Als einen wichtigen Bruch in der Genealogie der Kulturwissenschaften aus dem
19. Jahrhundert heraus markieren Böhme et. al. den Lamprecht-Streit. Als der
Leipziger Historiker Karl Lamprecht Ende des 19. Jahrhunderts seine
"Deutsche Geschichte” auf den Markt brachte, zog er mit seiner
kulturwissenschaftlichen Methode eine derart vernichtende Kritik auf sich, dass sich
in Deutschland die Einführung sozialhistorischer, strukturgeschichtlicher und
mentalitätshistorischer Ansätze nachhaltig verzögerte (vgl. S.50ff.).
Die französische Mentalitätsgeschichte wendet sich in ihrer 1929
gegründeten Zeitschrift "Annales” gegen das Primat der politischen
Geschichte und erschließt Untersuchungsfelder wie die Einstellungen der
Menschen zum Tod, zur Sexualität, zur Familie und zur Arbeit. Während
die Ideengeschichte den Denker in einem körperlosen und abstrakten
Universum von Ideen situiert, fragt die Mentalitätsgeschichte, welche
Gedanken sich in einer gegebenen historischen Konstellation überhaupt
denken lassen (vgl. S.16ff.).
Die Nazi-Diktatur wird von den Autoren als eine weitere
Schaltstelle für eine Blockade der Entwicklung der Kulturwissenschaften
herausgestellt, die sich nun ins Exil verlagerte (vgl. S.62). Zu den Betroffenen
gehörten sowohl der Kulturphilosoph Ernst Cassirer, der eine "Theorie
der symbolischen Formen” ausgearbeitet hatte (vgl. S.66ff.), als auch Sigmund
Freud, der mit kulturanalytischen Schriften wie "Das Unbehagen in der Kultur”
(1939) die Basis für die Psychoanalyse als Kulturtheorie gelegt hat (vgl.
S.80ff.). Die Verfasser weisen darauf hin, dass Theodor Adornos Frankfurter
"Institut für Sozialforschung” schließlich auch nach seiner
Rückkehr im Jahr 1949 im Restaurationsklima der Adenauerzeit nur denkbar
schlechte Rezeptionsbedingungen vorgefunden habe (vgl. S.93ff.).
Die
kulturwissenschaftliche Modernisierung etablierter Disziplinen in Deutschland traf
dann mit der Germanistik und der Volkskunde auf Institutionen, die sich in
erheblichem Ausmaß in den Apparat der Nazi-Herrschaft hatten einbauen
lassen (vgl. S.23ff.). 1971 wurde das Tübinger "volkskundliche Institut” in
"Institut für Empirische Kulturwissenschaft” umbenannt, um symbolisch
der Absicht einer "Entnationalisierung” und "Internationalisierung”
Ausdruck zu verleihen (S.25).
Ausländische Einflüsse auf die deutsche Kulturwissenschaft
In dem Umriss des internationalen Feldes, den Böhme et. al.
präsentieren, lassen sich zwei Punkte mit einem entscheidenden
Anregungspotential für die deutsche Szene isolieren.
Schon im Jahr 1964 war
an der Universität von Birmingham ein "Center for Cultural Studies”
gegründet worden, das als Ausgangspunkt der Institutionalisierung einer
Forschungsrichtung gilt, die sich nicht nur dem Höhenkammdiskurs, sondern
auch der "popular culture” widmet (S.11ff.).
Anfang der 80er Jahre lehrte
Michel Foucault einige Semester mit nicht unbeträchtlicher Wirkung im
kalifornischen Berkeley. Seine Relativierung des Autors als entscheidende Institution
der Bedeutungskonstitution lenkte die Aufmerksamkeit auf das Geflecht der
Diskurse, in das literarische Texte verwoben sind. In Anlehnung an Foucault
prägte Stephen Greenblatt von der University of California den New
Historicism, der die in den literarischen Texten zirkulierenden sozialen Energien und
die in ihnen präsenten kulturellen Praktiken untersucht (vgl. S.14ff.).
Die
Autoren weisen auch darauf hin, dass schon seit den 80er Jahren die deutsche
Mediävistik der "historischen Kulturwissenschaft vorgearbeitet” habe
(S.32). Die Germanistik war in dieser Zeit von der "Rivalität zwischen der
Tradition philologisch-hermeneutischer Methoden und den anti-hermeneutischen
Ansätzen der Diskurstheorie und des Poststrukturalismus” geprägt. Der
aktuellen Empfehlung, die Germanistik zu einer "Medienkulturwissenschaft” zu
entwickeln, stellen Böhme et. al. Positionen gegenüber, die als Lehrziel
die Fähigkeit verteidigen, "einen anspruchsvollen literarischen Text
produktiv [...] lesen” zu können (S.26ff.). Gerade hier hätte man von den
Autoren dann doch auch eine abwägende Stellungnahme erwartet, wenn ich
auch verstehen kann, dass eine solche historische Skizze für Anfänger
deren Einstellungen nicht zu sehr präfigurieren sollte.
II. Arbeitsfelder
"Gegenstand der Kulturwissenschaft” ist der "ganze Bereich
menschlicher Tätigkeiten”. Diese programmatische Erklärung zielt in
erster Linie auf eine "Entprivilegierung der sogenannten hohen Kultur” und auf
eine "Öffnung des Quellenkorpus” (S.106ff.). Als besondere
Forschungsfelder und Schwerpunkte der Lehre werden von Böhme et. al.
sechs Bereiche aufgelistet:
"Wissenschaftskulturen”. Wissenschaft wird von ihnen als
"kulturelle Praxis” verstanden, die sich in einem Dispositiv abspielt, das von
den verwendeten Apparaturen über die experimentellen Verfahren bis zur
Eingliederung in die "Gesamtkultur” reicht, wo die Echos wissenschaftlicher
Praktiken in den "Sphären” der "Literatur, des Theaters oder
anderer Künste und Medien zirkulieren” (S.113f.);
"Kulturgeschichte der Natur”, wobei Natur als die Geschichte all dessen
gedacht wird, "was die Menschen aufgrund kognitiver, technischer,
ästhetischer, religiöser u.a. Modelle” als "Natur entworfen
haben” (S.118ff.). Die Autoren erklären, dass der Stoffwechsel zwischen
Mensch und Natur von historisch unterschiedlichen Leitbildern reguliert wird, in
denen die Natur entweder kontemplativ betrachtet oder instrumentell beherrscht,
ökologisch musealisiert oder vom Menschen kulturell gestaltet wird
(S.123ff.).
"Historische Anthropologie”, die jedoch in dieser
"Einführung” im Grunde nicht als "Gegenstandsbereich
begriffen” wird, sondern als eines der "organisierenden Zentren” der
Kulturwissenschaft” (S.138). Eine wichtige Rolle spielt hier die
Auseinandersetzung mit der angelsächsischen Kulturanthropologie, deren
Hauptvertreter Clifford Geertz in Anlehnung an Max Weber den Menschen als ein
"Wesen” fasst, das in "selbstgesponnene Bedeutungsgewebe
verstrickt” ist (S.134f.).
Die Kritik dieses Ansatzes in der Debatte über die
Krise der ethnographischen Repräsentation wird von den Verfassern gleich
mitgeliefert: Geertz‘ Analogie von Kultur und Text verfällt dem Verdikt der
Undifferenziertheit, James Clifford moniert die Art und Weise, wie Geertz seine
"Autorität als Interpret” etabliert und Paul Rabinow wirft ihm einen
Rückzug auf eine "Hermeneutik des interesselosen Wohlgefallens”
vor (S.136f.).
"Erinnerung und Gedächtnis” sind Arbeitsfelder, deren
Aktualität die Autoren zum einen aus dem Siegeszug der Computertechnik
ableiten, die "alle früheren Aufzeichnungsformen in den Schatten
stellt”. Dazu komme die Konjunktur der Neurowissenschaften und das Problem,
das sich mit dem "Aussterben der Zeitzeugen des Holocaust” stellt
(S.147ff.). Die Studien des Ehepaars Assmann setzen auf diesem Gebiet die
Maßstäbe (S.153ff.).
Die "Kulturgeschichte der Technik” trägt für Böhme et.
al. der Tatsache Rechnung, dass die moderne Kultur "technomorph” ist. Die
Kulturwissenschaft bricht mit der "bildungsbürgerlichen Tradition des
19. Jahrhunderts”, für die "Kultur” nur das Reich der
"Künste”, der "Bildung” und des "guten Geschmacks” ist
(S.164ff.).
"Mediale Praktiken” endlich bilden ein Arbeitsfeld, in dem Medien nicht
nur als "Übermittler von Botschaften” betrachtet werden, sondern
auch als Gegenstände, die eine magische "Faszinationskraft”
ausüben (S.179ff.). Das eigentliche "Gründungsdokument” der
Medientheorie ist Marshall McLuhans "Understanding Media” von 1964
(S.183ff.). Indem er die Auswirkungen der "Materialität der
Kommunikation” für die "Stiftung von kulturellem Sinn” herausstellt,
unterminiert McLuhan den rein ideengeschichtlichen Ansatz der
Geisteswissenschaft (S.187). McLuhan versucht, den "medialen Prothesen”
des Menschen "durch Bewußtmachung ihre determinierende Macht zu
nehmen”.
Die Autoren unterstellen Friedrich Kittler, dass er sich in McLuhans
Gefolge darauf beschränke, diese "Determinationsmacht”
überall "bestätigt zu finden” (S.188 u. 191). Vilém Flusser
dagegen betont die Chance der Menschheit, in eine "telematische
Gesellschaft” überzugehen, die dem "genuin emanzipatorischen
Charakter” der neuen Kommunikationstechniken gerecht werde (S.193 u.
196).
III. Perspektiven und Institutionen
Die "Leitfigur” der kulturwissenschaftlichen Diskussion ist der "flexible
Generalist”. Er ist auf der einen Seite "disziplinär gefestigt”, auf der
anderen Seite aber "hinreichend unspezialisiert”, um auch zwischen
verschiedenen "Sphären der Wissenschaft vermitteln zu können”.
Für seine "Analyse- und Kommunikationsfähigkeiten” wird ein
"langfristiger gesellschaftlicher Bedarf” prognostiziert. Aber eine akademische
Institutionalisierung der Kulturwissenschaft – so Böhme et. al. – lasse sich
damit nicht legitimieren, wenn sich ihre Fragestellungen im Grunde auch in die
"philologischen, historischen und kunstwissenschaftlichen Disziplinen”
integrieren ließen.
Die Autoren vertreten die These, dass die
Kulturwissenschaft ihre Identität als Disziplin dort gewinnen müsse, wo in
den Geisteswissenschaften aufgrund der "Aufsplitterung ihrer
Gegenstandsbereiche” und immer komplexerer Problemstellungen ein Unbehagen
entsteht, das nach einer ebenso komplexen Synthese auf hohem Niveau, einer
"Rückgewinnung übergreifender Fragestellungen” verlangt
(S.203ff.).
Kulturwissenschaftliche Studiengänge in Deutschland
In der Bundesrepublik hat sich inzwischen eine Reihe kulturwissenschaftlicher
Studiengänge etabliert. Schon 1974 war an der Universität von Frankfurt
am Main aus dem alten Institut für Volkskunde das Institut für
Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie hervorgegangen (S.216f.).
Einen exemplarischen Fall für die Umwandlung eines bereits in der DDR
existierenden kulturwissenschaftlichen Studienangebots bietet die Humboldt-
Universität zu Berlin, wo man 1994 zur Neustrukturierung schritt (S.212f.).
Das
ehrgeizigste Projekt ist sicher der Diplomstudiengang an der
Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina in
Frankfurt an der Oder, die nach der Wende neu eingerichtet worden ist. Der
Studienablauf verspricht ein hohes Maß an Wahlmöglichkeiten.
Obligatorisch ist die Ausbildung in zwei modernen Fremdsprachen, ein
Auslandsaufenthalt und ein studienbezogenes Praktikum. Da sich Berufsprofile
heute in einem rasanten Umbruch befinden, hält man es für wenig
"sinnvoll, auf fest definierte Berufsfelder hin auszubilden”. Die Absolventen
sollen sich "auf unterschiedliche Berufsanforderungen einstellen können”
(S.223ff.). Die Vorstellung einer Reihe von Forschungseinrichtungen und
Graduiertenkollegs rundet den Band ab (S.232ff.).
Unentschlossene Studienanfänger wird das anspruchsvolle Niveau der hier
entfalteten Ansätze und die lange Liste allein der zur Einführung
"besonders” empfohlenen Titel im Literaturverzeichnis abschrecken.
Ambitionierte Studenten dagegen könnten die Perspektiven, die das Buch
eröffnet, so attraktiv finden, dass sie sich von den traditionellen
Geisteswissenschaften abwerben lassen.
Thomas Schwarz
DAAD-Lektorat
Department of German Language and Literature
Keimyung Universität
Sindang-dong 1000 Dalseo-gu
704-701 Daegu
South Korea
Ins Netz gestellt am 26.10.2000
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