhaltenssystemen" definieren (S. 66), der in concreto ein
"Ortswechsel" in der äußeren Welt oder auch nur der Wechsel in einen
seelischen "Tiefenraum" entsprechen kann. "Opfer" der Krise sind in
erster Linie an der "oberen Schwelle der Jugend zum Alter" stehende Figuren, die
in der für das Selbstverständnis der Epoche "zentralen" "Krise
der Lebensmitte" stehen (S. 92) und in der Vergangenheit nicht gelebtes Leben
nachholen wollen; als Krisenauslöser kommen etwa die unmittelbare Konfrontation mit
dem Tod (wie z.B. in Leutnant Gustl, Sterben und Die letzten Masken) oder die unverhoffte
Begegnung mit einem Jugendfreund in Frage (wie z.B. Bertas Begegnung mit Emil in Frau
Berta Garlan), d.h. "Katalysatorereignisse" und/oder
"Katalysatorfiguren" (S. 97ff.), die auf verschiedene Weise mit einer
"fremden, anderen Welt korreliert sind" (S. 99).
Seinen ersten, umfangreichen Teil schließt Lukas mit einem Blick auf den
Epochenwechsel vom "Realismus" zur "Frühen Moderne". Er
setzt hier eine Homologie zwischen dem "Wert- und Verhaltenssystem SA" und
der "offiziell gültigen Moral und Personenkonzetion/Psychologie" des
"Realismus" an und formuliert die Hypothese, daß dem in der ersten
"Hälfte" von Schnitzlers Werken inszenierten Wechsel zwischen zwei
"Wert- und Normensystemen" auch ein allgemeiner Wandel entspricht: "Die
Schnitzlerschen Texte bilden mit der vorgenommenen Substitution eines gegebenen durch ein
alternatives oppositionelles Wert- und Normensystem also immer auch textintern den
literarhistorischen und denkgeschichtlichen Systemwandel ab, dessen Produkt sie selbst
zugleich sind" (S. 121).
Im zweiten, der "Auflösung des Basiskodes" gewidmeten Teil seiner
Arbeit, unterscheidet Lukas zunächst zwischen Werken, die einen
"Totalausstieg" (z.B. Die Hirtenflöte, Komödie der Verführung,
Frau Beate und ihr Sohn, Flucht in die Finsternis, Fräulein Else) und Werken, die -
unabhängig von einem "guten" oder "schlechten" Schluß -
eine Wiedereingliederung" in das Normensystem des "bürgerlichen
Lebens" gestalten (z.B. Freiwild, Das Vermächtnis, Traumnovelle, Frau Berta
Garlan) (S. 128). In diesem Zusammenhang stellt er fest, daß der Ausstieg ausnahmslos
mit einem psychischen Selbstverlust verbunden ist, während der Rückkehr in das
bürgerliche Leben eine Selbstfindung entspricht. Wenn also in der ersten
Texthälfte (im Übergang von der Phase A zu B) eine "Sinnstiftung"
im Zeichen eines Gegensatzes von Individuum und gesellschaftlicher Norm erfolgt, der
"Totalausstieg" aus der Gesellschaft jedoch notwendig den psychischen
Selbstverlust bedeutet, dann müssen Individuum und Gesellschaft, "Natur"
und "Kultur", "Psychologie" und "Moral" in der zweiten
"Hälfte" (im Übergang von B zu C) in einem zweiten Akt der
"Sinnstiftung" neu vermittelt werden (S. 129). Lukas versteht diesen Akt als eine
"Substitution" der ersten "Sinnstiftung" und betrachtet ihn als das
"hochrangigste Ereignis der Texte" (S. 129f.).
Auch die zweite, im Vergleich zu E1 sehr viel komplexere Substitution E2 versucht Lukas
auf einer abstrakten Ebene zu rekonstruieren. Die "Neumotivation der alten
Moral" (S. 139), die von den Texten am Ende entworfen wird, kommt demnach -
faßt man Lukas Ausführungen wiederum in groben Zügen zusammen -
dadurch zustande, daß an die Stelle der alten "kulturellen und moralischen
Grenze" eine neue "Grenze" tritt, die jenseits aller Konventionen einzig und
allein in der "psychischen 'Natur' des Subjekts" verankert ist (S. 139). Es ist also
die "ganz individuelle Psychologie des Subjekts, die an die Stelle der
überindividuellen Norm tritt und ihrerseits das neue 'Leben' scheitern
läßt" (S. 138). Nach Lukas überlebt das alte System demnach
"im paradoxen Modell seiner impliziten Selbstaufhebung" (S. 222), d.h. "erst
wenn den Normen jegliche Bedeutung, 'Norm' zu sein, genommen ist, erst wenn die Moral
völlig durch Psychologie substituiert worden ist, kann bzw. können sie wieder
befolgt werden." Mit dieser Lösung sieht Lukas denkgeschichtlich "die
Fortsetzung des Programms der zunehmenden Selbstkontrolle des bürgerlichen
Subjekts" verwirklicht (S. 222).
Was Lukas für die sogenannten "3-Phasen-
Texte" rekonstruierte, nämlich ein "Modell der psychischen Neuaneignung
der Moral über die Substitution einer kulturellen Grenze durch eine psychische
'Naturgrenze", betrachtet er schließlich als "Spezialfall" eines Modells,
das sich auch in all den Werken verwirklicht findet, die nach dem - ebenfalls auf
lebensideologischen Prämissen basierenden 10 - Muster der
"sich selbst erfüllenden Prophezeiung" (S. 232) funktionieren (im Sinne der
Todesweissagung z.B. Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg, Die Weissagung,
Abenteurernovelle, Der einsame Weg; im Sinne der Vorhersage sexueller Untreue z.B.
Alkandis Lied, Der Ehrentag, Der Schleier der Beatrice). Hier wie
dort, so die These von Lukas, wird das "Problem der Realitätskonstitution"
als das "zentrale Thema der Texte" im "zyklischen Modell der
Neumotivierung einer vorgegebenen Realität" "narrativ entfaltet" (S.
238), wobei Schnitzler - wie Lukas u.a. am Beispiel des Grünen Kakadu verdeutlicht -
wiederholt die an und für sich paradoxe "Gleichzeitigkeit" von
"Dissoziation und Koinzidenz" der "zwei Realitätsebenen des
Gedachten und Realen" (S. 257) inszeniert. 11 Das
"heimliche Bedürfnis" nach einem höheren "Sinn"
verschwindet angesichts der mit dieser Paradoxie verbundenen Unmöglichkeit der
Erkenntnis irgendeiner Form von allgemeingültiger "Wahrheit" allerdings
nicht. "Sinn gründet nun", so lautet das Fazit von Lukas, "zum einen
in der Immanenz des Lebens und seiner Kontingenz, zum anderen im Subjekt und seiner ganz
individuellen Psychologie - beide Größen, das 'Leben' und die Psyche des Subjekts,
werden damit ihrerseits Träger einer neuen, impliziten Metaphysik" (S. 288).
Alles in allem betrachtet, hat Lukas eine Studie vorgelegt, die sich auf einem beachtlichen
Niveau mit Arthur Schnitzler und seiner Epoche auseinandersetzt. Das im Ansatz schlichte, in
den Details sehr komplexe Strukturmodell ist überzeugend herauspräpariert, und
die Verdienste von Lukas' Modellbildung für die "denkgeschichtliche"
Einordnung und das Verständnis der spezifischen "Erzählweise"
Schnitzlers sind offensichtlich. Abgesehen davon, daß Lukas die oft unterschätzte,
hochartifizielle Kompositionsweise Schnitzlers eindrucksvoll belegt, wird so z.B. sehr
schön deutlich, daß Schnitzlers Werk dem Lehrgebäude der Freudschen
Psychoanalyse in keiner Weise verpflichtet ist, gleichwohl aber auf der Tiefenebene der
"Denkstrukturen" zahlreiche Gemeinsamkeiten bestehen, die für das
"lebensideologisch" geprägte Denken der Epoche insgesamt typisch
sind.
Die Arbeit von Lukas fordert allerdings auch einige Einwände heraus.
Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob die besondere Qualität vieler Kunstwerke
nicht gerade darin besteht, zeittypische Denkstrukturen auf spezifische Weise zu
funktionalisieren und das "kulturelle Wissen der Zeit" zu überschreiten. An
einem Beispiel verdeutlicht: Der grüne Kakadu nimmt gewiß den auch bei
Schnitzlers Zeitgenossen Vaihinger, Th. Lessing u.a. reflektierten Gedanken auf, daß,
"was bloße Fiktion ist, dennoch praktische Relevanz besitzen kann" (S. 258);
er läßt sich aber schon deshalb nicht einfach als "literarisches
Parallelunternehmen" (S. 258) erklären, weil Schnitzlers "Groteske" -
anders als etwa die theoretischen Modelle von Vaihinger und Th. Lessing - diesen Gedanken
nutzt, um in einer über seine Epoche hinausweisenden Radikalität eine Art
monströses Sinnbild für die Absurdität des menschlichen Daseins zu
gestalten. Was den Ansatz des Schriftstellers Schnitzlers von den "theoretischen
Diskursen" seiner Zeit unterscheidet, wird von Lukas jedoch ebensowenig angesprochen
wie Schnitzlers besonderer Ort im durchaus vielstimmigen Kanon der zeitgenössischen
Literatur.
Weiterhin drängt sich der Eindruck auf, daß Lukas zugunsten der abstrakten
Modellbildung im Einzelfall doch sehr vereinfacht. Apodiktische Urteile, wie etwa die
Behauptung, daß die als historische Gegenposition zu Schnitzler und seiner Zeit
verstandene "Personenkonzeption" des "Realismus" (ohne
nähere Spezifizierung schon an und für sich ein problematischer Begriff) das
Subjekt auf die "'soziale Person' und das Bewußte" (S. 121)
beschränke, sind in dieser Form wohl nicht haltbar und bedürften zumindest einer
genaueren Erläuterung. Auch bei der ausschnittsweisen Behandlung einzelner Werke
Schnitzlers verstellt zuweilen ein sozusagen systembedingter Hang zum Schematismus den
Blick. Im Fall der wiederholt als ein typisches Beispiel für das
"3-Phasen-Modell" angeführten Traumnovelle etwa arbeitet Lukas die
symmetrische Struktur der Erzählung in vielen Punkten sehr gut heraus, läßt
sich von der Bedeutung dieser Symmetrien aber blenden, wenn er z.B. behauptet, daß die
Ehekrise von Fridolin und Albertine bloß das "Produkt einer sprachlichen
Setzung" (S. 229) sei, und nicht Albertines Geständnisse zu Anfang der
Erzählung 12, sondern die Begegnung mit einem toten Patienten
(die Lukas in einer Äquivalenz- und Kontrastbeziehung zu Fridolins Begegnung mit der
toten Frau am Ende der Erzählung sieht) Fridolins "Wunsch nach einem
emphatischen 'Leben'" (S. 179) auslöse. In solchen Ungenauigkeiten macht sich
denn doch negativ bemerkbar, daß Lukas auch den Einzelfall nur als Typ und kein
einziges Werk im Zusammenhang betrachtet.
Daß die von Schnitzlers Werk "unermüdlich propagierten neuen Normen
und Werte" (S. 141) - wie Lukas behauptet - noch nicht rekonstruiert worden
wären, ist ebenfalls nicht richtig. Zumindest an diesem Punkt hätte eine bessere
Einarbeitung des in dieser und in medizingeschichtlicher Hinsicht einschlägigen
großen Schnitzler-Kapitels in Horst Thomés umfassendem, bereits 1993
veröffentlichten Buch Autonomes Ich und 'Inneres Ausland'. Studien über
Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848-1914)
erfolgen müssen (ein Buch, dessen Bedeutung Lukas überhaupt
vernachlässigt - was sich auch darin zeigt, daß er es unverständlicherweise
nur in einer obskuren Manuskriptfassung von 1986 zitiert).
Ein letzter Einwand betrifft die Auswahl der von Lukas untersuchten Texte. Lukas
behandelt Leutnant Gustl und Therese nur ganz am Rande und klammert Der Weg ins Freie,
den Anatol-Zyklus und den Reigen ohne Begründung aus seinem Korpus aus. Da Lukas
nun aber gerade eine für das Gesamtwerk gültige Modellbildung beansprucht,
hätte er auch diese doch zweifellos zu den Hauptwerken Schnitzlers zählenden
Texte berücksichtigen und ihr z.T. deutlich abweichendes "narratives
Modell" zu den Ergebnissen seiner Untersuchung zumindest ins Verhältnis setzen
müssen.
"Wir sind so rasch mit dem Systemisieren bei der Hand: wir bringen aber eigentlich
viel öfter Ordnung in unsere Gedanken als in die Sachen." So hat Schnitzler selbst einmal in einer Rezension geschrieben. 13 Sein skeptischer Satz berührt wohl auch ein zentrales Problem
der im Ansatz so verdienstvollen Arbeit von Lukas.
PD Dr. Michael Scheffel
Universität Göttingen
Seminar für Deutsche Philologie
Humboldtallee 13
D-37073 Göttingen
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