Schnyder über Rappaport: Ritual and Religion in the Making of Humanity

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Mireille Schnyder

Kybernetik des Heiligen
oder
Die Rettung der Welt durch das Ritual

  • Roy A. Rappaport: Ritual and Religion in the Making of Humanity (Cambridge Studies in Social and Cultural Anthropology; 110) Cambridge: University Press 1999. XXIII, 535 S. Kart ca. € 32,63.
    ISBN 0-521-29690-0.


Roy A. Rappaport (†1997) hinterlässt in dieser grossen und im Ausgriff großartigen Studie ein eigentliches Testament, ein Zeugnis seiner lebenslangen Forschungen zum Ritual und ein Vermächtnis für die Zukunft, worin er auf eine neue Ritualisierung des Lebens hofft, damit sich darüber die religiöse Dimension mit den (Natur)Wissenschaften verbinden könnte. Die Grundthese des Buches geht davon aus, dass die wichtigsten konzeptionellen und erfahrbaren Bestandteile der Religion – das Sakrale (sacred), das Numinose, das Okkulte und das Göttliche (divine) sowie ihre Integration im Heiligen (the Holy) – Kreationen des Rituals sind. Fast analog zur linguistischen Frage nach einer Tiefenstruktur der Sprachen, sucht Rappaport nach einer Tiefenstruktur der Rituale und so nach einer Universalgrammatik der sich aus Ritualen generierenden Religionen (S.29).

Wie der Titel sagt, zielt die Frage auf die Bedeutung von Ritual (als dem Ursprung von Religion) für die Herausbildung der Menschheit und des Menschlichen, wobei der Begriff "humanity", wie er von Rappaport als eine persönliche Qualität, als Bezeichnung eines Kollektivs und als historisches Projekt (S.XVII) verwendet wird, im Deutschen kein Äquivalent hat.

Zwischen das Anfangskapitel "Die rituelle Form" und das Schlusskapitel "Die Zerstörung des Heiligen und seine Rettung" spannen sich elf Kapitel, in denen einzelne Aspekte der rituellen Form genauer behandelt werden. Dazu gehören die kommunikativen Strukturen des Rituals, die performative Bedeutungskonstituierung, der Zeitbegriff des Rituals, die Bedeutung von Sprache und Zahl für das Ritual, die Definition des über das Ritual konstituierten Heiligen (the Holy), die Kybernetik des Heiligen, wie sie im Ritual sich fassen lässt, Wahrheit und Ordnung als über das Ritual institutionalisierte religiöse Grössen und entsprechend Religion als Adaptation ritueller Form.

Die Heilung durch das Heilige

Grundthese des Buches ist, dass die Menschheit, die sich über die Sprache definiert, mit der Sprache auch das alternative Denken, die Möglichkeit als Gefährdung des Gegenwärtigen und Aktuellen, aber auch die symbolische Ordnung und die Lüge kennen gelernt habe. Darüber aber werde, wie Rappaport in engem Bezug zur Sprachtheologie von Martin Buber darstellt, das Böse schlechthin möglich (S.15). So fallen für ihn der Anfang der Menschheit, der Anfang der Sprache, der Anfang des Bösen und der Anfang des menschlichen Rituals, das sich aus der Sprachfähigkeit entwickelt, zusammen.

Aufgabe und Sinn der Religion sei es, das den gefährdenden und falschen Wörtern entgegenstehende wahre Wort, die Grundlage der Wahrheit der Symbole, zu postulieren. Und das Mittel dazu sei das Ritual. Über das Ritual sei die Sprachverfallenheit der Welt und die Sprachzerstückelung der Welt zu heilen und wieder in eine Ganzheit zurückzubinden, die Rappaport – mit etymologischer, dem Wort seinen >Wahrheitskern< herausziehender Argumentation – "the Holy" nennt (S.24).

Die Rituelle Form

Über die rituelle Performance würden gesellschaftliche Kontrakte besiegelt, konventionelle Ordnungen eingerichtet und die Vorstellung von Zeit und Ewigkeit konstruiert (S.27). 1

Heiligung (Sanctification) sei das Mittel, von der Vielfalt der Sinngebungen, die der menschlichen Imagination zur Verfügung stehen, einige als "richtig" auszuwählen und damit gesellschaftliche Konventionen zu stabilisieren. Während sich die Glaubenssätze (Ultimate Sacred Postulate), deren Signifikate konzeptuell sind und die weder logisch noch empirisch falsifiziert oder verifiziert werden können, gleichbleiben, verändern sich die Auslegungen, die Deutungen, die Konventionen, die sie heiligen. Dadurch definiert Rappaport Heiligkeit (sanctity) als Mittel der Adaptation, ein Mittel, das im Moment, wo sich die Verhaltensmuster durch die Sprache in die Möglichkeiten vervielfältigen, die genetische Determiniertheit von Verhaltensmustern durch eine funktionale Determiniertheit ersetze.

Und so wie das Konzept des Sakralen (sacred) – als dem diskursiven Aspekt des Heiligen im Gegensatz zu den affektiven, unsagbaren Qualitäten (das Numinose) – nicht ohne Sprache hätte entstehen können, konnte die Sprache sich nur entwickeln dank dem ordnenden, d.h. auch auswählenden Konzept des Sakralen (S.418). Damit bindet er das Ritual so eng in die Sprachlichkeit hinein, dass keine Unterscheidung mehr gemacht werden könne zwischen Ritual als Kommunikation und Ritual als wirkmächtiger Handlung.

Ritual und Zeit

Auf der Grundunterscheidung einer "weltlichen Zeit", die sich an das diskursive, analytische Sprachdenken anschliesse und einer nicht mehr sprachlich fassbaren "Ewigkeitszeit", führt Rappaport die Begriffe von "ambig" (ambiguous) und "wahr" (true) ein (S.234), um die "weltlichen" Aktivitäten in der Zeitlichkeit und die "rituellen" Aktivitäten, die wiederholend das Ewige entdecken, zu qualifizieren. Dadurch fällt seine Analyse über die von ihm verwendeten Begriffe in die kulturell konstruierte Sprache zurück.

Der Vergleich der Schöpfungsmythen mit in der Astrophysik konstatierten "Singularitäten" am Anfang des Universums (Hawking) gibt ihm das Argument für eine Differenzierung ambiger Narrationen (Biographie, Chronik) und wahrem (Anfangs)Mythos, auf deren Hintergrund er in Ursprungsmythen und Weltschöpfungs-Ritualen eine Naturalisierung der Kultur sehen kann, in der eine grundlegende Richtigkeit stecke, da Kultur konform gehen müsse zu den Gesetzen der Natur (S.168). Die Wiedervereinigung von Kultur und Natur im Ritual wirke der Zersplitterung der Welt durch die Sprache entgegen.

So ist das Ritual nach Rappaport nicht nur der Schmelzofen, in dem aus den Fähigkeiten der Sprache und den Mächten der menschlichen Emotion das Bild Gottes geschmiedet, sondern auch die Möglichkeit geschaffen werde, das Zweifelhafte, Arbiträre und das Konventionelle in das Richtige, Notwendige und Natürliche zu verwandeln. In eine Formel gebracht heisst dies:

Das Nichtfalsifizierbare (Ultimate Sacred Postulate), unterstützt durch das Nichtverneinbare (Numinoses), bringt das Unbestrittene (Sakrale) hervor, das das Zweifelhafte, Arbiträre und das Konventionelle in das Korrekte, Notwendige und Natürliche verwandelt. (S.405)

Die Zerstückelung durch die Schrift

Ist die Sprache nicht nur Anfang der Menschheit, sondern auch Anfang der Lüge und somit Anfang des die Gemeinschaft zerstörenden Bösen, ist die Schrift für Rappaport der Feind der Ewigkeit und Anfang der "Schrecken der Geschichte" (Eliade). Oder in Rappaports emphatischer Formulierung:

Number gives eternity, which once informed life and was infused by it, into the hands of death.

Indem durch die Schrift Mythos der Geschichte unterworfen werden könne und ideale Strukturen durch bekannte Ereignisse aufgelöst würden (S.343), zerstöre sie die Unveränderbarkeit und gefährde die "Ultimate Sacred Postulates" (S.342).

Auch wenn die Untersuchung die Sprache, als Anfang der menschlichen Evolution und als kulturstiftendes Moment par excellence, ins Zentrum stellt und menschliches Ritual aus der Möglichkeit der Sprache herleitet, fällt sie immer wieder zurück in eine Rhetorik der Kultur- und fundamentalen Sprachkritik, die einer negativen Evolutionstheorie gleichkommt, in der als rettendes Ziel der menschlichen Gesellschaft die rituelle Wiederinszenierung einer vor- oder übersprachlichen Einheit gesehen wird. Diese, als das Heilige (the Holy), gründet in dem nicht-rationalen Numinosen und der Akzeptanz des invarianten Kanons (S.373).

Dabei wird das Numinose (mit Verweis auf Erikson und Otto) in parallelisierender Erklärung mit der vorsprachlichen Welt des Kleinkindes verglichen und so zu einem universalen, archaischen Urerlebnis, dem Urgrund, aus dem das diskursive, konventionelle Sakrale (the sacred) der Religion entstehen konnte (S.390).

Die Rettung des Heiligen

In einer stark kulturpessimistischen Haltung sieht Rappaport in der Moderne das Heilige (the Holy) korrumpiert durch Gewalt, Gewalt der Geschichte und Gewalt in der Geschichte. Rituale werden befohlen und fussen nicht mehr auf Akzeptanz, wodurch das durch sie konstituierte Heilige (the Holy) – Basis des Wahren und Richtigen – selber falsch werde. Diese "diabolische Lüge" (D. de Rougemont), die sich parallel zu den die kulturelle Evolution bestimmenden Faktoren entwickle, ziele auf eine ganze Ordnung und beabsichtige Fragmentierung (S.448). So schliesst sich für Rappaport der Kreis, der mit dem Anfang der Sprache, als dem Anfang von Ritual und Religion und damit auch menschlicher Evolution, aufgetan wurde. Und darin wird der Anfang der menschlichen Evolution zum Anfang des Untergangs (humanity's fall).

Aufgabe der postmodernen Gesellschaft und Wissenschaft sei nun die Rettung (salvation) des Heiligen. Die Beobachtung müsse wieder Welt-Schöpfung werden. Die Suche nach den Gesetzen der Natur müsse sich wieder verbinden mit der Suche nach der Natur der Bedeutungen und deren Konstituierung (S.457). Damit postuliert er eine Reritualisierung des Lebens in allen Belangen (gerade auch den wissenschaftlichen). Denn, wie er am Schluss sagt:

Humanity in this view is not only a species among species. It is that part of the world through which the world as a whole can think about itself.

In dieser Idee einer Naturwissenschaft als Naturreligion ist man in vielem an die grossen naturtheologischen Entwürfe des 18. Jh.s erinnert.

Die grundlegende Sprach- und Schriftskepsis, die Idee des Anfangs der Sprache als eines (Sünden)Falls der Menschheit, macht deutlich, wie stark Rappaport der jüdisch-christlichen Tradition verhaftet ist, trotz allen zitierten Ritual-Beispielen aus anderen Kulturen. Das Buch ist in seinen letzten Kapiteln Vision einer besseren Welt und das melancholische Lob eines vorzeitlichen Zustands der Einheit mit der Natur, vor der Zersplitterung durch Sprache und Aufspaltung in Möglichkeiten.

Ein religiöses Buch

Das Buch ist nicht nur Zeugnis einer lebenslangen Ritualforschung und einer entsprechend umfassenden Kenntnis auf diesem Gebiet, die sich in der intensiven Diskussion der Forschungsansätze und -meinungen sowie ausführlicher Darstellung einzelner Rituale niederschlägt, sondern in erster Linie ein religiöses Buch. Die repetitive Form hat selber etwas Rituelles an sich, da dadurch Grundsätze immer wieder neu kontextualisiert und geheiligt werden.

Die immer wieder den argumentativen Überlegungen assoziierten Strukturparallelen mit der Naturwissenschaft, der Astrophysik, der Informatik, der Hirnforschung, der Evolutionstheorie, der Linguistik suggerieren dabei eine Wissenschaftlichkeit, die auf eine "natürliche Wahrheit" abzielt, die in diesen "Konventions-Wahrheiten" stecke. Die innere Logik dieser argumentativen Zirkelschlüsse zwischen den einzelnen Wissensdiskursen liegt in der parallelisierenden Rhetorik. Das Buch selber ist durch die "Kybernetik des Heiligen" bestimmt, wie sie im Diagramm auf S.431 ins Bild gebracht ist. So sehr das verblüffen kann, verliert es doch im Verlauf der Lektüre an Überzeugungskraft ausserhalb der narrativen Logik, der das Buch von Rappaport selber folgt.

Es braucht die Akzeptanz dieses Rituals durch den Leser, um dem hier dargestellten und aufgeschlagenen Kosmos Realität zu verschaffen.


Prof. Dr. Mireille Schnyder
Universität Konstanz
Geisteswissenschaftliche Sektion
Fachbereich Literaturwissenschaft
D-78457 Konstanz

Ins Netz gestellt am 02.04.2002
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Anmerkungen

1 Damit sucht er eine formale Definition und keine funktionale oder substantivistische. In Abgrenzung von Maurice Bloch und Catherine Bell, die seine Ritualdefinition als "funktional" verstehen, betont er seine formal-kausale Argumentation (nicht final-kausal).   zurück