Schmidt über Stadler: Der technisierte Blick

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Gunnar Schmidt

Jenseits des technisierten Blicks

  • Ulrich Stadler: Der technisierte Blick. Optische Instrumente und der Status von Literatur. Ein kulturhistorisches Museum. Königshausen & Neumann 2003. 402 S. 30 Abb. Kart. EUR (D) 39,-.
    ISBN 3-8260-2391-9.


Museum

Wer durch ein Museum streift, bewegt sich von Exponat zu Exponat, von Erklärungstext zu Schautafel – und durchmisst dabei Lücken, Leerräume. Unterbrechungen als Gedankenplätze oder als Aussichtspunkt, von dem aus das Interesse nach dem Nächsten sucht. Eine freundliche Unvollständigkeit umgibt den Besucher, in dem nicht der Imperativ der Linearität und der gleichbleibenden Aufmerksamkeit herrscht. Die Imagination erschafft sich schon in den Momenten der Wahrnehmung des Einzelnen eine eigene Landschaft, in der es herausragende Punkte gibt, Überblicke, Lichtungen und Abgeschattetes.

Wenn Ulrich Stadler sein Buch Der technisierte Blick im Untertitel ein "kulturhistorisches Museum" nennt, dann begegnet er dem Leser mit einer expliziten Aufforderung: Er möge die "Kombinationsgabe" (S. 14) spielen und sich über die Linearität der Abhandlung hinaus von der flächenhaften Ausbreitung seiner Funde und Interpretationen inspirieren lassen. So hat er dem Buch einen grafischen Museumsplan beigegeben, in dem die Säle und Depots, Archiv und ein Bildkabinett aufgeführt sind. Hierauf ist zu sehen, dass es nicht nur einen Durchgang gibt. Jeder Saal hat mehrere Ausgänge, die zu unterschiedlichen Nachbarschaften Verbindung herstellen. Diese Studie will also nicht die große These entfalten oder einer Chronologie gehorchen. Diese Untersuchung zur Funktion von optischen Geräten in der Literatur lädt ein zum Meandern. Was sich weder einem geschichtsphilosophischen Theorem unterwerfen will noch fürs bloße positivistische Notat hergibt, will anders erwandert werden.

Ordnung

Dass der Autor trotz konvivialer Offenheit kein beliebiges Sammelsurium, gleichsam einen Wald ohne Weg offeriert, zeigt schon die Bezeichnung der Säle an. Stadler hat aus einem reichen literarischen Material, das im Anhang ausführlich aufgelistet ist, Autoren ausgewählt und thematisch gruppiert. Er beginnt mit der Emblematik des 16. Jahrhunderts (de Borja, Arndt) in der "Kleinen Sehschule", fügt daran die Physikotheologen in "Wissenschaft und Poesie im Dienste der Theologie", schreitet weiter zur "Literatur als Gesellschaftssatire"
(Grimmelshausen, Swift, Jean Paul). Die weiteren Säle / Abschnitte thematisieren die "Scheidung von Literatur und Wissenschaft" (Kästner, Lichtenberg, Hegewisch), "Literatur als Metatheorie der Wissenschaft" (Novalis, Scheerbart), "Literatur als Wissenschaftssatire" (Hoffmann, Meyrink), "Literatur und Film als bessere Wissenschaft" (Musil, Doderer, Kluge) und "Literatur als Therapeutikum" (Goethe, Hebel, Stifter, Kurz).

Die Autorenkombinationen zeigen, dass sich Stadler problemorientierte Fokussierungen erlaubt, sowohl Texte von historisch benachbarten Autoren zu Werkgruppen fügt, als auch historisch entfernte Autoren zueinander stellt. Stadler nimmt dabei jedoch nie eine verwischende Haltung ein: Die Interpretationen zu einzelnen Werken können als historische Differenzierungsmodule gelesen werden. Auch wenn gezeigt wird, dass Novalis und Scheerbart ihre Texte aus einem ähnlichen erkenntniskritischen Anliegen schreiben und das prekäre Verhältnis von Sehen und Einbildungskraft als inspirierenden Funken nehmen, so werden sie dennoch nicht einem identischen Ideenkosmos zugeschlagen. Das Fernrohr bei Novalis erscheint als poetisches Sinnbild, als ein Gerät des Machens von Eindrücken, wohingegen Scheerbart eine Verdrehungslogik in Gang setzt, nach der das Phantasierte als im Außen Erblicktes in Szene gesetzt wird. Argumentiert der Romantiker also noch philosophisch-anthropologisch und setzt auf ein Zueinanderkommen von sinnlicher Welt und Sinnverfügung, verfliegt diese Vermittlung zwischen Ich und Welt bei Scheerbart und öffnet für eine autonome, moderne Kunst.

Die inhärente Sortierung und Kombinationslogik unterstützt Stadler mit Kommentaren, die jedem Kapitel vorangestellt sind. Stadler nennt diese Einleitungen Legenden. Unterrichtend sind diese Exponaterläuterungen in zweifacher Hinsicht: Zum einen werden Hinweise zu den behandelten Autoren gegeben. Mag der germanistisch Gebildete hier nicht in jedem Fall Neues finden, so leisten sie doch wertvolle Unterstützung bei nicht kanonisierten Autoren, die ebenso behandelt werden wie die großen Namen der deutschen Literaturgeschichte. Zum anderen exponiert der Autor hier leitende Fragestellungen und Kontextualisierungen, die der Leser als Orientierung aufnehmen kann – auch im Sinne des Überspringens bei der Suche nach anderen Fortsetzungen seiner Lektüre.

Poetik der Optik

Wie angedeutet, versteht sich die Studie nicht als motivgeschichtliche Recherche, die binnenliterarische Wandlungsprozesse nachzeichnen möchte. Durch die Konzentration auf das Mikroskop und Teleskop als Gegenstände der Literatur wird die Forschung auf der Grenzlinie von Literatur-, Medienwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte situiert. Stadler bündelt mit seinem Ansatz, so könnte man sagen, verschiedene Blicke. Trotz der disziplinären Anleihen bleibt aber stets der Text im Zentrum, ihm gehört die eigentliche Aufmerksamkeit.

Im Sinne der Registratur literarischer Strategien werden unterschiedliche Funktionen der literarisierten optischen Geräte dargestellt. Dass Literatur dabei auch als kommentierende Stimme realer Technik- und Wissenschaftsentwicklung gehört werden kann, stellt jedoch eher den weniger beachteten Teil dar. Stadler interessiert sich für genuin poetische Verwendungsweisen und kann eine überraschende Vielzahl von Sinnbildungen ausmachen: Er ermittelt allegorisierende und diverse metaphorische Verwendungen, er zeigt, wie die Gerätschaften zum Sehen den Menschen satirisch ins Visier nehmen, wie sich konkurrierende Weltkonzeptionen in ihnen materialisieren, welche Phantasmen durch die Prothetisierung entstehen, und vor allem: welche Krisen der Erkenntnis sich daran knüpfen. In seinem interpretatorischen Vorgehen bleibt Stadler aber nicht am Motiv kleben. Er weitet den Horizont und korreliert Verfahren der Darstellung mit dem, was der technisierte Blick auf der Ebene des Dargestellten insinuiert.

Die grundlegende These Stadlers, die an den Gegenständen eindrücklich belegt wird, lautet, dass die Perspektive des Textes vom Perspektiv (Teleskop) strukturiert wird. Im Zusammenhang seiner Stifter-Interpretation formuliert der Verfasser bündig: "Dabei wird sich freilich zeigen, daß bestimmte inhaltliche Beweggründe nicht nur die Protagonisten, sondern auch den Erzähler, ja den Autor gleichsam bestimmen, so daß der Blick durch das Fernrohr formkonstitutiv wird für Stifters Erzählen überhaupt." (267) Was so einfach sich behaupten lässt, erfordert durchaus analytische Raffinesse und ausgreifende Kenntnisse. So überzeugt die Studie durch genaue und sensible Deutungen von Textpassagen, deren Vielschichtigkeit, Fallen und implizite Verweise in einem close reading enthüllt werden. Von diesem Fundament aus unternimmt Stadler kenntnisreiche Exkursionen in das literatur- und wissenschaftshistorische Umland. Gerade das Aufblenden der zeitgenössischen Wissenschaftsentwicklungen gibt die nötigen Hinweise auf die diskursiven Differenzierungsanstrengungen der Literatur. Stadler selbst verknüpft in seinem Verfahren gewissermaßen mikroskopischen und teleskopischen Blick miteinander. Vom Nahblick auf den Text schaltet er um auf Fernblick und sucht das historische Feld nach Kontexten ab, durch die der Ort der Literatur innerhalb einer diskursiven Landschaft charakterisiert wird.

Poetik | Wissenschaft

Damit ist das Leitmotiv der Studie benannt, das bereits in den Bezeichnungen der Säle explizit wird. Das spannungsvolle Gegen- und Miteinander von Wissenschaft und Poetik im Zuge ihrer historischen Ausdifferenzierung wird anhand der Texte als äußerst windungsreich und produktiv für die literarische Imagination dargestellt. Durch die Breite an Gegenständen wird ein Panorama sichtbar, das gänzlich unterschiedliche Reaktionsmuster der Literatur gegenüber Wissenschaft zeigt: die Idealisierung von Wissenschaft, die Trauer über den Hiatus, der Versuch, naturwissenschaftlich zu verfahren, die höhnische Ablehnung von Wissenschaft, die therapeutische Parallelaktion, die Kritik. Gerade die Dimensionen des Sehens und Erkennens, die aufs Engste miteinander verknüpft sind und doch nicht identisch sind, bringen notwendig wissenschaftliches und literarisches Vorgehen in Kontakt und Konfrontationsstellung. Auch wenn das vielfältige und heterogene Material, das Stadler entfaltet, im Kontext dieser Rezension en detail nicht referiert werden kann, ist auf eine historische Tendenz hinzuweisen, die durch die Studie an Kontur gewinnt.

Der Blick durch die optische Prothese, mit der die Wissenschaft die Naturdinge – Himmelskörper, Kleinstlebewesen, Zellen, Strukturen – zu erkunden sucht, kommt zwar auch in der Literatur vor, doch richtet sich das Blicken vor allem auf das, was wir Mensch nennen. Es scheint, dass durch die Realität einer verbesserten Perspektive auf Dingoberflächen ein krisenhafter Bewusstseinsschub initiiert wurde, aus dem ein Fragen nach der erkennenden Perspektive auf das metaphysische Innen des Menschen entstand. Hier hat die Literatur gewissermaßen ihren exklusiven Gegenstand. Wissenschaft interessiert sich für Körper, Literatur hat es mit dem obskuren Objekt Mensch zu tun. Diese Objektwahl stellt genau das Problem der Transfers zwischen Wissenschaft und Kunst im Allgemeinen dar. Wissenschaft erweist sich im Moment, wo sie sich des Philosophischen entledigt und kalt den Blick auf die Weltsachen richtet, als menschenleer.

Dies hat im historischen Gang nicht nur eine ungeahnte Produktivität hervorgerufen, sondern stellte auch eine ungeheure Provokation dar. In einer erhellenden Interpretation zu Wilhelm Meisters Wanderjahre verfolgt Stadler diesen Umschlag von Dingobjekt zu Menschobjekt. In einer nur scheinbar, wie Stadler belegt, esoterisch anmutenden Logik, kettet Goethe vier Himmelsbeobachtungen aneinander: Wilhelm betrachtet den Nachthimmel ohne Teleskop, dann benützt er das Gerät, in einer dritten Szene sieht er das Gesicht Makaries als Gestirn unter Gestirnen und identifiziert schließlich im Wachzustand das Gesicht als Morgenstern. Dieser naturwissenschaftliche Irr-Sinn hat seine Logik darin, dass er das Aufspringen zwischen Welterkenntnis und Erkenntnis des Menschen bildhaft zur Sprache bringt, poetisiert. Stadler resümiert: "Die >Würde< dieses Mittels in dem ganz konkreten Falle ist [...] darin zu sehen, daß es den Blick in den Himmel noch einmal zum Blick auf den Menschen umdeuten kann." (255).

Das Ringen mit dem, was man sehen und was man erkennen kann, ist die dramatische Konstellation, auf die Literatur immer wieder aufsetzt. An diesem Punkt kommen Moral, Pathos, Begehren und Subjektivität ins Spiel. Stadler zeigt, wie Literatur, als Reflexionsmedium auf Wissenschaft, die Sehnsucht nach Erfahrung produziert, die als ausgestoßener Abkömmling einer rationalisierten Erkenntnispraxis erscheint. Der Blick von Mensch auf Mensch – durch die Linse – ist Annäherung und Distanznahme in einem. Ob darin, wie bei Doderer, fetischistische Kälte, oder, wie bei Stifter, Respekt und Sanftheit zum Ausdruck kommen, in jedem Fall zielt Literatur mit solchen Szenen auf eine Lehre vom Menschen. Nicht was man sieht, sondern wie man sieht, wird zum entscheidenden Kriterium.

Die gelungene und inspirierende Untersuchung Ulrich Stadlers rekonstruiert die impliziten anthropologischen Versuche der Literatur. Der Blick durch das Glas, wie ihn die Fiktion inszeniert, ist dabei aber eben nur scheinbar ein technisierter. An diesem Punkt wäre eine Kritik am Buchtitel anzubringen, der doch eigentlich Jenseits des technisierten Blicks lauten müsste. Da der Untertitel den Leser jedoch aufklärt, dass das Werk vom "Status der Literatur" handelt, ist solche Kritik nicht mehr als ein assoziativer Reflex.


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Ins Netz gestellt am 03.11.2003
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