Platons Literaturheorie - Ideenlehre, Mimesis und Enthusiasmus
- Stefan Büttner: Die Literaturtheorie bei Platon und ihre
anthropologische Begründung. Tübingen, Basel: Francke 2000. XIII + 408 S. Kart. DM 98,-.
ISBN 3-7720-2754-7
Einführung und Gliederung
Stefan Büttner stellt Platons
Literaturtheorie in systematischem Zusammenhang mit souveräner
Kenntnis der Originaltexte vor und kann überzeugend nachweisen,
dass Platons Haltung zur Literatur in sich konsistent und
keineswegs von der angeblich widersprüchlichen Diskrepanz
zwischen ausschließlich negativ bewerteter Mimesis und
positiv gewertetem dichterischem Enthusiasmus geprägt
ist.1 Der Autor sammelt mit akribischer
Sorgfalt wichtige Stellen, an denen sich Platon zur Literatur
äußert, wobei er die platonischen Dialoge nicht aus
hermeneutisch letztlich inadäquaten Perspektiven analysiert,
sondern seine Interpretationskriterien aus den Texten selbst
entwickelt. So begrüßenswert eine derartige solide philologische
Interpretation der platonischen Texte hinsichtlich ihrer
literaturtheoretischen Passagen auch ist, so liegt doch in der
rein textimmanenten Betrachtungsweise und der methodischen
Beschränkung auf "hermeneutische Redlichkeit" auch
eine der Schwächen des Buches.
Büttners Darstellung besteht im Wesentlichen aus drei großen
thematischen Blöcken, die ich der Reihe nach vorstellen möchte,
bevor ich eine Kritik anschließe und meinen Gesamteindruck in
einem Fazit zusammenfasse:
- Platons Anthropologie bzw. Psychologie
- Platons Haltung zur Literatur (abgesehen vom Phänomen des
Enthusiasmus)
- Enthusiasmus bei Platon
- Kritik
- Fazit
1. Platons Anthropologie bzw. Psychologie
Im ersten Themenblock
entwickelt Stefan Büttner die platonische Seelenlehre, die er zu
Recht als unverzichtbar für das Verständnis von Platons Haltung
zur Literatur ansieht.2 Dieser erste
Darstellungsteil ist etwas irreführend mit "Platons
Anthropologie" überschrieben, während genau genommen
Platons Psychologie behandelt wird.3 Büttners
Wahl der Überschrift ist dadurch zu rechtfertigen, dass für
Platon die Seele der wichtigste und hierarchisch höchste Teil
des Menschen ist, der ihn eigentlich erst zum Menschen macht, so
dass Platons Psychologie in der Tat auch das Kernstück seiner
Anthropologie bildet.
Dreiteilung der Seele
Nach Platon hat die Seele drei Teile, nämlich das
Epithymetikon, das Thymoeides und das
Logistikon, wobei das Logistikon den Bereich der
Vernunft und das Epithymetikon zusammen mit dem
Thymoeides den Bereich des Nichtvernünftigen, das
Alogiston, ausmacht. Büttner zeigt nun auf, dass den drei
platonischen Seelenteilen nicht die drei isolierten
Seelenvermögen Gefühl (von Lust bzw. Unlust),
Wollen und Erkennen zugeordnet werden können, sondern dass
vielmehr jedem Seelenteil jedes der drei Vermögen in
unterschiedlicher Ausprägung zukommt.4
Die spezifische Erkenntnisweise des Epithymetikon ist
die Wahrnehmung, seine Lust ist die mit den Wahrnehmungen
verbundene körperliche Lust und sein Wollen bzw. Streben richtet
sich auf das Erreichen eben dieser Lust. Die Erkenntnisweise des
Thymoeides ist die Bildung einer Meinung, mit der eine
konkrete Situation erfasst und bewertet wird, sein erstrebtes
Ziel liegt darin, diese Situation als angemessen und gerecht
bewerten zu können, und bei Erreichen dieses Zustandes stellt
sich seine spezifische Lust ein. Die Erkenntnisweise des
Logistikon ist das Denken, das die Erkenntnis der ewigen
Wahrheit des Seins anstrebt, und seine Lust ist die mit dem
erreichten Wissen verbundene geistige Lust.
Da nun alle drei Seelenteile ein je eigenes emotionales,
voluntatives und kognitives Vermögen aufweisen, können sie gemäß
Platons systematischem Entwurf, den Büttner über eine Reihe
einschlägiger Dialoge hin bis ins Spätwerk verfolgt, weder den
drei getrennten Seelenvermögen der Bewusstseinsphilosophie noch
Freudschen Seelenbeschreibungskategorien entsprechen, obwohl
derartige Zuordnungen in der Platonforschung vorgenommen wurden.
Büttner weist die Schwachstellen und Inkonsistenzen derartiger
Interpretationsversuche detailliert auf und verfolgt, ausgehend
vom 20. Jahrhundert, die Herkunft der psychologischen bzw.
philosophischen Zwei- bzw. Dreivermögenlehre
über Kant, Mendelssohn, Tetens, Sulzer, Baumgarten, Wolff
und Leibniz zurück bis hin zu Descartes'
Bewusstseinsphilosophie.5
Erkennen als Unterscheidungsakt der Seele
Nun ist aber für Platon das Bewusstsein nicht die für die
Erkenntnisleistung entscheidende Instanz; Erkennen ist für
Platon nicht "Bewusstsein von etwas haben", sondern
ein aktives Unterscheiden in der Seele. Da jeder der drei
Seelenteile ein eigenes Erkenntnisvermögen hat, kann bereits die
Wahrnehmung als Erkenntnisart des untersten Seelenteils, des
Epithymetikon, nach Platon keine rein passive Rezeption
sein, sondern auch sie gründet auf einem aktiven
Unterscheidungsakt der Seele. Dies gilt für die Meinungsbildung
des Thymoeides und das Denken des Logistikon in
sogar noch ausgeprägterem Maße, da diese Erkenntnishaltungen
weniger als die des Epithymetikon an den Körper und
dessen Sinne gebunden sind und sich somit durch Vorstellungen
und Erwartungen von momentanen Eindrücken lösen können.
Daraus folgt zum einen, dass es bei Platon keine radikale
Trennung der Seele in die Opposition von rational
kontrollierter, emotionsloser und bewusster Vernunft und
unbewusstem, intuitiv gefühlsmäßigem und irrationalem Affekt
gibt, wie sie manche neuzeitlichen Seelenmodelle vertreten. Zum
anderen kann der sinnliche Bereich der Wahrnehmung im Vergleich
zur angeblichen rationalen Abstraktheit keinesfalls der
inhaltsreichere, ästhetisch gehaltvollere und für das Schöne
unmittelbar empfänglichere Bereich sein, als der er in
neuzeitlichen Kunsttheorien ausgewiesen wird, da das
Epithymetikon mit seiner Erkenntnisweise der Wahrnehmung
immer nur momentane körperliche Eindrücke bestimmter
Einzelinstanzen erfassen kann, die für Platon nur schwächere
Abbilder des wahren Seins sind.
Erkenntnisvermögen des Logistikons: Der Bereich der Ideen
In Platons Ontologie machen nämlich nicht die
erfahrungsweltlich gegebenen Instanzen das eigentliche Sein aus,
sondern der intelligible, d.h. der über den höheren Seelenteil
des Logistikon zugängliche Bereich der Ideen, der den
Einzelinstanzen ontologisch vorausgeht und sie als abgeleitete
Abbildungen erst ermöglicht. Wenn oben von aktiven
Unterscheidungen bei der menschlichen Erkenntnis die Rede war,
so ist die Ebene des Intelligiblen das göttliche Pendant als
Bereich unveränderlich gegebener, ewig seiender, mit sich selbst
stabil identischer und vollständig bestimmter Unterschiede,
denen sich durch aktive Unterscheidung geistig anzunähern Ziel
menschlichen Erkennens ist.
Wissen über die Intelligibilia ist nur über das Denken, also
das Erkenntnisvermögen des Logistikon, zu erreichen, das
sich zusammensetzt aus dem Intellekt (bei Platon Nous),
der als göttlicher Seelenbestandteil die ewig seienden
Identitäten göttlich gegebener Unterschiede, d.h. die Ideen, und
deren Zusammenhänge erkennen kann, und aus der Ratio (bei Platon
Dianoia), die dem Intellekt zwar untergeordnet ist,
dessen Erkenntnisse aber weiter analysieren, relationieren und
durch Schlüsse methodisch verallgemeinern kann. Daraus ergibt
sich erstens, dass das Denken ungleich reicher sein muss als die
Wahrnehmung, da es statt an nur momenthaft abbildenden Instanzen
der Ideen am Intelligiblen selbst Anteil hat, das ein
unendliches Entfaltungs- und Erkenntnispotential darstellt.
Zweitens muss es das erklärte Ziel sein, die Seelenteile mit
ihren partikulären Bestrebungen und Lüsten so zu harmonisieren
und zu hierarchisieren, dass das Logistikon als edelster
Teil die Spitze der Hierarchie einnimmt.
2. Platons Haltung zur Literatur
Stefan Büttner geht im zweiten Großteil
seiner Arbeit der platonischen Literaturtheorie nach, indem er
die relevanten Dialoge Politiea, Symposion, Phaidros,
Gorgias und Nomoi untersucht.6 Er
legt dabei überzeugend dar, dass Platons Bewertung von Literatur
in seinem gesamten Werk konsistent und mit seiner Psychologie
und Ontologie untrennbar verbunden ist.
Mimesis aus dem Bereich des Intelligiblen
Literatur ist für Platon grundsätzlich Mimesis, d.h.
die Herstellung eines in Ähnlichkeitsrelation zu seinem Vorbild
stehenden Abbildes bzw. einer anschaulichen, aber nachgeordneten
Repräsentation. Literatur soll einen größeren
Handlungszusammenhang darstellen, in dem zwischen den
Charakteren, deren Handlungen und dem daraus folgenden Schicksal
eine adäquate, also konsistente und plausible Korrelation
herrscht. Die Kriterien, wann literarisch mimetische Darstellung
als adäquat, konsistent und plausibel gilt, gewinnt Platon aus
seiner Ontologie und Psychologie.
Entscheidendes Kriterium für die Beurteilung von Literatur
ist nach Platon die Erkenntnishaltung des Schriftstellers. Das
Vorbild, nach dem er sein mimetisches Abbild gestaltet, soll dem
Bereich des wahren Seins der Ideen, d.h. des Intelligiblen
entstammen. Im besten Fall hat der Schriftsteller als Philosoph
durch das Logistikon seiner Seele darüber abgesichertes
Wissen gewonnen, das sein Intellekt als wahr erkannt hat und das
seine Ratio argumentativ begründen kann. Da der philosophische
Schriftsteller aber nicht die Ideen an sich darstellen kann, ist
es seine Aufgabe, das von ihm erkannte Intelligible in
sinnlichen Instanzen anschaulich wiederzugeben, d.h. er muss
durch Mimesis wahrnehmbare ähnliche Abbilder schaffen.
Durch Nachahmung zu einer höheren Erkenntnishaltung
Der Zweck dieser literarischen Werke liegt darin, durch
paradigmatische Nachahmungen, also durch sinnliche Instanzen
z.B. des Schönen, Gerechten und Guten, die Seele und den
Charakter der Rezipienten hin zu den dahinterstehenden
Vorbildern aus der Welt des Intelligiblen, also z.B. zum
Schönen, Gerechten und Guten an sich, positiv zu bilden und
somit eine höhere Erkenntnishaltung zu fördern, die zwischen
Nachahmung und Original, falscher Meinung und wahrer Erkenntnis
bzw. weltlich-sinnlichem Schein und göttlich-intelligiblem Sein
zu unterscheiden weiß. Dies dient für Platon nicht nur
"pädagogischen" Zwecken hinsichtlich der Einzelseele,
sondern auch politischen Zwecken in der staatlichen
Gemeinschaft, indem der Einzelne mit seiner hierarchisch
wohlgeordneten Seele einen Beitrag zum Aufbau einer ebenso
harmonischen und gerechten Staatsordnung leisten kann: Im
idealen Fall stellen sowohl die Seelen der Bürger als auch der
Gesamtstaat analoge Repräsentationen der intelligiblen Ordnung
der Ideen dar.
Diese Seele und Charakter prägende und damit auch
staatstragende Wirkung kann künstlerische literarische
Darstellung in besonderer Weise ausüben, da Platon der Literatur
mit ihren Gegenständen (Götter, Heroen, Menschen, ...),
Vortragsweisen (Bericht, direkte Rede, ...) und Mitteln
(Rhythmus, musikalische und mimisch-gestische Begleitung, ...)
einen direkten und sehr intensiven Zugang zur Seele
zuerkennt.
Positive und negative Mimesis
Wegen dieses hohen pädagogischen und politischen
Wirkungspotenzials und der Bindung an die adäquate Erkenntnis
ontologisch vorgegebener Inhalte akzeptiert Platon nur
Literatur, die den oben genannten Anforderungen genügt.
Literarische Darstellung ist dann adäquate und positive
Mimesis, wenn sie sich an den Ideen als Vorbildern
orientiert und z.B. darstellt, dass nur gerechte Handlungen für
den Menschen gut und nützlich sind, ungerechte dagegen schlecht
und schädlich, da nur mit einer richtig harmonisierten und
hierarchisierten und somit gerechten Seele ein glückliches Leben
korrelieren kann.
Literatur ist für Platon dagegen inakzeptabel, wenn sie ihre
Darstellung nicht am Intelligiblen orientiert, sondern die nur
vordergründige Empirie der sinnlichen Welt repräsentiert: Dies
ist schlechte Mimesis, da sie durch perspektivische
Verzerrung, Nichtwissen und Fehlerhaftigkeit bei den Rezipienten
falsche Meinungen, den Glauben an trügerischen Schein und die
Verwechslung von der Idee selbst und deren bloßer Repräsentation
fördert. Literatur, die in diesem Sinne nur die lebensweltliche
Wirklichkeit sklavisch abbildet und einfach das
sinnlich-empirisch Gegebene nachahmt fällt unter Platons
Verdikt.
Platons Literaturbewertung
Stefan Büttner führt den Nachweis, dass Platon also
keineswegs, wie in der Forschung oft fälschlich behauptet,
Literatur generell ablehnt, weil sie "nur" nachahmende
Mimesis sei, sondern dass er über sein Werk hin
einheitlich nach den oben genannten Kriterien unterscheidet,
welche Art von literarischer Darstellung aus pädagogischer und
politischer Sicht zu akzeptieren, ja wegen ihrer positiven
Wirkung sogar zu fordern und zu fördern ist, und welche
Literatur wegen ihrer depravierenden Wirkung abzulehnen ist.
Mit diesen differenzierenden Kriterien beurteilt Platon auch
die traditionelle Literatur. Die früheren griechischen Autoren,
wie z.B. Homer oder die Tragiker, haben nach ihm zwar kein
philosophisch abgesichertes Wissen über das Intelligible, äußern
darüber aber bisweilen richtige Meinungen. Hinsichtlich dieser
Meinungen haben sie zwar keine rationale Begründungsfähigkeit
wie die Philosophen, ihre zutreffenden Darstellungen lässt
Platon aber dennoch gelten, da sie positive Wirkungen bei den
Rezipienten auslösen können: Solange dies gewährleistet ist,
lässt Platon mimetische Darstellungen des Schönen und Guten an
sich auf allen Ebenen zu; die Werke oder Passagen derselben
Autoren, an denen dieses Ziel verfehlt wird, werden zensiert.
Literatur hat bei Platon also keinen autonomen Status,
sondern wird nach ontologischen, erkenntnistheoretischen und
psychologischen Maßgaben pädagogisch und politisch
funktionalisiert. Dass diese Mimesispoetik Platons trotz ihrer
ausgeprägten philosophischen Ausrichtung keine rein
rationalistische Regelpoetik sein kann, dürfte auf dem
Hintergrund der platonischen Seelenlehre (s.o. Punkt 1) klar
sein.
3. Enthusiasmus bei Platon
Im dritten großen Darstellungsteil stellt Stefan Büttner das
Problem des Enthusiasmus bei Platon v.a. im
Hinblick auf dessen Literaturtheorie vor.7
Auch hier kann er eine Reihe von bisherigen
Forschungsergebnissen berichtigen, indem er erstens nachweist,
dass der Enthusiasmus keine göttliche Inspiration eines
irrational-geistfreien und rein passiv rezipierenden Autors sein
kann. Diese in der Platonforschung vertretene Auffassung
scheitert nicht nur an den Textbelegen aus den Dialogen, sondern
auch an der zugrunde liegenden platonischen Psychologie, gemäß
der jeder Erkenntnisakt auch eine aktive Unterscheidungsleistung
der Seele impliziert, weshalb der Schriftsteller auch beim
Enthusiasmus nie völlig passiv sein kann. Zweitens widerlegt
Büttner gestützt auf zahlreiche Belege aus Platon, aber auch aus
Aristoteles die Auffassung, Platon habe mit seinen Äußerungen
zum Enthusiasmus das traditionelle Selbstverständnis der Autoren
ironisch als psychische Selbsttäuschung enttarnen und den
entsprechenden Volksglauben verspotten wollen.
Platon und Aristoteles erkennen den Enthusiasmus der Dichter
vielmehr als ernsthaftes Phänomen an und bestätigen den
entsprechenden Autoren, an den einschlägigen Stellen sachlich
richtige Aussagen getroffen zu haben. Nach Platon ist der
Enthusiasmus eine nichtrationale Leistung des suprarationalen
Intellekts (Nous; s.o. Punkt 1), der als göttlicher
Seelenteil häufig und erfolgreich durch sein aktives
Unterscheidungsvermögen die göttlich bestimmten Unterschiede im
intelligiblen Bereich erkennt. Diese
Erkenntnis ist wegen der göttlichen Korrespondenz zwar
richtig und kann wegen der hochrangigen Erkenntnisgegenstände
auch als göttlich bezeichnet werden8 , stellt
sich aber ohne Begründungsfähigkeit und Kontrolle der Ratio
(Dianoia; s.o. Punkt 1) ein, weshalb die Erkenntnisweise
des Enthusiasmus nur die Bildung und Formulierung einer
richtigen Meinung bezüglich des Intelligiblen im Einzelfall ist.
Nur der philosophisch gebildete Enthusiast kann seine im
Intellekt gewonnenen Erkenntnisse methodisch und rational
begründen und über Einzelfälle hinaus als allgemeines Wissen
generalisieren.
Diese Enthusiasmuslehre ist also, wie Büttner zeigt, keine
irrationalistische Ästhetik, die mit der angeblich
rationalistischen Poetik der Mimesistheorie im Widerspruch
steht, sondern sie ist sowohl mit Platons Anforderungen an
mimetische literarische Darstellung als auch mit seiner
umfassenden Seelenlehre kompatibel. Denn die vom Enthusiasten
richtig erkannten und literarisch wiedergegebenen Meinungen über
das wahre Sein stellen eine von Platon als positiv bewertete und
somit akzeptierte Art von Mimesis dar, die eine nützliche
Wirkung auf die Seele ausübt, indem sie sie vor falschen
Meinungen bewahrt und sie vielmehr zur richtigen Erkenntnis des
Intelligiblen führt.
4. Kritik
Wer sich für das behandelte Thema
interessiert, aber weder aus der Klassischen
Altertumswissenschaft kommt noch des Altgriechischen mächtig
ist, kann dennoch getrost zu dem Buch von Stefan Büttner
greifen, da der Autor alle wichtigen zitierten Originalstellen
in Übersetzung bietet und die griechischen Bezugstexte in gut
nachvollziehbarer, paraphrasierender Interpretation
erschließt.9
Büttner bietet seinen Lesern leider keinen Sach- oder
Personenindex, sondern bloß ein Register der von ihm
besprochenen antiken Textstellen, das allerdings nur für recht
spezielle Fragestellungen nützlich sein dürfte. Für dieses Manko
entschädigt zumindest zum Teil ein detailliertes und
aussagekräftiges Inhaltsverzeichnis.
Gute didaktische Führung
Die didaktische Führung des Lesers durch die Bearbeitung des
Themas ist durch zahlreiche Ankündigungen und Begründungen der
jeweils folgenden Schritte überaus gelungen. Dass am Ende
wesentlicher Untersuchungseinschnitte die (Zwischen-)Ergebnisse
jeweils durch ein prägnantes Fazit zusammengefasst werden, wirkt
nicht als störende Redundanz, sondern ermöglicht einen
komfortablen und raschen Zugriff auf knappe
Überblicksinformationen, ohne dass man zum Verständnis die
teilweise sehr weit ausholenden Einzelanalysen gelesen haben
müsste.
Umfassende Sammlung und Neuinterpretation - textimmanent und hermeneutisch
Büttners Verdienst liegt in einer umfassenden Sammlung und
Neuinterpretation von Platons Äusserungen zur Literatur, wobei
er Missverständnisse bisheriger Forschung argumentativ sauber
beseitigt und kohärente eigene Positionen entwickelt. Dabei geht
er rein textimmanent vor, wählt als einzige methodische
Perspektive die traditionelle Hermeneutik und setzt dadurch
seiner Behandlung des Themas leider engere Grenzen als nötig.
Dass Büttner mit hermeneutischer Sorgfalt den Voraussetzungen
der bisherigen Forschung nachgeht, er also, anders ausgedrückt,
beobachtet, wie Platon bisher beobachtet wurde, ist sicher
anerkennenswert. Dass er dabei aber den
unhintergehbaren Begleitumstand des eigenen blinden Flecks bei
der Durchführung von Beobachtungsoperationen nicht einmal in
Ansätzen problematisiert, sondern allein auf die Erkenntnis
fördernde Kraft einer teximmanenten Lektüre, die hermeneutisch
nicht anhand wirkungsgeschichtlich bedingter und inadäquater
Kriterien durchgeführt wird, vertraut, ist hinsichtlich des
mittlerweile erreichten Problembewusstseins etwas dürftig.10
Nicht behandelte Theoriediskussionen
Es macht auch stutzig, dass Büttner an
zwei Stellen11 Werke von Gerhard Roth, einem
konstruktivistisch ausgerichteten Hirnforscher, zitiert, um
gewissermaßen eine moderne hirnphysiologische Parallele zum
unauflöslichen Zusammenspiel von Fühlen, Wollen, Denken, wie es
auch nach Platon in den Seelenteilen gegeben ist, zu bieten. Die
konstruktivistischen Konsequenzen, die Roth aus seinen
Forschungsergebnissen zieht und die mit Platons Psychologie und
Metaphysik völlig inkompatibel sind, mit keinem Wort zu
erwähnen, den Autor Roth also in hochselektiver Weise
anzuführen, ist nicht nur gerade hermeneutisch sehr bedenklich,
sondern lässt vor allem die sicher reizvolle Chance ungenutzt,
in den beiden Ansätzen das Gemeinsame im Unterschiedlichen zu
beobachten. Und so gibt es noch eine Reihe weiterer
Anschlussmöglichkeiten an aktuelle Theoriediskussionen, die
Büttner nicht verfolgt:
- Eine für Büttners Ausführungen zentrale These ist, dass
nach Platon menschliches Erkennen aus zwei Komponenten besteht,
nämlich den aktiven Unterscheidungen in der Seele und den
göttlichen, mit sich selbst unveränderlich identischen und
vollständig bestimmten Unterschieden, den Ideen (s.o. Punkt 1).
Diese These ist rein deskriptiv betrachtet
für Platons Philosophie völlig zutreffend und entsprechend oft
kommt Büttner auch darauf zu sprechen12 , er
behandelt aber leider an keiner Stelle die Problematik
vorgegebener Identitäten aus heutiger Sicht.
Gemessen an der überragenden Relevanz dieses
Faktors in der platonischen Ontologie und damit auch Psychologie
und Literaturtheorie wäre hierzu eine eingehende Diskussion mit
Stellungnahme des Autors begrüßenswert, wenn nicht sogar
angebracht gewesen.13
- Jaques Derridas dekonstruktivistische
Kritik an Platons Metaphysik der Präsenz14 ,
die, wie oben gezeigt, auch Platons Haltung zur Literatur
entscheidend mitbestimmt, wird mit keiner Silbe erwähnt oder gar
kritisch diskutiert, was in einem weit ausgreifenden, etwa 400
Seiten starken Buch über Platon ja nicht eben abwegig gewesen
wäre.
- In Büttners gesamter Behandlung der
Mimesis-Problematik, in der es ja um die Herstellung von
Repräsentationen, die in Ähnlichkeitsrelation zu ihrem Original
stehen, geht, und die ein für Platons Haltung zur Literatur
wesentliches Element ist, fehlt genau die theoretische Disziplin
vollständig, in deren Zentrum die Reflexion über Repräsentation
und damit auch über die Bedingungen der Möglichkeiten von
Ähnlichkeit steht, nämlich die Semiotik. Büttner zitiert zwar
zustimmend mehrfach Arbeiten von Klaus Oehler, allerdings nur
welche zur antiken Philosophie, und übersieht dabei, dass ein
weiterer Forschungsschwerpunkt Oehlers die Zeichentheorie ist.
Gerade die Semiotik von Charles S. Peirce, die Klaus Oehler in einer Reihe
hervorragender Beiträge erschlossen hat15 ,
hätte einen wertvollen Beitrag zum mimetischen Problem von
Repräsentation und Ähnlichkeit leisten können.16
- So wenig Stefan Büttner auch den Kontakt zu aktuellen
Literaturtheorien sucht, deutet er doch an einigen Stellen an,
in der platonischen Literaturtheorie einen auch heute noch
relevanten, möglichen Ausweg aus der Opposition von Regelpoetik
und Genieästhetik bzw. Verstand und Gefühl
zu sehen.17 Mit diesen vagen Andeutungen wird
der Leser allerdings ziemlich allein gelassen, denn Büttner, der
ja selbst die enge Verbindung von Platons Literaturtheorie mit
dessen Ontologie und Psychologie herausarbeitet und betont,
sieht sich nicht veranlasst, näher auszuführen, welche Chancen
für eine metaphysisch fundierte und damit hierarchisch
monokontexturale Literaturtheorie er in der funktional
ausdifferenzierten, polyzentrischen und damit polykontexturalen
Gegenwartsgesellschaft überhaupt sieht. Abgesehen davon macht
Büttner auch nicht deutlich, wo er die oben genannte Opposition
heute denn so stark verwirklicht sieht, dass eine platonisch
inspirierte Literaturtheorie Abhilfe schaffen müsste.
Wirkungsmächtige neuere Ansätze wie Strukturalismus,
Literatursemiotik, Dekonstruktivismus, Intertextualitätstheorie
oder auch systemtheoretische Literaturwissenschaft inklusive des
Radikalen Konstruktivismus werden jedenfalls weder von dieser
noch von einer vergleichbaren Opposition dominiert.
5. Fazit
Stefan Büttners Analyse der platonischen Literaturtheorie ist
eine gediegene philologische Arbeit, die durch umfassende
Sammlung und eingehende Interpretation einschlägiger Stellen aus
Platons Dialogen zu weiterführenden Ergebnissen kommt und in
überzeugender Weise folgenreiche Fehlurteile bisheriger
Platonforschung berichtigt. Wenn der Autor den Strom der
Gelehrsamkeit an manchen Stellen etwas weniger breit hätte
fließen lassen und dafür eher Anschluss an zeitgenössische
literaturtheoretische Diskussionen gesucht hätte, hätte er sich
wohl eine größere Leserschaft auch außerhalb der Klassischen
Philologie erschließen können.
Werner Scheibmayr
Ins Netz gestellt am 27.11.2000.
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Anmerkungen
1 Büttner hat die wesentliche
altphilologische Literatur zum Thema eingearbeitet; nicht mehr
berücksichtigen konnte er wohl das 1999 erschienene Buch von
Michael Franz: Von Gorgias bis Lukrez. Antike Ästhetik und
Poetik als vergleichende Zeichentheorie. Berlin: Akademie Verlag
1999, der v.a. aus semiotischer Perspektive auch Platons
Positionen zu Literatur und Sprache beleuchtet; siehe dazu auch
Werner Scheibmayr (Rezension) in IASLonline. Ebenfalls nicht erfasst ist die knappe,
lesenswerte, v.a. sprachphilosophisch ausgerichtete
Platondarstellung von Manfred Kraus: Platon (428/7 - 348/7
v.Chr.). In: Tilman Borsche (Hg.): Klassiker der
Sprachphilosophie: von Platon bis Noam Chomsky. München: C.H.
Beck 1996, S. 15 - 32; Kraus behandelt auch kurz die skeptische
Haltung, die Platon in seinem Dialog Phaidros (hier v.a.
274c - 278b) und im wohl als echt anzusehenden Siebenten
Brief (hier v.a. 341a - 345c) zur Schrift und zur Sprache
insgesamt an den Tag legt. Diesem Problem widmet sich Büttner
leider nicht, obwohl sich gerade bei seinem Thema eine
medientheoretisch ausgerichtete Diskussion angeboten
hätte. zurück
2 Siehe hierzu Stefan Büttner: Die
Literaturtheorie bei Platon, S. 18 - 130. zurück
3 Dies erklärt auch, warum Büttners
Literaturverzeichnis (S. 384 - 396) keinen der ‚klassischen'
Autoren zur Anthropologie wie etwa Max Scheler, Nicolai
Hartmann, Arnold Gehlen, Adolf Portmann oder Claude Lévy-Strauss
aufweist, was man hinsichtlich des Werktitels zumindest auf den
ersten Blick höchst befremdlich finden mag; einen guten
Überblick über anthropologische Ansätze gibt aus nicht nur
pädagogischer Perspektive Bruno Hamann: Pädagogische
Anthropologie. Theorien - Modelle - Strukturen. Eine Einführung.
Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 31998. zurück
4 Ein hierfür wichtiger Originalbeleg ist
Platon, Politeia 580 d. zurück
5 Siehe hierzu Stefan Büttner: Die
Literaturtheorie bei Platon, S. 37 - 64. zurück
6 Siehe hierzu Stefan Büttner: Die
Literaturtheorie bei Platon, S. 131 - 254. zurück
7 Siehe hierzu Stefan Büttner: Die
Literaturtheorie bei Platon, S. 255 - 365. zurück
8 Der Nous wird auch als
"theion", also als etwas Göttliches (im
Menschen) bezeichnet; der "enthousiasmos", also
die göttliche Begeisterung, ist sowohl damit, als auch mit dem
Adjektiv "entheos", das später zu
"enthous" kontrahiert und wörtl. "der
Gottheit voll" bzw. "gottbegeistert" bedeutet,
etymologisch verwandt, so dass die von Platon postulierte
erkenntnistheoretische Nähe des Intellekts zu den Ideen als
seinen Erkenntnisobjekten sich auch sprachlich
widerspiegelt. zurück
9 Der Nachweis antiker Belege ist
altphilologisch völlig korrekt, allerdings dürften Leser, die
keine Klassischen Philologen sind, Schwierigkeiten bei der
Auflösung mancher Belege haben; so werden z.B. die platonischen
Dialoge Gesetze bzw. Staat, die im griechischen
Original Nomoi bzw. Politeia heißen, nach der
lateinischen Übersetzung abgekürzt mit "Lg" (für
Leges) bzw. mit "R" (für Res publica)
zitiert. zurück
10 Der Entfaltung seiner
methodisch-theoretischen Ausrichtung widmet Stefan Büttner: Die
Literaturtheorie bei Platon, S. 12f. etwa eine halbe (!) Seite;
zur Beobachterproblematik siehe den Sammelband Niklas Luhmann
u.a. (Hg.): Beobachter. Konvergenz der Erkenntnistheorien?
(Materialität der Zeichen, Reihe A, Band 3) München: W. Fink
1990 und Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp 21994, S. 68 - 121 (= Kap. 2:
"Beobachten").
zurück
11 Siehe Stefan Büttner: Die
Literaturtheorie bei Platon, S. 37, Anm. 64 und S. 38, Anm.
67. zurück
12 Siehe Stefan Büttner: Die
Literaturtheorie bei Platon, S. 15, 26f., 73, 87f., 268, 272,
282, 348, 361 u.ä. zurück
13 Zur Identitätsproblematik siehe z.B. den
schon älteren, aber thematisch weit gespannten Sammelband von
Odo Marquard / Karlheinz Stierle (Hg.): Identität. (Poetik und
Hermeneutik VIII) München: W. Fink 1979; für eine Kritik des
Identitätsbegriffs aus Sicht des Konstruktivismus, der
Differenz- und Systemtheorie siehe die Ausführungen von Niklas
Luhmann v.a. in: Niklas Luhmann: Identität - was oder wie? In:
N.L. (Hg.): Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische
Perspektiven. Opladen: Westdeutscher Verlag 1990, S. 14 - 30;
siehe auch Ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt
a.M.: Suhrkamp 2 1994 und Ders.: Die Gesellschaft der
Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. zurück
14 Siehe z.B. Jaques Derrida:
Grammatologie. Übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns
Zischler. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 4 1992, S. 53 - 77 (=
Abschnitt "Das Draußen und das Drinnen"), hier v.a. S.
61, 65f., 70. zurück
15 Siehe etwa als Einführung Klaus Oehler:
Charles Sanders Peirce. (Beck'sche Reihe, 523: Denker) München:
C.H. Beck 1993 oder auch den Sammelband Klaus Oehler: Sachen und
Zeichen. Zur Philosophie des Pragmatismus. Frankfurt a.M.: V.
Klostermann 1995. Für eine semiotische Untersuchung der
platonischen Ideenlehre, die Büttner mit Gewinn hätte
einarbeiten können, siehe auch Klaus Oehler: Platons Semiotik
als Inszenierung der Ideen. In: Rainer Enskat (Hg.): Amicus
Plato magis amica veritas. Festschrift für Wolfgang Wieland zum
65. Geburtstag. Berlin, New York: Walter de Gruyter 1998, S. 154
- 170. zurück
16 Für eine knappe Anwendung der
Peirceschen Semiotik auf Platons Begriff der (negativ
bewerteten) Mimesis siehe Werner Scheibmayr
(Rezension) zu
Michael Franz (Anm. 1), Punkt 3: "Der Stellenwert
fiktionaler Konstrukte", in: IASLonline; für eine kurze
systemtheoretisch-semiotische Diskussion des
Ähnlichkeitsbegriffs siehe Werner Scheibmayr: Semiotische
Bemerkungen zum Problemfeld "Kommunikation und
Bewußtsein" in der Luhmannschen Systemtheorie, Punkt 5:
"Operative Grenze", im IASLonline Diskussionsforum "Kommunikation und Bewußtsein". zurück
17 Siehe Stefan Büttner: Die
Literaturtheorie bei Platon, S. XII, 219, Anm. 15, 374,
379 zurück
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