Schmidt über Menzel: Bürgerkrieg um Worte

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Henrike Schmidt

Kritik der Kritik. Birgit Menzel dokumentiert
die Wechseljahre der russischen Literaturkritik
in der Zeit der Perestrojka

  • Birgit Menzel: Bürgerkrieg um Worte. Die russische Literaturkritik der Perestrojka. Köln u.a.: Boehlau Verlag 2001. XI, 420 S. Geb. EUR (D) 46,-.
    ISBN 3-412-06500-5.


Der "neue" Kritiker – ein Blutsauger?

Der neue Kritiker sieht das Werk als illustratives Material und geht von der Annahme aus, dass nur sein darf, was sein soll. Er reduziert nicht die Masse der Verzerrungen, Fehlschläge und Zerrspiegel auf dem Weg des Dings zum Leser, sondern er vergrößert diese, fügt noch eigene hinzu. Das heisst, er macht eine Arbeit, die derjenigen diametral entgegengesetzt ist, die er sich ursprünglich einmal vorgenommen hat.1

Folgt man den Worten des russischen Dichters und Kritikers Michail Aizenberg aus dem Jahr 1992, dann wäre die "neue" russische Literaturkritik paradoxerweise in ähnlichem Masse utopisch ausgerichtet wie die >alte< des Sozialistischen Realismus. Denn dieser war ja gleichfalls bestrebt, den gesellschaftlichen Ist-Zustand mit Hilfe der Kunst in einen Soll-Zustand zu verwandeln.

Das Lesen, so Aizenberg weiter, tritt hinter der Analyse zurück. Und auch das Schreiben selbst werde von einer produktiven zu einer im Wesentlichen kulturkritischen Tätigkeit. Aus dieser Situation heraus habe sich eine vampireske Literaturkritik entwickelt, die zum Zwecke der Selbsterhaltung dem Leser wie dem Autor gleichermaßen das Blut aussaugt – eine weitere mögliche Parallele zur politisch determinierten Literaturkritik in der Sowjetzeit, die Produzenten wie Rezipienten auf eine Statistenrolle reduzierte (vgl. Menzel S. 84).

Und damit sind wir mitten drin im Streit um die Rolle der Literaturkritik in der zeitgenössischen russischen Kultur, die zwischen politisch-didaktischer Einflussnahme und Entdogmatisierung schwankt wie die Körpertemperatur im Klimakterium. Und mitten drin im Thema des Buches Bürgerkrieg um Worte. Die russische Literaturkritik der Perestrojka von Birgit Menzel. Gut 400 Seiten wendet die Autorin auf, um aus den buchstäblichen Schützengräben der russischen Literaturkritik zu berichten und deren Weg von der Vereinnahmung als Staatsdienerin im kommunistischen System zur selbstbezüglichen Diva der (Post)Perestrojka zu dokumentieren. Dabei zeigt die Lektüre, dass die Kontinuitäten im scheinbar ewigen Wechsel zwischen "alt" und "neu" oft stärker ausgeprägt sind als die Traditionsbrüche (S. 91).

Ist also die neue Literaturkritik in Russland nichts anderes als die Fortsetzung der alten mit anderen Mitteln? Aizenberg argumentiert anekdotisch, wenn er eine kleine Szene aus dem literarischen Alltag wiedergibt: Ein Vertreter der "neuen" Literaturkritik bekennt im Anschluss an seine brillante Auslegung der postmodernen Prosa, dass er die Werke selbst kaum oder nur mit Mühe lesen könne. Aus dieser Diskrepanz zwischen literarischer >Performanz< und ihrer Interpretation leitet Aizenberg die Forderung nach einem neuen "Genre" her, und zwar einer "Kritik der Kritik". Einen wissenschaftlichen Beitrag zu einer solchen will Birgit Menzel in ihrem Buch erbringen (S. 1).

Motor oder Bremse?
Die Rolle der Literaturkritik
im Transformationsprozess

Ausgewiesenes Ziel des Buches ist die Untersuchung der Erscheinungsformen und der Bedeutung der russischen Literaturkritik in der Zeit von 1986–1993. Ihre Rolle wird sowohl in Bezug auf den literarischen als auch den gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozess ins Auge gefasst (S. 1). Wie Lackmus-Papier sollen das Genre der Literaturkritik – und die Biographien ihrer Träger – Einblicke gewährleisten in den Gemütszustand der russischen Intelligenz der Umbruchsphase. Darüber hinaus gilt die Literaturkritik jedoch nicht nur als Indikator gesellschaftlicher Transformation, sondern auch als einer ihrer wichtigsten Akteure (S. 1). Funktioniert sie als Motor oder als Bremse im rasanten Kurs, den die russische Kultur in der Perestrojka eingeschlagen hat, lautet deshalb eine der Leitfragen, die Birgit Menzel ihren Ausführungen voranstellt.

Die zentrale, wenn auch unausgesprochene These des Buchs besteht demnach in der Annahme einer unmittelbaren Interdependenz von Literatur und Gesellschaft in Russland (S. 1). Die Zielsetzungen leiten sich daraus ab: Es gelte zu untersuchen,

  • wie die Literaturkritik die Veränderungen in der Literatur, aber auch wesentliche kulturelle und gesellschaftliche Probleme, reflektiere,

  • was für "geistigen und sozialen Umschichtungen, […] die russische Intelligenz heute unterworfen" ist und

  • ob die russische Literaturkritik den Prozess der Transformation "beförderte" oder "verzögerte" (S. 1).

Bereits aus diesen Fragestellungen leitet sich die Bedeutung ab, die der Untersuchung gerade im nicht primär slavistischen, komparatistischen Kontext zukommt (ihre breite Rezeption wird durch die Übersetzung aller russischen Zitate ins Deutsche ermöglicht). Denn ungeachtet der Tatsache, dass der "Tod eines Kritikers" auch hier zu Lande hitzige Diskussionen hervorrufen kann, ist doch eine gesamtgesellschaftliche, über das Feuilleton hinausgehende Bedeutung der Literaturkritik keineswegs evident. Das primäre Interesse des Buches von Birgit Menzel liegt denn auch in der Problematisierung dieser Besonderheit der russischen Kulturlandschaft, die der Literaturkritik lange Zeit eine politische Rolle zugeschrieben hat und möglicherweise noch zuschreibt.

Nicht unproblematisch ist in diesem Zusammenhang jedoch die im einleitenden Teil dargelegte Auffassung des Transformationsbegriffs, der eine gewisse Wertigkeit bereits in seiner Formulierung aufweist und eine Mischung von analytischen Kategorien und normativen Vorgaben darstellt:

Transformation wird dabei als Entstaatlichung der Literatur in bezug auf die Institutionen wie auch auf das Bewusstsein verstanden, also das Akzeptieren ihrer Autonomie, ihre Entideologisierung, Pluralität als unumkehrbare Existenzform bei garantiertem freien Zugang aller potenziellen Rezipienten zu allen literarischen Produktionen, sowie freier Äusserungs- und Publikationsmöglichkeit. (S. 1)

Die Schwierigkeit der Definition geeigneter >Messwerte< ist ein generelles Problem der Transformationsforschung. Um den Begriff der Transformation sinnvoll zu verwenden, müssen nämlich neben den Ausgangsbedingungen auch die Zielparameter bekannt sein. Ungeachtet aller Kritik am totalitären System der sowjetischen Ära mit seinen fatalen Zensur- und Unterdrückungsmechanismen kann und muss am Ende einer Transformation des literarischen Systems in Russland nicht notwendigerweise völlige "Entideologisierung" oder die "Pluralität als unumkehrbare Existenzform" stehen. Dies ist möglicherweise normativ wünschens- und erstrebenswert, kann jedoch analytisch nicht als Untersuchungsparameter vorausgesetzt werden.

Wahlverwandschaften – historische Entwicklungslinien

Die Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der Literaturkritik erweist sich im Vergleich als weniger heikel. Einen besonderen Schwerpunkt räumt die Verfasserin denn auch diesen "Vorbedingungen" ein. Vier Traditionslinien aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert dienen auch heute noch als Ideen- und Formenreservoir und können, je nach politischem und / oder ästhetischem Gusto, als positives oder negatives Leitbild dienen.

Es handelt sich dabei um die didaktisch ausgerichtete Traditionslinie der revolutionär-demokratischen Kritiker, die "organische" Literaturkritik der slawophil orientierten literarischen Kreise, die symbolistische und die formalistische Tradition. Während letztere drei in der sowjetischen Ära dem Verdikt des Sozialistischen Realismus zum Opfer fielen, lässt sich die bis in die jüngste Zeit prägende Dominanz einer didaktisch ambitionierten, auf den gesamtgesellschaftlichen Nutzen ausgerichteten Literaturkritik gerade auf eine starke innere Verwandtschaft zwischen Kritischem und Sozialistischem Realismus, aber auch der Tauwetter-Periode zurückführen (S. 69–70, 91 ff., 116).

Stattliche Einbrüche.
Staats- und Statusverlust

Im Anschluss an die Darstellung der historischen Genese folgt eine umfangreiche Einführung in die "kultursoziologischen Rahmenbedingungen" der Jahre 1986 bis 1993 (S. 30–64). Unter den Oberbegriffen der politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Entstaatlichung werden die "Veränderungen der Öffentlichkeitstruktur" für die russische Intelligenzija unter die Lupe genommen. Was sich unter diesem Vergrösserungsglas offenbart, ist der Statusverlust der Literatur und damit in der Konsequenz auch der Literaturkritik. In der Folge verbreitet sich unter den beteiligten Akteuren das Gefühl einer Kulturkrise und des kulturellen Verfalls. Diese Erkenntnis ist nicht neu, die Ausrichtung auch auf ein nicht primär slavistisches Lesepublikum rechtfertigt jedoch sicherlich den umfassenden kulturhistorischen Einleitungsteil.

Nun wendet sich die Autorin dem Kernthema ihrer Abhandlung zu, nämlich den Normen, Funktionen und Postulaten der Literaturkritik der Perestrojka, die als "Initiator des Glasnost-Prozesses" (S. 67) eine "charakteristische Wendung zur Publizistik" aufweise (S. 68). Diese Entwicklungen werden exemplifiziert anhand dreier kultursoziologischer Fallstudien, im Einzelnen

  1. einer Analyse der Kritiker und ihres beruflichen Werdegangs,

  2. einer Analyse der "Medien" und "Genres" der Literaturkritik,

  3. der Analyse zweier beispielhafter literaturkritischer Diskurse, nämlich

  4. der Auseinandersetzung um das kulturelle Erbe und die eigene "Klassik" und

  5. der Diskussion um das Konzept der Postmoderne und die Entstehung einer "anderen" Literatur in Russland.

1. >Lost generation<.
Der Generationenkonflikt

Der notwendigerweise pauschalisierende Blick auf "die" Literaturkritik wird hier differenziert auf die einzelnen Vertreter der Spezies gerichtet. Ihr Werdegang soll Aufschluss geben über die gewandelten Rahmenbedingungen und das jeweilige Innovationspotenzial der einzelnen Kritikergenerationen. Ihre Angaben bezieht die Autorin aus persönlichen Gesprächen und der Datenerhebung anhand eines Fragebogens. Dieser Fragebogen ist zwar im Anhang der Arbeit abgedruckt, leider fehlen jedoch weitere Hinweise auf die statistische Auswertung der Ergebnisse.

Inhaltlich wird das Kapitel vom Thema des Generationenkonflikts dominiert. In der Umbruchphase trifft die Tauwettergeneration, die zu zweiter Jugend erwacht die Chance auf Verwirklichung ihrer reformerischer Ansätze sieht, auf eine jüngere Generation von Kritikern und Schriftstellern, denen die ehemals inoffizielle Kultur als gleichermassen totalitär wie das sowjetische System gilt (S. 165). Der in der russischen Literatur fest etablierte Konflikt zwischen den Vätern und den Söhnen, zwischen Wertkonservatismus und anarchischem Nihilismus, ergreift nun die Grossväter und die Enkelsöhne, denn die mittlere Generation verfügt als >lost generation< aufgrund ihrer Sozialisierung im kulturellen Morast der Breschnjew-Ära nicht über eine gefestigte Gefechtsposition.

2. "Essayistische Zeiten".
Literaturkritik als spekulative Kulturtheorie

Von besonderem Interesse ist die von der Autorin vorgenommene Betrachtung der medialen Spezifik, konkret der als charakteristisch für die russische Literatur geltenden literaturpolitischen Institution der >dickleibigen< Literaturzeitschriften. Diese illustriert Menzel am Beispiel der Zeitschrift Znamja (Das Banner), die in den späten achtziger Jahren auf besonders deutliche Weise mit ihrer >alten< Redaktionspolitik gebrochen habe. Statt offiziell kanonisierter Literatur mit stark militärischem Einschlag wird das "Banner" zu einem Publikationsorgan für die "neue" oder die "andere" Literatur, insbesondere die Prosa.

Unter diesem recht schwammigen Terminus verbirgt sich in Russland eine Literatur, die im Rückgriff auf formale, manieristische Literaturtechniken und provozierende Tabubrüche dem Dogma der didaktischen Kulturerziehung zu entkommen versucht (S. 291–347). In Deutschland gelangte diese "andere" Literatur in den vergangenen Jahren in den Übersetzungen der Werke Wladimir Sorokins, Wiktor Pelewins und jüngst Boris Akunins (Pseudonym für Georgi Tschchartaschwili) zu Bekanntheit.

Die Dickleibigkeit dieser einzigartigen literarischen Saurier rührt aus der Kraft ihrer Speise, dito: der Kombination von literarischen Texten (oftmals Erstveröffentlichungen), Literaturkritik und Publizistik. Die Zusammensetzung des Speiseplans hat Auswirkungen auf die Form: es überwiegen die >großen< Genres. So werde beispielsweise den Problemartikeln und Autorenporträts der Vorzug gegeben vor den kleineren Formen, insbesondere der Rezension. Damit verbunden ist eine Tendenz zum Essay, als deren Folge die konkreten Leserinteressen und Phänomene der >Massenliteratur< zugunsten kulturphilosophischer Spekulationen vernachlässigt werden.

Während der Essay im 19. Jahrhundert aufgrund seiner Interpretation als "aufklärerischem" Genre verpönt war und in der sowjetischen Epoche aufgrund seiner erklärten Formlosigkeit und Subjektivität keinen Platz finden konnte, gelte die Epoche der Perestrojka als "essayistische Zeit", wie Menzel den Literaturwissenschaftler Michail Gasparov zitiert (S. 231), und schlägt damit eine Brücke zu lange Zeit verdrängten synkretistischen Formen der Literaturkritik wie die der organischen und der symbolistischen >Schule<.

3. Die Klassiker auf dem Dampfer der Postmoderne

Essayistische Züge weist auch der Text auf, anhand dessen die Autorin die Auseinandersetzung um die Bedeutung der "Klassik", um >alt< und >neu< exemplifiziert. Es handelt sich um das Werk Spaziergänge mit Puschkin (Progulki s Puschkinom) von Andrei Sinjawski. Menzel nutzt die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des Texts, um die Bedeutung der Literaturkritik für die Revision der russischen Literaturgeschichte im Gefolge der Perestrojka deutlich zu machen.

Der Text rief bereits zu seiner Entstehungszeit in den 1960er Jahren unter Systemsympathisanten, Reformanhängern und Emigranten gleichermassen harsche Kritik hervor, wurde hier doch das status-, schichten- und epochenübergreifende Idol Puschkin vom Sockel geholt und zum Mittelpunkt einer bewusst persönlich gehaltenen Auseinandersetzung mit der "Klassik als Erblast imperialen Bewusstseins" gemacht (S. 285). Um so erstaunlicher mutet es jedoch an, dass die Diskussion um das Werk noch 1989, zur Zeit der Erstveröffentlichung in der Sowjetunion, von genau den selben Positionen aus geführt wird. Provozierend wirkte heute wie damals, so Menzel, die dezidiert subjektive Vereinnahmung des klassischen Erbes. Im Gegensatz zur futuristischen Revolte flogen die Klassiker nicht vom Dampfer der Gegenwart, sondern wurden zu reinen Unterhaltungszwecken wieder an Bord genommen. Der Status der Klassik stand wieder zur Disposition.

Dieses Werk, das normbildend wirkte für die Entstehung der bereits erwähnten "anderen" Literatur, bildet auch den Übergang zum zweiten porträtierten Diskurs, der Rezeption der Postmoderne, die sich in Russland auf wackeligem Untergrund vollzog. Denn nicht nur die Position der Klassik war im Zuge der kulturellen Umbrüche ins Wanken geraten, auch der Status der Moderne in Russland war und ist bis heute ungeklärt. Denn einmal wird diese als Opfer des totalitären Regimes, einmal als dessen eigentlicher Vorgänger und Wegbereiter interpretiert (S. 329–330).

Dass die Werke der Postmoderne in Russland unter dem Begriff des "Anderen" zirkulieren, ist vor diesem Hintergrund symptomatisch. Fast meint man eine Furcht zu verspüren vor dem Unaussprechlichen. Die Schwammigkeit der Diskussion ermöglicht jedoch auch die Anhäufung fruchtbarer Missverständnisse, die jene besonders explosive Mischung von literaturtheoretischer und gesellschaftspolitisch-geistesgeschichtlicher Spekulation ermöglichen. Die Autorin weist auf diese ausgeprägte Abneigung der russischen Literaturkritik gegenüber einer ausgefeilten Metasprache hin (S. 347), ohne jedoch näher auf mögliche Hintergründe einzugehen.

Die Herausforderungen der Postmoderne

Im Anschluss an die Darstellung der Eckpunkte dieser Diskussion formuliert Menzel sechs "Thesen zum Umgang der Literaturkritik mit der >anderen< Literatur / Postmoderne" (S. 345), die insbesondere unter komparativen Aspekten von Interesse sind und Unterschiede in der Interpretation der Postmoderne in West und Ost herausstellen. So sei beispielsweise der spezifische Synkretismus der postmodernen Literatur(kritik) in Russland eher eine Rückkehr zu modernen Traditionen als eine Anpassung an postmoderne Zustände. Die These, die "neue" russische Literaturkritik aller "Lager" sei "außerstande […], der Herausforderung der >anderen< Literatur mit neuen Bewertungsmassstäben zu begegnen", ist jedoch wohl differenzierender zu betrachten. Literaturtheorie und -kritik sind nicht nur in Russland durch die postmoderne Wende herausgefordert, fehlen ihnen doch angesichts der umfassenden Konzeptualisierung und Kontextualisierung von Kunst schlicht die ästhetischen >Formalitäten<.

Nach den anregenden "Thesen zur Postmoderne" fallen die Schlussfolgerungen eher resümierend aus: "[D]ie anderthalb Jahrhunderte währende Vorrangstellung, die die Literatur innehatte, ist verlorengegangen". In diesem Zusammenhang vollziehe sich auch der Verlust der Bedeutung der Literaturkritik als "normsetzender Instanz" und "als zentrales Medium gesellschaftlicher und kultureller Selbstreflexion". Zu verzeichnen sei ein Bedeutungsverlust im Zuge der gesellschaftlichen Differenzierung und des Abtritts "fremder Funktionen" an die Religion, die Philosophie, die Publizistik etc. (S. 348). Die stark faktographische Darstellung, die mit einer Fülle von Fussnoten und Anmerkungen glänzt, weist leider wenige Bezüge zu analogen Entwicklungen in West- und Osteuropa auf. Insbesondere werden theoretische Ansätze, die einen substantiellen Vergleich der unterschiedlichen Funktionalitätszuweisungen und Instrumentalisierungen erlauben, kaum berücksichtigt.

Vom Schönen und vom Wahren.
Zum Nutzen der Systemtheorie für die
slavistische Literaturwissenschaft

In diesem Zusammenhang bietet insbesondere die Systemtheorie interessante Vergleichsmöglichkeiten an. Hier sind in erster Linie die Arbeiten des Slavisten Dirk Kretzschmar zu erwähnen, von denen Menzel jedoch nur die literaturgeschichtlichen und literaturpolitischen Texte erwähnt. Kretzschmar formuliert ausgehend von der Systemtheorie die gleichermassen inspirierende wie provozierende These von einer vergleichsweise geringen Ent-Differenzierung ästhetischer und nicht-ästhetischer Kommunikation im Russland des 18. und 19. Jahrhunderts sowie weit über diesen konkreten Untersuchungszeitraum hinaus:

In der russischen Gesellschaft des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, die noch nicht in Funktionssysteme differenziert ist – und man darf hinzufügen, es auch noch lange nicht sein wird [Hervorhebung der Rezensentin] –, erweisen sich auch die Theoreme der Ent-Differenzierung zwischen ästhetischer und nicht-ästhetischer Kommunikation und damit letztendlich zwischen Kunst und Nicht-Kunst als unüberwindbar. [...] In Russland ist der Code der philosophischen Ästhetik schön / hässlich instabil und wird immer wieder von den Codes der Umweltsysteme des Literatursystems, in erster Linie der Wissenschaft (wahr / falsch) und der Moral (gut / böse) übercodiert. Die Leitdifferenz interessant / langweilig als Code endgültig ausdifferenzierter ästhetischer Kommunikation kann sich vor diesem Hintergrund schon gar nicht ausbilden.2

Bei aller Vorsicht, die gegenüber der hochspezialisierten Terminologie der systemtheoretischen Forschung in ihrer Anwendung auf die Literaturwissenschaft angebracht ist, liegen die Anknüpfungspunkte für die Analyse der Literaturkritik im zeitgenössischen Russland doch offen zu Tage. Die Auseinandersetzungen um die Codes wahr / falsch, gut / böse und schön / hässlich prägen insbesondere die im Rahmen der Postmoderne-Diskussion auftretenden Generationskonflikte unter den russischen Literaturkritikern.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Arbeit von Birgit Menzel da am interessantesten ist, wo sie sich auf konkrete Phänomene – auf ihre Fallstudien – stützt und eine Fülle an interessanten Informationen und Einblicken bietet. Leider ist anzumerken, dass das Buch zumal in den ersten Kapiteln eine Vielzahl von Rechtschreibe- und Formatierungsfehlern aufweist, die den Lesefluss behindern. Auch Fehler in der Übersetzung aus dem Russischen haben sich eingeschlichen. Wobei der Fehlerteufel frei nach futuristischer Ästhetik eine ganz eigenen Kreativität an den Tag legt, wenn beispielsweise die "Meister der Pfuscherei" in der Übersetzung zu "Meistern der Korruption" mutieren (S. 116).

Was bleibt, ist der Wunsch nach Fortsetzung: Die Arbeit deckt zwar programmatisch und in sinnvoller Reduktion "nur" den Zeitraum zwischen 1986–1993 ab und wurde bereits 1997 als Habilitationsschrift angenommen. Dennoch hätte man sich mit Blick auf das Publikationsdatum 2001 einige kurze Anmerkungen und Ausblicke zu wichtigen Entwicklungen in der Folgezeit gewünscht, beispielsweise dem Erstarken des Rezensionswesens in den literarischen Internet-Publikationen oder der sich noch verstärkenden Tendenz zur Personalisierung der essayistischen Literaturkritik, deren Wandel vom gesamtgesellschaftlichen Forum zur "Tusowka" (Clique) sich mit rasantem Tempo vollzieht.


Dr. Henrike Schmidt
Lotman-Institut für russische und sowjetische Kultur
Ruhr-Universität Bochum
Universitätsstr. 150
D-44780 Bochum

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Ins Netz gestellt am 12.1.2003
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Diese Rezension wurde betreut von unserer Fachreferentin Dr. Simone Winko. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.


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Anmerkungen

1 Michail Aizenberg: Kritika kritiki. In: M.A. (Hg.): Vzgljad na swobodnogo chudoschnika. Moskwa: Gendalf 1997, S. 231–235, hier 231. Im Internet unter http://www.vavilon.ru/texts/aizenberg/aizenberg6-16.html, hier Absatz 2. Übersetzung des Zitats durch die Rezensentin. Die Transliteration der russischen Begriffe und Eigennamen folgt aufgrund der Schwierigkeiten bei der Anzeige von Sonderzeichen im Internet nicht der wissenschaftlichen, sondern der Duden-Transliteration.   zurück

2 Dirk Kretzschmar: Zur Codierung >ästhetischer Kommunikation< in der russischen Gesellschaft des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. In: Christoph Veldhues / Dirk Kretzschmar (Hg.): Textbeschreibungen – Systembeobachtungen. Neue Studien zur russischen Literatur im 20. Jahrhundert (Dokumente und Analysen zur russischen und sowjetischen Kultur; 10) Bochum: projekt-verlag 1997, S. 115–145, hier S. 140–141.   zurück