Seifert über Füssel u.a.: Geschichte des Börsenvereins

Otto Seifert

Aufriss der Geschichte des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels 1825-2000

  • Stephan Füssel/Georg Jäger/Hermann Staub/Monika Estermann (Hg.): Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels 1825-2000. Ein geschichtlicher Aufriss. Frankfurt am Main: Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V. 2000. 416 S. Geb. DM 89,-.
    ISBN 3-7657-2297-9.


Gliederung des Buches

Einleitung: Roland Ulmer, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels: Grußwort (S. 9). | Klaus G. Saur, Vorsitzender der Historischen Kommission: Grußwort (S. 11). Stephan Füssel, Georg Jäger, Hermann Staub, Monika Estermann: Vorwort (S. 13-14) | Klaus G. Saur, Vorsitzender der Historischen Kommission: Grußwort (S. 11). Stephan Füssel, Georg Jäger, Hermann Staub, Monika Estermann: Vorwort (S. 13-14)
Stationen der Börsenvereinsgeschichte: Stephan Füssel: Die Reformbestrebungen im Buchhandel bis zur Gründung des Börsenvereins (1765-1825) (S. 17-29). | Volker Titel: Von der Gründung des Börsenvereins bis zur Krönerschen Reform (1825-1888) (S. 30-59). | Georg Jäger: Von der Krönerschen Reform bis zur Reorganisation des Börsenvereins 1928 (S. 60-90). | Jan-Pieter Barbian: Der Börsenverein in den Jahren 1933-1946 (S. 91-117). | Reimar Riese: Der Börsenverein in der Sowjetischen Besatzungszone und der Deutschen Demokratischen Republik (S. 118-160). | Monika Estermann: Der Börsenverein in den Westzonen und in der Bundesrepublik Deutschland (S. 161-191). | Monika Estermann: Der Börsenverein nach der Fusion der beiden Verbände 1991 (S. 192-201).
Tätigkeitsfelder: Branchenpolitik (S. 205-265) | Dienstleistungen für die Branche (S. 266-308) | Kultur- und sozialpolitisches Engagement (S. 309-353) (alle untergliedert in einzelne Themen mit unterschiedlichen Autoren) | Dokumentation (S. 357-393) | Literaturverzeichnis, Register (S. 407-416) | Bildverzeichnis (S. 416).
Wissenschaftlicher Apparat: Der wissenschaftliche Apparat, vorbildlich gestaltet, bietet (besonders in "Stationen der Börsenvereinsgeschichte") den Interessenten einen schnellen Einstieg auch in Detailfragen. Das Literaturverzeichnis, das die grundlegende und weiterführende Literatur zur Geschichte des Börsenvereins und des Buchhandels erfaßt, erhöht den Wert der Schrift.



Relevanz des geschichtlichen Aufrisses

  1. Die Schrift knüpft an Traditionen des Börsenvereins und seiner Historischen Kommission an, um die Geschichte des Vereins und des Buchhandels in Deutschland zu pflegen. Sie blickt auf ein 175jähriges Bestehen des Wirtschaftsverbandes zurück.

  2. Sie verfolgt die Geschichte des Börsenvereins bis in die heutige Zeit und untersucht erstmals zusammenhängend die Jahre 1933 bis 1945, die Phase der Spaltung Deutschlands und den zurückgelegten Weg nach der Fusion der beiden Verbände der BRD und DDR.

  3. Der "Aufriss" gewährt Einblicke in Teilgebiete der Arbeit des Börsenvereins und regt die weitere Erforschung an.

  4. Eine Dokumentation enthält Übersichten über die Vorsteher des Vereins, die Mitglieder des Vorstandes, die Ausschüsse, die Mitgliederstatistik und andere Teile des Verbandes.

  5. Schließlich geben im letzten Abschnitt einige Ausführungen einen Ausblick auf zukünftige neue Tätigkeitsfelder des Vereins.

Zur Tradition der Geschichtsschreibung

Bereits im Oktober 1907 empfahl der ehemalige Vorsteher Albert Brockhaus, das 100jährige Jubiläum langfristig vorzubereiten. Am 15. Juli 1920 beschloß der Vorstand, einen Fond (150 bis 200.000 RM) für das Jubiläum zu bilden und eine einbändige Geschichte des Buchhandels in vornehmer Ausstattung und illustriert herauszugeben. Mit der technischen Vorbereitung beauftragte er Gustav Kirstein vom Verlagsausschuß. Im Juli 1922 erhielt der Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums in Leipzig, Dr. Friedrich Schulze, den Auftrag, das Werk zu verfassen.1 Es erschien, buchtechnisch gut gestaltet, am 1. Mai 1925 in Leipzig unter dem Titel: "Der deutsche Buchhandel und die geistigen Strömungen der letzten hundert Jahre".2

Idee der Schrift von 1925

Die Idee zum Buch beschrieb Gustav Kirstein wie folgt: "Es hieß also einen Geisteswert schaffen, ein lesbares Buch, lesbar für jeden Gebildeten nicht nur für Zunftgenossen."3 Es soll keine übliche Festschrift entstehen, keine Geschichte des Vereinslebens, keine Beschränkung auf Statuten und Akten, sondern eine Geschichte des deutschen Buchhandels in den letzten hundert Jahren im Zusammenhang mit der "Bildung" und der Reaktion der leitenden Köpfe des Buchhandels auf die geistigen Strömungen ihrer Zeit sowie dem daraus resultierenden Treiben und Trachten des Buchhändlers.

Konzeption und Koordination der Vereinsgeschichte 2000

Der Vorsteher des Börsenvereins knüpft im Grußwort an diese Traditionen an und betont, daß die Schrift einen Zugang zur Entwicklung des Buchhandels und seines Berufsverbandes bietet (S. 9). Der Vorsitzende der Historischen Kommission geht ebenso vom Erfahrungsschatz der Geschichtsschreibung zum deutschen Buchhandel aus und stellt grundlegende Werke dazu vor.4 Er erklärt, daß der vorliegende Band erstmals versucht, "die Geschichte des Börsenvereins in ihrer ganzen Spannweite auszuloten" (S. 11). Das Vorwort bezeichnet den "Aufriss" als Handreichung der Geschichte des Verbandes, Präsentation seiner Tätigkeitsfelder sowie als Material- und Quellensammlung (S. 13-14).

Die Dreiteilung des "Aufrisses" bedingt, daß die "Stationen der Börsenvereinsgeschichte" nur über ca. 44,2% des Umfangs der Schrift verfügen können. Zweifellos erwecken die Beiträge von Stephan Füssel und Volker Titel Hoffnungen auf die gesamte Publikation, die Traditionspflege der Geschichtsschreibung sowie auf neue Erkenntnisse. Aber der enge Rahmen für die einzelnen Autoren, die sich in der Mehrzahl auf dem Felde der Buchhandelsgeschichte ausgewiesen haben, begrenzt deren fachliches Vermögen, um "die Geschichte des Börsenvereins in ihrer ganzen Spannweite auszuloten" (S. 11).

Friedrich Schulze bezeichnete bereits 1925 die Buchhandelsgeschichte als eine gleichberechtigte historische Disziplin neben einer Vereinsgeschichte. Zwischen beiden müsse in seiner Jubiläumsschrift das Spannungsfeld gelöst werden.5 Die Herausgeber der vorliegenden Schrift konzentrieren sich auf die Vereinsgeschichte als Schwerpunkt. Das bedingt aber, die Spezifik einer Verbandsgeschichte mehr zu beachten.

Fragen zur Konzeption

Die Satzungen des Vereins sind zwar in den einzelnen Abschnitten zitiert, die darin zu unterschiedlichen Zeiten festgelegten Aufgaben, Strukturen und festgeschriebenen Rechte und Pflichten der Gremien und Mitglieder sowie die Bedingungen für die Mitgliedschaft jedoch nicht durchgehend untersucht. Zum Beispiel schrieb die Satzung von 1935 für eine Zeit die Zusammenarbeit des Vereins mit dem Bund Reichsdeutscher Buchhändler e.V. und ihre gemeinsame Führung durch den Vorsteher des Börsenvereins vor. 1941 strichen der Vorsteher und der Generalsekretär des Börsenvereins die Festlegung in der Satzung, daß der Zweck des Verbandes nicht auf wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb ausgerichtet sei. Damit veränderte sich grundsätzlich die Aufgabe des Verbandes.

Das Börsenblatt war laut Satzung die Vereinszeitung, in der, neben der Buchwerbung, der Vorsteher und Vorstand ihre Bekanntmachungen veröffentlichten, Grundsatzdebatten zum Gesamtbuchhandel stattfanden und später die nationalsozialistische Ausrichtung verkündet wurde. Das Börsenblatt ist in einzelnen Beiträgen genannt, jedoch nicht durchgehend als das Sprachrohr des Vereins untersucht.

Völlig unverständlich erscheint, hoffentlich nicht absichtlich, daß die Herausgeber die Geschäftsstelle mit zeitweise 150 Beschäftigten und ihrem ab 1923 mit zunehmender Macht ausgestatteten Geschäftsführer aus den "Stationen der Verbandsgeschichte" ausgliederten. Unter der Leitung der Vorstehers Wilhelm Baur entwickelte sich die Geschäftsstelle ab 1934 zur "Stabsstelle", die Funktionen des ehemaligen Vorstandes nach dem NS-Führerprinzip übernahm. Die Abteilungen der Geschäftsstelle setzten maßgeblich mit die Kulturbarbarei der Nationalsozialisten um und halfen, den deutschen Buchhandel sowie den im besetzten Europa zu zerstören.

Fragen zur Koordinierung

  1. Während in den ersten beiden "Stationen" der Versuch in dem engen (auch zeitlich?) vorgegebenen Rahmen vorgenommen wird, Zusammenhänge zwischen dem Verein, den Veränderungen in der Buchherstellung, den Strukturveränderungen im Verlag, Sortiment und Kommissionshandel, dem Buchmarkt und den politischen Rahmenbedingungen für das Buch aufzuzeigen, findet man dies aber kaum in allen "Stationen der Geschichte" als durchgehende Linie.

  2. Beim Lesen der verschiedenen Abschnitte über die Zeit bis 1945 tauchen regelmäßig zwei Fragen auf:

    • Hat sich der Charakter des Börsenvereins in den 175 Jahren gewandelt?

    • Warum spielt dieses Problem keine Rolle in der Gesamtschau?

    Friedrich Schulze schrieb: "Der Börsenverein war 1825 aus liberalem Geist entstanden. Es war namentlich die nationalliberale Forderung deutscher Einheit und die kulturliberale Forderung der Beseitigung aller das geistige Leben einengenden Bestimmungen, an deren Verwirklichung der Verein zu seinem Teil mitgearbeitet hatte."6

    Johann Goldfriedrich hatte ähnliche Gedanken geäußert. Auch Gustav Kirstein hob hervor, daß der Börsenverein und der Buchhandel sein Werden und Wachsen in der Vergangenheit liberalem Geist und demokratisch ausgerichteten Männern verdankt.7

    Für die Jahre nach 1870 analysiert Friedrich Schulze eine fachliche Differenzierung und Spezialisierung im Buchhandel und zugleich einen ebenso einsetzenden "geistigen Spaltungsprozeß ohnegleichen" durch politische und kirchliche Parteien und Vereine, eine Politisierung und Konfessionalisierung des Buchhandels.8

    Aufschluß über einen geistigen Wandel geben viele Akten des Börsenvereins aus dieser und der nachfolgenden Zeit, aber auch die Berichte des Börsenblattes und zahlreiche Publikationen und gedruckte Dokumente.

    In Unterlagen zum 100jährigen Jubiläum 1925 widerspricht der Börsenverein selbst grundsätzlich, daß der Verein und seine Vertreter in der Vergangenheit liberal und demokratisch gewesen seien. Die Inhaber der Firmen und die Vertreter des Buchhandel wären dagegen mit wenigen Ausnahmen konservativ und in ihrer Einstellung zu sozialen Fragen patriarchalisch gewesen. Die Feststellung von Gustav Kirstein im Börsenblatt zum Buch von Friedrich Schulze würde nur dessen Einstellung "(Jude)" kennzeichnen.9

    Die vorliegende Geschichte des Börsenvereins bildet auf Seite 95 das "Sofortprogramm des deutschen Buchhandels" vom 12. April 1933 ab. Es enthält (sehr klein gedruckt und nicht beachtet) folgenden Absatz: "Die Einstellung des Gesamtbuchhandels zu seinen Aufgaben führte von jeher zur Besetzung seiner Vorstandsämter mit nationalgesinnten Männern. Rassenfremde gehören seit einem halben Jahrhundert dem Vorstand nicht an."

    Da die offiziellen Erklärungen sowie das Nachforschen zum Wandel des Börsenvereins von liberalen, demokratischen zu konservativen, nationalistischen Positionen in dem Abschnitt, der dem von 1933-1945 vorangeht, keinen Platz finden, wird die schnelle Selbstgleichschaltung des Börsenvereins im ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft schwer nachvollziehbar.

  3. Das Kapitel "Berufsbildung" geht auf die Reichsschule des Deutschen Buchhandels ein (S. 261). Logischerweise behandelt aber auch Jan-Pieter Barbian diese einschneidende Tat des Börsenvereins (S. 133). Die Anlage des Buches schien aber beiden so gut wie keinen Spielraum zu bieten, um die Rolle der Reichsschule klar zu analysieren. Der Börsenverein konzipierte verantwortlich die Aufgaben der Schule, die "Kameradschaftslager" nach dem Vorbild der HJ und vorwiegend eine Stätte der politischen und ideologischen Ausrichtung, der Überwachung und Auslese der Lehrlinge sein sollte. Der Verein trug aber auch die finanzielle und organisatorische Hauptlast für die Schule.

    Der Geschäftsführer Dr. Heß wies im April 1942 an, die Reichsschule vorläufig zu schließen und fast alle ihre Akten zu vernichten. Zur gleichen Zeit übergab die Geschäftsstelle die gesamten Unterkünfte für die Schüler an die Wehrmacht.10 Erst ein Jahr danach überließ sie die "Verwaltung", der nur noch auf dem Papier existierende Schule, der Reichsschrifttumskammer. Dieser Schritt war wohl kaum ein großer Verlust für den Verband.

  4. Schließlich offenbart sich in einigen Abschnitten, daß wirtschaftliche Fragen einen unterschiedlichen Rang einnehmen.

    Nach wichtigen Veränderungen in der Buchproduktion seit 1826 stieg die "Neuproduktion des Buchhandels" bis 1843 schnell an, verlor aber in den folgenden Jahren 40% und erreichte den Stand von 1843 erst wieder 1876. Danach nahm sie wieder sprunghaft zu und erreichte 1913 das Dreifache von 1843. Mit dem Kriegsbeginn 1914 sank die Neuproduktion sehr stark. Sie gewann in den Jahren 1925 bis 1927 für eine kurzen Zeit wieder den Vorkriegsstand, um dann anschließend bis 1940 erneut kräftig einzubrechen.11

    Zweifellos spielte der Erste Weltkrieg für das Buch und seinen Markt in fast allen europäischen Ländern eine einschneidende Rolle. 1933 wurde für die Gesamteinfuhr von Büchern nach Deutschland nur 33,6% im Vergleich zu 1913 gemeldet, für die aus der Schweiz nur 20% und für die aus Großbritannien sogar nur 9,3%. Deutschland verlor im Verhältnis zu 1913 im Jahre 1927 zudem 52% seiner Gesamtausfuhr.12 Der Börsenverein und seine Auslandsabteilung werteten die Lage auf dem Buchmarkt intern noch kritischer.13 Die Herausforderungen des Buchmarktes, ihre Ursachen, die Folgen für den Buchhandel und seinem Verband als Interessenvertreter, erhalten einen verschiedenartigen Stellenwert und sind nicht durchgehend behandelt.

Fragen zu einzelnen Abschnitten der Börsenvereinsgeschichte

Georg Jäger gibt die von ihm genutzten Quellen (Orginaldokumente des Börsenvereins) im Archiv mit "Findbuch, Leipzig 1994 (Veröffentlichung der Sächsischen Staatsarchiv Leipzig; 6)" an (S. 87). Volker Titel führt dagegen die genutzten archivalischen Quellen exakt auf und trennt sie von den gedruckten (S. 58). Das könnte eine Ursache sein, warum einige einschneidende Probleme der Entwicklung des Vereins (Reichsgründung, Weltkrieg, 100jähriges Jubiläum, möglicher geistiger Wandel, starke Schwankungen auf dem Buchmarkt, Buch als Kulturgut, Massenware und "geistige Waffe") schwer erkennbar sind.

Jan-Pieter Barbian stützt sich in seinem Abschnitt zur Geschichte auf seine aufschlußreiche Veröffentlichung zur "Literaturpolitik im 'Dritten Reich'."14 Dies wirkt sich positiv auf den Beitrag aus. Bemerkenswert ist jedoch, daß die Betrachtungen über die Zeit ab 1938/39 im Vergleich zu den Jahren von 1933 bis1937 an Tiefe abnehmen.

Die Bewertung des Generaldirektors und Geschäftsführers des Börsenvereins Dr. Albert Heß aus der Zeit des Kalten Krieges als einerseits Beteiligter an Unrechtsmaßnahmen gegen jüdische oder politisch verfolgte Verleger und anderseits als “unparteiischer Sachwalter des Börsenvereins” ist nicht nachzuvollziehen (S. 107). Dr. Heß zerstörte als treuer Untergebener des fanatischen Vorstehers des Börsenvereins Wilhelm Baur den demokratisch verfaßten Verein mit und steuerte ihn als Stabschef autoritär, mißbrauchte die Firmen- und Mitgliederkartei zu Denunziationen sowie Verfolgung, mißbrauchte die Finanzen und half, die Mitglieder des Vereins in politische Soldaten und Mittler des Nationalsozialismus zu verwandeln.

Er beeinflußte die Aktionen, die Literatur mit Rang und Namen verboten und Deutschland von der internationalen Literatur isolierten sowie den deutschen und europäischen Buchhandel zerstörten. Dabei arbeitete er eng mit den verschiedensten Dienststellen des NS-Repressivapparates zusammen, ermöglichte die finanzielle Beteiligung des Vereins an von den Nazis genehmen Unternehmen und schloß mit seinem internen Wissen über alle Mitgliedsfirmen einen einträglichen, geheimen Beratervertrag mit dem Direktor von Lühe & Co, dem größten Vertriebsunternehmen des Zentralverlages der NSDAP, ab.15 Er wirkte zudem zeitweise als "Hoheitsträger", nämlich als Landesobmann der Reichsschrifttumskammer.

Schließlich ist zu bemerken, daß grundsätzliche Probleme der Geschichte des Vereins in dieser Zeit wenig oder nicht behandelt werden. Das sind zum Beispiel:

  • der Antisemitismus des Vereins;

  • die Beteiligung an den Schwarzen Listen und an der Verfolgung (so unterstand die Bibliographische Abteilung der Deutschen Bücherei, die die Grundlagen für die Verbotslisten seit 1933 schuf, auch nach 1941 dem Börsenverein, namentlich dem Geschäftsführer);

  • die Organisation der Schulung im Sinne der NSDAP;

  • die Beteiligung an der Frontbuchproduktion und der Belieferung der Wehrmacht, der SS und anderer Organisationen

  • die Gewährung von Rabatt zwischen 20 und 50% für diesen Zweck;

  • die Ausgrenzung des Sortiments, das 1943 nur noch 6 bis 8% der gesamten Buchproduktion erhielt;

  • die Förderung der Beherrschung des europäischen Buchmarktes; die Disziplinierung der Mitglieder

  • die Ausdehnung des "totalen Krieges" auf den Buchhandel verbunden mit der "Schließaktion".

Zweifellos hat der Verfasser für diesen Abschnitt wenig Spielraum im Buch erhalten. Aber es wäre eine Chance gewesen, diesen Zeitabschnitt noch offener zu behandeln und sich damit indirekt für den Schaden, den der deutsche und europäische Buchmarkt und viele Menschen erleiden mußten, zu entschuldigen.

Reimar Riese und Monika Estermann, die die Geschichte des Börsenvereins nach 1945 untersuchen, erschließen Neuland. Sie regen durch ihre vermittelten Forschungsergebnisse und die Quellen- und Literaturangaben an, diesen Zeitraum weiter zu erkunden. Dabei tauchen noch viele Fragen auf. So zum Beispiel, wie und wie lange hat die sowjetische Politik das Verhalten des Vereins in der DDR beeinflußt oder warum war der Beitrag des Börsenvereins der DDR zur Bewältigung der Vergangenheit des Vereins so gering ?

Im Abschnitt zur Geschichte des Verbandes in der Bundesrepublik fehlt eine Wertung der nach 1949 einsetzenden politischen und geistigen Differenzierung im Verlag, des möglichen Einflusses von ehemals stark belasteten, dem Nationalsozialismus einst treu ergebenen Verlagen und von NS-Funktionären sowie Medienexperten der SS, besonders des SD.

Es gilt auch die Problematik zu erforschen, ob die Befreiung 1945 mit einer eventuellen neuen Instrumentalisierung des Börsenvereins durch die beiden Großmächte für deren Interessen im Kalten Krieg begann.

Tätigkeitsfelder des Börsenvereins

Die behandelten Tätigkeitsfelder geben einen Einblick in die Geschichte und Leistungen des Börsenvereins. Die Untergliederung dieses Bereiches in Branchenpolitik, Dienstleistung und Kultur- und Sozialpolitisches Engagement erscheint bei einer Reihe von darunter behandelten Themen als fraglich. Es wird nicht verständlich, warum wichtige Bestandteile des Börsenvereins und seiner Geschichte auf diese Art aus den "Stationen der Geschichte des Börsenvereins" ausgeklammert sind. Hinzu kommt, daß die vielen Autoren durch den ihnen eingeräumten Spielraum oft nicht in der Lage sind, die Zusammenhänge mit den Rahmenbedingungen, den anderen Feldern des Vereins und des Buchhandels aufzuzeigen.

Das Adreßbuch wurde beispielsweise ab 1936 zu einem Instrument der politischen Ausgrenzung und die Abteilung Adreßbuch, mit ihren internen Kenntnissen über Firmen, zu einem Hilfsinstrument der Überwachung des deutschen und internationalen Buchhandels und von Buchhändlern.

Die Berufsausbildung war ebenso ein Bestandteil, später sogar eine im Statut festgeschriebene Aufgabe des Vereins. Sowohl die Leistungen (zum Beispiel die Entwicklung der Buchhändler-Lehranstalt zur Fachschule) als auch die Probleme dieses Betätigungsfeldes können durch die Konzeption für das Buch nicht voll zur Geltung kommen. Die genannte Jungbuchhändlerbewegung hätte dann vielleicht eine differenzierte Bewertung erfahren, da von ihr Anregungen zur Weiterbildung ausgingen, aber auch Initiativen zur politischen und ideologischen Einflußnahme mit rechten politischen und geistigen Gruppierungen, Verlagen und Personen im Hintergrund.

Ebenso wäre es möglich gewesen, die Legendenbildung um Dr. Friedrich Uhlig als "Vater aller Auszubildenden" etwas zu durchleuchten. 1937 betraute der Börsenverein Dr. Friedrich Uhlig, den bewährten Obmann der NSDAP, mit der Leitung der Hochschule. In kurzer Zeit verwandelte er die Buchhändler-Lehranstalt in eine "nationalpolitische Erziehungsanstalt" mit "rassenmäßiger Einstellung"", einer "unerschütterlichen deutschen Haltung" und einem neuen, auf nationalsozialistische Anforderungen ausgerichteten Konzept für Ausbildung und Erziehung.16

Schlußbemerkung

Als Problem erscheint, ob die gestellte weitreichende Aufgabe, "die Geschichte des Börsenvereins in ihrer Spannweite auszuloten" (S. 11) sowie "seine Tätigkeitsfelder erstmals in der Gesamtschau" (S. 13) nachzuzeichnen, mit diesem Buch völlig gelöst werden konnte.

Insgesamt bricht der "Abriss" durch seinen Aufbau mit Traditionen der Buchgeschichte und Auffassungen zur Verbandsgeschichte. Er ist ein neuer, gewagter Versuch für eine Vereinsgeschichte zum 175jährigen Jubiläum. Die Zielstellung, eine "Handreichung" (S. 13) vorzulegen, erfüllen die "Stationen der Börsenvereinsgeschichte", die Beschreibung der "Tätigkeitsfelder des Börsenvereins" sowie der umfangreiche Dokumentenanhang, ergänzt durch ein sorgfältig zusammengestelltes Literaturverzeichnis. Der "Abriss" bildet eine gute Grundlage für weitere Forschungen.


Prof. Dr. Otto Seifert
Holbeinstraße 48
D-04229 Leipzig

Ins Netz gestellt am 03.04.2001

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Anmerkungen

1 Sächsisches Staatsarchiv Leipzig (SStL), BV I, 771. 100jähriges Jubiläum, S. 1f.   zurück

2 Friedrich Schulze: Der deutsche Buchhandel und die geistigen Strömungen der letzten hundert Jahre. Leipzig: Börsenverein der Deutschen Buchhändler 1925.   zurück

3 Gustav Kirstein: Hundert Jahre. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Leipzig, Nr.76 vom 31.März 1925, S. 5446.   zurück

4 Johann Goldfriedrich: Geschichte des Deutschen Buchhandels von Beginn der klassischen Literaturperiode bis zum Beginn der Fremdherrschaft (1740- 1804). Leipzig: Börsenverein der Deutschen Buchhändler 1909. Ders.: Geschichte des Deutschen Buchhandels vom Beginn der Fremdherrschaft bis zur Reform des Börsenvereins im Deutschen Reich (1805-1889).Leipzig: Börsenverein der Deutschen Buchhändler 1913. Neben Friedrich Schulze (Anm.2) werden diese beiden Schriften (3. und 4. Band der Geschichte des Deutschen Buchhandels) im Literaturverzeichnis genannt und im Text zitiert.   zurück

5 Friedrich Schulze (Anm. 2), S. 1.   zurück

6 Friedrich Schulze (Anm. 2), S. 163.   zurück

7 Gustav Kirstein (Anm. 3), S. 5448.   zurück

8 Friedrich Schulze (Anm. 2), S. 244.   zurück

9 SSTL, BV I, (Anm. 1) S. 3,4.   zurück

10 Otto Seifert: Die große Säuberung des Schrifttums. Der Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig 1933 bis 1945. Leipzig : GNN Verlag 2000, S. 113-132.    zurück

11 Karl Heinrich Bischoff: Buch- Bücher Politik. Das Buch als Tat - Der Verleger als Politiker im Licht und Schatten des XIX. Jahrhunderts. Leipzig: Lühe & Co. 1938, S. 88.   zurück

12 Lexikon des gesamten Buchwesens. Unter Mitwirkung von Wilhelm Olbrich, hg. von Karl Löffler, Joachim Kirchner. Bd. I, Aa-G. Leipzig: Hiersemann 1935, S. 470.   zurück

13 SStL, BV I, 884. Bericht über die Lage des deutschen Buchhandels 1937. SStL, BVI, 845. Die deutsche Buchausfuhr. Streng vertraulich.   zurück

14 Jan-Pieter Barbian: Literaturpolitik im "Dritten Reich". Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder. Überarbeitete und aktualisierte Ausgabe. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1995.   zurück

15 Otto Seifert (Anm.10), S. 47ff.   zurück

16 Ebd., S. 108-115.   zurück