Schwarz über Böhme u. a.: Orientierung Kulturwissenschaft

Thomas Schwarz

Studienführer für angehende Kulturwissenschaftler

Kurzrezension zu

  • Hartmut Böhme, Peter Matussek, Lothar Müller: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2000. 271 S. Kart. DM 18,90. ISBN 0-415-12800-5



Im Jahr 1991 empfahl eine viel zitierte Denkschrift den Geisteswissenschaften eine kulturwissenschaftliche Wende. Deren Autoren wandten sich gegen die Festlegung einer zukunftsorientierten Naturwissenschaft auf das ‚Erklären‘ und einer vergangenheitsorientierten Geisteswissenschaft auf das ‚Verstehen‘. Man erklärte die Kulturwissenschaften als zuständig für die Reflexion des ‚Ganzen‘ der Kultur, einschließlich der Bereiche Ökonomie, Technik und Naturwissenschaft. Die derart reformierten Geisteswissenschaften sollten transdisziplinär aufschließen zum Stand der internationalen Diskussion in den humanities (vgl. S.19ff.).

Die Verfasser der in den aktuellen Stand dieses Prozesses einführenden Buches, Müller (Frankfurter Allgemeine Zeitung), Matussek und Böhme (Kulturwissenschaftliches Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin), formulieren Antworten auf eine Reihe entscheidender Fragen an die Kulturwissenschaft. Erstens, woher sie kommt, zweitens, was sie will, und drittens, wohin man mit ihr gehen kann.


I. Vorgeschichte

Als einen wichtigen Bruch in der Genealogie der Kulturwissenschaften aus dem 19. Jahrhundert heraus markieren Böhme et. al. den Lamprecht-Streit. Als der Leipziger Historiker Karl Lamprecht Ende des 19. Jahrhunderts seine "Deutsche Geschichte” auf den Markt brachte, zog er mit seiner kulturwissenschaftlichen Methode eine derart vernichtende Kritik auf sich, dass sich in Deutschland die Einführung sozialhistorischer, strukturgeschichtlicher und mentalitätshistorischer Ansätze nachhaltig verzögerte (vgl. S.50ff.).

Die französische Mentalitätsgeschichte wendet sich in ihrer 1929 gegründeten Zeitschrift "Annales” gegen das Primat der politischen Geschichte und erschließt Untersuchungsfelder wie die Einstellungen der Menschen zum Tod, zur Sexualität, zur Familie und zur Arbeit. Während die Ideengeschichte den Denker in einem körperlosen und abstrakten Universum von Ideen situiert, fragt die Mentalitätsgeschichte, welche Gedanken sich in einer gegebenen historischen Konstellation überhaupt denken lassen (vgl. S.16ff.).

Die Nazi-Diktatur wird von den Autoren als eine weitere Schaltstelle für eine Blockade der Entwicklung der Kulturwissenschaften herausgestellt, die sich nun ins Exil verlagerte (vgl. S.62). Zu den Betroffenen gehörten sowohl der Kulturphilosoph Ernst Cassirer, der eine "Theorie der symbolischen Formen” ausgearbeitet hatte (vgl. S.66ff.), als auch Sigmund Freud, der mit kulturanalytischen Schriften wie "Das Unbehagen in der Kultur” (1939) die Basis für die Psychoanalyse als Kulturtheorie gelegt hat (vgl. S.80ff.). Die Verfasser weisen darauf hin, dass Theodor Adornos Frankfurter "Institut für Sozialforschung” schließlich auch nach seiner Rückkehr im Jahr 1949 im Restaurationsklima der Adenauerzeit nur denkbar schlechte Rezeptionsbedingungen vorgefunden habe (vgl. S.93ff.).

Die kulturwissenschaftliche Modernisierung etablierter Disziplinen in Deutschland traf dann mit der Germanistik und der Volkskunde auf Institutionen, die sich in erheblichem Ausmaß in den Apparat der Nazi-Herrschaft hatten einbauen lassen (vgl. S.23ff.). 1971 wurde das Tübinger "volkskundliche Institut” in "Institut für Empirische Kulturwissenschaft” umbenannt, um symbolisch der Absicht einer "Entnationalisierung” und "Internationalisierung” Ausdruck zu verleihen (S.25).


Ausländische Einflüsse auf die deutsche Kulturwissenschaft

In dem Umriss des internationalen Feldes, den Böhme et. al. präsentieren, lassen sich zwei Punkte mit einem entscheidenden Anregungspotential für die deutsche Szene isolieren.

Schon im Jahr 1964 war an der Universität von Birmingham ein "Center for Cultural Studies” gegründet worden, das als Ausgangspunkt der Institutionalisierung einer Forschungsrichtung gilt, die sich nicht nur dem Höhenkammdiskurs, sondern auch der "popular culture” widmet (S.11ff.).

Anfang der 80er Jahre lehrte Michel Foucault einige Semester mit nicht unbeträchtlicher Wirkung im kalifornischen Berkeley. Seine Relativierung des Autors als entscheidende Institution der Bedeutungskonstitution lenkte die Aufmerksamkeit auf das Geflecht der Diskurse, in das literarische Texte verwoben sind. In Anlehnung an Foucault prägte Stephen Greenblatt von der University of California den New Historicism, der die in den literarischen Texten zirkulierenden sozialen Energien und die in ihnen präsenten kulturellen Praktiken untersucht (vgl. S.14ff.).

Die Autoren weisen auch darauf hin, dass schon seit den 80er Jahren die deutsche Mediävistik der "historischen Kulturwissenschaft vorgearbeitet” habe (S.32). Die Germanistik war in dieser Zeit von der "Rivalität zwischen der Tradition philologisch-hermeneutischer Methoden und den anti-hermeneutischen Ansätzen der Diskurstheorie und des Poststrukturalismus” geprägt. Der aktuellen Empfehlung, die Germanistik zu einer "Medienkulturwissenschaft” zu entwickeln, stellen Böhme et. al. Positionen gegenüber, die als Lehrziel die Fähigkeit verteidigen, "einen anspruchsvollen literarischen Text produktiv [...] lesen” zu können (S.26ff.). Gerade hier hätte man von den Autoren dann doch auch eine abwägende Stellungnahme erwartet, wenn ich auch verstehen kann, dass eine solche historische Skizze für Anfänger deren Einstellungen nicht zu sehr präfigurieren sollte.


II. Arbeitsfelder

"Gegenstand der Kulturwissenschaft” ist der "ganze Bereich menschlicher Tätigkeiten”. Diese programmatische Erklärung zielt in erster Linie auf eine "Entprivilegierung der sogenannten hohen Kultur” und auf eine "Öffnung des Quellenkorpus” (S.106ff.). Als besondere Forschungsfelder und Schwerpunkte der Lehre werden von Böhme et. al. sechs Bereiche aufgelistet:

  • "Wissenschaftskulturen”. Wissenschaft wird von ihnen als "kulturelle Praxis” verstanden, die sich in einem Dispositiv abspielt, das von den verwendeten Apparaturen über die experimentellen Verfahren bis zur Eingliederung in die "Gesamtkultur” reicht, wo die Echos wissenschaftlicher Praktiken in den "Sphären” der "Literatur, des Theaters oder anderer Künste und Medien zirkulieren” (S.113f.);

  • "Kulturgeschichte der Natur”, wobei Natur als die Geschichte all dessen gedacht wird, "was die Menschen aufgrund kognitiver, technischer, ästhetischer, religiöser u.a. Modelle” als "Natur entworfen haben” (S.118ff.). Die Autoren erklären, dass der Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur von historisch unterschiedlichen Leitbildern reguliert wird, in denen die Natur entweder kontemplativ betrachtet oder instrumentell beherrscht, ökologisch musealisiert oder vom Menschen kulturell gestaltet wird (S.123ff.).

  • "Historische Anthropologie”, die jedoch in dieser "Einführung” im Grunde nicht als "Gegenstandsbereich begriffen” wird, sondern als eines der "organisierenden Zentren” der Kulturwissenschaft” (S.138). Eine wichtige Rolle spielt hier die Auseinandersetzung mit der angelsächsischen Kulturanthropologie, deren Hauptvertreter Clifford Geertz in Anlehnung an Max Weber den Menschen als ein "Wesen” fasst, das in "selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt” ist (S.134f.).

    Die Kritik dieses Ansatzes in der Debatte über die Krise der ethnographischen Repräsentation wird von den Verfassern gleich mitgeliefert: Geertz‘ Analogie von Kultur und Text verfällt dem Verdikt der Undifferenziertheit, James Clifford moniert die Art und Weise, wie Geertz seine "Autorität als Interpret” etabliert und Paul Rabinow wirft ihm einen Rückzug auf eine "Hermeneutik des interesselosen Wohlgefallens” vor (S.136f.).

  • "Erinnerung und Gedächtnis” sind Arbeitsfelder, deren Aktualität die Autoren zum einen aus dem Siegeszug der Computertechnik ableiten, die "alle früheren Aufzeichnungsformen in den Schatten stellt”. Dazu komme die Konjunktur der Neurowissenschaften und das Problem, das sich mit dem "Aussterben der Zeitzeugen des Holocaust” stellt (S.147ff.). Die Studien des Ehepaars Assmann setzen auf diesem Gebiet die Maßstäbe (S.153ff.).

  • Die "Kulturgeschichte der Technik” trägt für Böhme et. al. der Tatsache Rechnung, dass die moderne Kultur "technomorph” ist. Die Kulturwissenschaft bricht mit der "bildungsbürgerlichen Tradition des 19. Jahrhunderts”, für die "Kultur” nur das Reich der "Künste”, der "Bildung” und des "guten Geschmacks” ist (S.164ff.).

  • "Mediale Praktiken” endlich bilden ein Arbeitsfeld, in dem Medien nicht nur als "Übermittler von Botschaften” betrachtet werden, sondern auch als Gegenstände, die eine magische "Faszinationskraft” ausüben (S.179ff.). Das eigentliche "Gründungsdokument” der Medientheorie ist Marshall McLuhans "Understanding Media” von 1964 (S.183ff.). Indem er die Auswirkungen der "Materialität der Kommunikation” für die "Stiftung von kulturellem Sinn” herausstellt, unterminiert McLuhan den rein ideengeschichtlichen Ansatz der Geisteswissenschaft (S.187). McLuhan versucht, den "medialen Prothesen” des Menschen "durch Bewußtmachung ihre determinierende Macht zu nehmen”.

    Die Autoren unterstellen Friedrich Kittler, dass er sich in McLuhans Gefolge darauf beschränke, diese "Determinationsmacht” überall "bestätigt zu finden” (S.188 u. 191). Vilém Flusser dagegen betont die Chance der Menschheit, in eine "telematische Gesellschaft” überzugehen, die dem "genuin emanzipatorischen Charakter” der neuen Kommunikationstechniken gerecht werde (S.193 u. 196).


III. Perspektiven und Institutionen

Die "Leitfigur” der kulturwissenschaftlichen Diskussion ist der "flexible Generalist”. Er ist auf der einen Seite "disziplinär gefestigt”, auf der anderen Seite aber "hinreichend unspezialisiert”, um auch zwischen verschiedenen "Sphären der Wissenschaft vermitteln zu können”. Für seine "Analyse- und Kommunikationsfähigkeiten” wird ein "langfristiger gesellschaftlicher Bedarf” prognostiziert. Aber eine akademische Institutionalisierung der Kulturwissenschaft – so Böhme et. al. – lasse sich damit nicht legitimieren, wenn sich ihre Fragestellungen im Grunde auch in die "philologischen, historischen und kunstwissenschaftlichen Disziplinen” integrieren ließen.

Die Autoren vertreten die These, dass die Kulturwissenschaft ihre Identität als Disziplin dort gewinnen müsse, wo in den Geisteswissenschaften aufgrund der "Aufsplitterung ihrer Gegenstandsbereiche” und immer komplexerer Problemstellungen ein Unbehagen entsteht, das nach einer ebenso komplexen Synthese auf hohem Niveau, einer "Rückgewinnung übergreifender Fragestellungen” verlangt (S.203ff.).


Kulturwissenschaftliche Studiengänge in Deutschland

In der Bundesrepublik hat sich inzwischen eine Reihe kulturwissenschaftlicher Studiengänge etabliert. Schon 1974 war an der Universität von Frankfurt am Main aus dem alten Institut für Volkskunde das Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie hervorgegangen (S.216f.). Einen exemplarischen Fall für die Umwandlung eines bereits in der DDR existierenden kulturwissenschaftlichen Studienangebots bietet die Humboldt- Universität zu Berlin, wo man 1994 zur Neustrukturierung schritt (S.212f.).

Das ehrgeizigste Projekt ist sicher der Diplomstudiengang an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder, die nach der Wende neu eingerichtet worden ist. Der Studienablauf verspricht ein hohes Maß an Wahlmöglichkeiten. Obligatorisch ist die Ausbildung in zwei modernen Fremdsprachen, ein Auslandsaufenthalt und ein studienbezogenes Praktikum. Da sich Berufsprofile heute in einem rasanten Umbruch befinden, hält man es für wenig "sinnvoll, auf fest definierte Berufsfelder hin auszubilden”. Die Absolventen sollen sich "auf unterschiedliche Berufsanforderungen einstellen können” (S.223ff.). Die Vorstellung einer Reihe von Forschungseinrichtungen und Graduiertenkollegs rundet den Band ab (S.232ff.).

Unentschlossene Studienanfänger wird das anspruchsvolle Niveau der hier entfalteten Ansätze und die lange Liste allein der zur Einführung "besonders” empfohlenen Titel im Literaturverzeichnis abschrecken. Ambitionierte Studenten dagegen könnten die Perspektiven, die das Buch eröffnet, so attraktiv finden, dass sie sich von den traditionellen Geisteswissenschaften abwerben lassen.



Thomas Schwarz
DAAD-Lektorat
Department of German Language and Literature
Keimyung Universität
Sindang-dong 1000 Dalseo-gu
704-701 Daegu
South Korea

Ins Netz gestellt am 26.10.2000

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