Roberto Simanowski
Holger Dainat: Abaellino, Rinaldini und Konsorten. Zur Geschichte der
Räuberromane in Deutschland. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 55)
Tübingen: Niemeyer 1996. 317 S. Kart. DM 92,-.
Forschungsdesiderat Trivialliteratur
In der Literaturwissenschaft gibt es Felder, die ein Schattendasein führen. Dies
gilt zumindest für die deutsche Literaturwissenschaft, die stärker als andere
auf das Zweikulturenmodell abonniert ist, und dies gilt zumindest für die Zeit vor
und nach dem Zwischenspiel der 60er und 70er Jahre, als es im Gefolge der Krise der
Literaturwissenschaft zu einer verstärkten Trivialliteraturforschung kam. Heute
konzentriert man sich wieder auf den Kanon. Dabei wird heute im Konzept der Cultural
Studies, die ja auf das Verständnis der Kultur in all ihren Formen zielen, auch den
Texten die Dignität eines Forschungsgegenstandes zugestanden, die
gewöhnlich eben jenes Schattendasein führen. Daß dies in der
Germanistik nicht zu einer erhöhten Aufmerksamkeits für die ausgegrenzte
Literatur geführt hat, ist vielleicht weniger damit zu begründen, daß
Cultural Studies anglo-amerikanische Wurzeln hat, als damit, daß die ‘schlechte’
Literatur keine aktivierte Minderheit, sondern eine schweigende Mehrheit
repräsentiert.
Freilich bedeutet auch die Hinwendung zum Gegenstand noch nicht, ihm auch
gerecht zu werden. Wie die Geschichte der Trivialliteraturfoschung zeigt, diente diese in
ihren Anfängen vielmehr der Ausrichtung der Literaturwissenschaft auf das
Dichotomiemodell, indem sie den Räuberroman als "Negativwert, als
Gegenstück zu den Dichtungen" (S. 17) festschrieb. Eine Pioniertat in diesem
Sinne war zweifellos Johann Wilhelm Appells Buch Die Ritter-, Räuber-
und Schauerromantik. Zur Geschichte der deutschen
Unterhaltungsliteratur (1859), in dem vom "literarischen
Sumpfgeflecht" die Rede war, das den "Geschmack für das
Bessere" abgestumpft und den "Segen, den unsere klassische Dichtung
schaffen sollte", verringert habe. 1 Appells Verdikt
drängte die meistgelesenen Dichter der "Goethezeit" schnell in den
Fußnotenteil der Literaturgeschichtsschreibung und verhinderte eine eingehendere
Sichtung ihres Werkes.
Aber auch die 100 Jahre später verstärkt erscheinenden
Texte zur Trivialliteratur waren, wie Helmut Kreuzer 1967
kritisch feststellte, "weniger unbefangene Arbeiten über als vielmehr
engagierte Arbeiten gegen Trivialliteratur". 2 Sie brachten
nicht differenzierte Resultate und differenzierende Urteile hervor, sondern traten
begründend in den Dienst eines antizipierten undifferenziert-pauschalen Verdikts,
wobei das ästhetisch oder ideologisch motivierte Engagement oft mit einem
erstaunlichen Mangel an Textkenntnis einherging. Dieser Mangel scheint eins der
Grundprobleme der Trivialliteraturforschung zu sein: die "seriöse
Beschreibung unseriöser Texte" (S. 38) stützt sich zum Großteil auf
deren Unkenntnis. Das wurde übrigens recht früh recht offen nicht nur
eingestanden, sondern geradzu vorgeschlagen. Dainat verweist auf Karl Goedeke, der vor
100 Jahren die Herstellung einer Monographie über Räuberromane allein
aus vorliegenden Rezensionen erwog, und vermutet, daß Müller-Fraureuth
mit seinem Kompendium Die Ritter- und Räuberromane. Ein Beitrag zur
Bildungsgeschichte des deutschen Volkes (1894) eben dies getan habe. Indem Holger
Dainat auf diesen Mangel der Trivialliteraturfoschung eingeht, gibt er implizite das
Versprechen, die angemahnte Lektürearbeit seinerseits wirklich auf sich zu
nehmen.
Gattungsbildung als ein selbstreferentieller Prozeß
Eine solche Lektürearbeit erfordert bereits Dainats methodisches Verfahren,
mit dem er die Gattung des deutschen Räuberromans bestimmen will. Gattungen
haben, wie Dainat festhält, "als artifizielle Größen eine
Ordnungsfunktion mittlerer Reichweite", deren Vorteil darin besteht, "Prozesse als
begrenzte Sinnzusammenhänge darstellbar zu machen". (S. 34) Dem circulus
virtuosus der Gattungsbestimmung - "Immer sind es Zuschreibungen, die die Texte
zu Gattungen ordnen, auch wenn sie die Plausibilität auf ihrer Seite haben. Es
handelt sich um Konstruktionen" (S. 34) - sucht Dainat durch den Nachweis zu entgehen,
daß die Texte sich selbst aufeinander beziehen: "Die Selbstreferenz des
Gegenstandes gewinnt als Fremdreferenz in der Wissenschaft (das Vetorecht der
Quellen) an Bedeutung. Wenn es im Literatursystem zur Gattungsbildung kommen soll,
müssen die Texte ihre Gemeinsamkeiten betonen. Genres dieser Art sind vor allem
in den Bereichen der Literatur zu erwarten, die sich dem Zwang zu ausgeprägter
Originalität entziehen." (S. 34f.)
Dieser "Gattungsbildung als ein selbstreferentieller Prozeß" (S. 36)
widmet sich Dainat im Hauptteil seiner Arbeit durch die Analyse der semantischen
Struktur des Räuberromans. Vorher jedoch - "wen nur dies interessiert,
der mag die anderen Kapitel überschlagen", lautet die forsche Begründung
des Aufbaus der Arbeit (S. 39) - klärt Dainat einerseits, inspiriert von Luhmanns
Modell der funktionalen Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft, die sozialen
Schreibvoraussetzungen sowie die Rezeptions- und Distributionsbedingungen: Aspekte
wie Leserevolution, Lesesuchtdiskurs,
Honorarordnung oder Leihbibliotheken kommen hier zur Sprache (Kapitel 2),
andererseits skizziert er die Veränderungen in der zeitgenössischen
Darstellung von Kriminalität, die zur Literarisierung des Verbrechers als
romantischer Räuber führen (Kapitel 3). Kapitel 4 schließlich
erörtert die Semantik der Räuberromane im Hinblick u.a. auf die
Beschreibung der Bandenbildung, des Räuberhandwerks, des "edlen
Räubers", der Selbstreflexionsprozesse des Räubers, seiner
Resozialisierungswünsche, seiner Beziehung zu Frauen, seiner Haltung zur
Revolution, seiner familiären Vorgeschichte oder im Hinblick auf die Rolle des
Zufalls für die Textgestaltung.
Räuberromane als Produkte der Ausdifferenzierung;
Im Ergebnis seiner Untersuchung zeitgenössischer Räuberromane, die
sich freilich auch auf eine Vielzahl von Rezensionen und literarhistorische Abhandlungen
stützt, hält Dainat fest, daß Entstehung und Erfolg des romantischen
Räuberromans Ergebnis der Ausdifferenzierung einer modernen
Unterhaltungsliteratur und der Evolution der Verbrechersemantik sind: "Als ‘edler
Räuber’ ist der Held dieser Romane sowohl aus der Gesellschaft ausgegrenzt wie
in sie integriert. Die alteuropäische Semantik, die den Verbrecher in die
Einsamkeit gesellschaftsferner Räume verbannte, wird aufgegriffen, um die
moderne Exklusionsindividualität (Luhmann) zu beschreiben: Der Räuber
(oder, um auf das 2. Kapitel zurückzukommen: der Schriftsteller, der Leser, der
Verleger) hat als Person keinen festen, ihm bestimmten Ort mehr in der Gesellschaft; er
ist immer auch ein anderer. Insofern kann der Räuberroman als simplifizierende
Darstellung der Individualitätsproblematik in der modernen Gesellschaft gelesen
werden. Sein Erfolg beruht dann darauf, daß es ihm gelingt, bestimmte Aspekte der
überaus komplexen Verhältnisse in verhältnismäßig
einfachen, geradezu trivialen Mustern zu thematisieren." (S. 281) Damit ist der
Räuberroman mehr als Unterhaltung, erhält er im Modernisierungsprozeß
der Gesellschaft in einem bestimmten kulturellen Kommunikationsfeld Erklärungsfunktion.
Diese bisher kaum reflektierte Rolle des Räuberromans in einer systematischen
Analyse herausgearbeitet zu haben, ist Dainats Verdienst.
Aus dem Vorteil der Arbeit resultiert ihr Nachteil. Der systematisierende Ansatz,
innerhalb eines bestimmten Textkorpus die Beziehung der Texte aufeinander zu
untersuchen, führt dazu, daß den Ableitungen aus literarischen Vorbildern
mehr Aufmerksamkeit gewährt wird als den konkreten Produktionsbedingungen.
Details können bei einem solchen Verfahren nicht eingeholt werden, was im
konkreten Fall zu vorschnellen Urteilen führen mag.
Vernachlässigung literarischer Produktionsbedingungen
Dies fällt z.B. auf, wenn Dainat auf Christian August Vulpius zu sprechen kommt,
der mit seinem Bestseller
Rinaldo Rinaldini und durch seine mit Goethe verheiratete Schwester heute noch
am ehesten bekannt sein dürfte. Obgleich Dainat Goethes
Äußerung zitiert, Vulpius habe "früh aus Neigung und Noth
geschrieben", 3 fällt er hinter diesen Hinweis auf den
doppelten Schreibgrund zurück, wenn er dann doch vermutet, Vulpius hätte
den Rinaldo Rinaldini nicht geschrieben, wäre er früher in eine
Beamten-Karriere gekommen. Diese Annahme übersieht die nichtfinanziellen
Schreibintentionen, die es auch bei Verfassern von Trivialliteratur gab. Gerade eine
solche von Dainat im Anschluß zitierte Äußerung T. F. K. Arnolds
(1774-1812), die Arbeiten im "romantische[n] Fache [...] oft mit herzlichen
Widerwillen" betrieben zu haben (vgl. S. 81), findet man bei Vulpius nicht, der
vielmehr bereits im Primanaalter schriftstellerische Ambitionen offenbart und auch
später als Beamter immer wieder mit dem Dasein als Dichter kokettiert. Zwar ist
Vulpius in der Tat auf den Nebenverdienst seiner Schreibtätigkeit angewiesen,
aber seine Produktion von Räuber- und Abenteuerromanen ist auch im
Spannungsfeld von bürgerlicher Existenz und nicht realisierter Alternative eines
ungebundenen Lebens zu sehen.
Dies läßt sich gerade am Rinaldo-Roman deutlich erkennen,
der die Verquickung von Realiltät und literarischer Existenz nicht nur durch
die anekdotischen Begleitumstände anzeigt, daß Vulpius durch diesen Roman
berühmt wird und seine spätere Frau kennenlernt und daß ihr erster
Sohn Rinaldo heißt. Auf der Textebene stellt dieser Roman
wiederholt das asoziale, aber freie Leben des Räubers den "Scheidewände[n]
der Convenienzen"
gegenüber und findet im Grunde darin seinen thematischen Mittelpunkt. 4 Man verfehlt einen wesentlichen Schreibgrund Vulpius’ auch
damit, die Genese seines Helden zum Räuber allein aus dem Zufall zu
erklären. Zwar kann Dainat auf ein zunächst überzeugendes Zitat
verweisen - "Der Alte. Was treibt dich in unsere Einöde? Rinaldo. Die
Folgen eines unglücklichen Augenblicks" (S. 265) -, und zwar stimmt es,
daß Rinaldos Vorgeschichte eher beiläufig und sehr spät erzählt
wird, aber der Inhalt diese Erzählung sollte dann trotzdem nicht so leichthin
übergangen werden. Denn dort steht deutlich der
Hinweis auf Rinaldos Unzufriedenheit mit seiner sozialen Herkunft - er hatte
"Wünsche[n] anderer Art, als Ziegenhirt zu bleiben"
5 - und der Hinweis auf die verhängnisvolle Plutarchlektüre Rinaldos.
Diese Aussagen gewinnen wiederum
an Gewicht, wenn man sie auf andere Texte des Autors bezieht, in denen
ausdrücklich die Frage thematisiert wird, ob man als Räuber kühn
hinausschreiten solle über die "Konvenienzzirkel" und die
"Schneckenlinien des gewöhnlichen Lebens", um eine der Nachwelt
interessante Biographie zu haben, 6 wobei sich die relevante Topik
selbst in Vulpius’ Nixenromanen finden läßt, wo dem
"Schneckenleben" des biederen Ehemannes die lust- und gefahrvolle Liebe zum
Wasserwesen gegenübergestellt wird. 7 Das Abenteuerliche
erscheint immer wieder als ebenso ersehnte wie gefürchtete Lebensalternative, der
am Ende doch die wieder rehabilierte bürgerliche Existenzform vorgezogen wird,
was sowohl der Produktion wie der Rezeption dieser Texte eine psycho-soziale Funktion
unterstellen läßt.
Problematik der Methode Dainats
Bezieht man die Texte eines Autors aufeinander und zieht überdies den
biographischen Text hinzu, gelangt man zu anderen Schlußfolgerungen als mit dem
Augenmerk auf die Textbezüge innerhalb eines spezifischen Textkorpus. Dies
bestätigt nur Dainats eigenen Hinweis, "daß die jeweiligen
Fragestellungen und Kontextualisierungen bestimmen, wie sich der Gegenstand
repräsentiert" (S. 32). Die überblickshafte, auf das Gattungssystem
orientierte Untersuchung verbaut, wenn sie die Autoren bloß als Kopisten ihrer
Lektüre versteht, den Zugang zu den je individuellen Produktionskontexten und
Schreibintentionen, so wie freilich umgekehrt die Fokussierung auf einen Autor die
gattungsinhärenten Determinationen übersehen mag. Es ist allerdings zu
fragen, was eine Breitenuntersuchung leistet, die ihre Resultate aus der freizügigen
Zitation des umfangreichen Quellenschatzes gewinnt, statt im Einzelfall behutsam
nachzufragen. Diese Freizügigkeit drückt sich bei Dainat gelegentlich darin
aus, daß der an einem konkreten Text begonnene Argumentationsstrang mit
Belegen aus anderen Texten weitergeführt, die Gültigkeit der
Schlußfolgerung aber auch für den Ausgangstext suggeriert wird.
Daß dieses springende Abholen der benötigten Zitate zu Ungenauigkeiten
führt, zeigt sich wiederum am Rinaldo, den Dainat zunächst richtig als Melancholiker
kennzeichnet, dem er nach einem entsprechenden ‘Beleg’ aus einem anderen
Räuberroman jedoch jede Hoffnung auf Resozialisierung abspricht: "Im
Bewußtsein seines ausweglosen Unglücks sucht er einen halbwegs
ehrenvollen Abgang. Da sich in dieser Hinsicht ihm auch der zuweilen erwogene
Selbstmord verbietet, so bleibt allein der Tod im Kampf, d.h. als Held." (S. 249)
Wer den Text nicht kennt, läuft hier durchaus in die Irre, denn Rinaldo spricht nicht nur
immer wieder davon, mit einer Frau sich irgendwo unerkannt als Landmann eine neue,
sozial akzeptierte Existenz aufzubauen, und unternimmt auch einige Versuche dazu.
Auch den Tod als Held sucht er nur in der Ferrandino-Fassung (1800), der
schnell hergestellten Fortsetzung des erfolgreichen Rinaldo-Romans (1799), in
allen späteren Fassungen des Romans lehnt er den Vorschlag, als Anführer
der korsischen Befreiungskämpfer ruhmreich ins Buch der Geschichte einzugehen,
ausdrücklich ab zugunsten der angestrebten Etablierung eines normalen
Familienlebens mit seinem fünfjährigen Sohn und dessen Mutter, die
Rinaldo verließ, als sie seine wahre Identität erfuhr. Warum Vulpius diese
einschneidende Veränderung vornahm, kann nur vermutet werden, daß er
dies tat, ist Grund genug, es nicht leichthin zu übergehen.
Dieser Einwand mag pedantisch und ungerecht wirken, handelt es sich hier doch um
Detailwissen, das Dainat, der eine Unmenge zeitgenössischer Texte zu
bewältigen hatte, nicht zur Verfägung stand. Das Beispiel kann indes auf das
Problem aufmerksam machen, das schon im methodischen Ansatz einer
Globaluntersuchung liegt. Es zeigt, daß Dainats Ausführungen zum
Stichwort "Erstrebte Resozialisierung" das untersuchte Material zumindest im Falle
Rinlado Rinaldini nicht adäquat widerspiegeln. Freilich spricht dieser
Einwand noch nicht für den Verzicht auf eine systematische Untersuchung
zugunsten von Einzelanalysen, die wiederum der systematischen Rückkoppelung
ermangeln. Der Gewinn dieser Arbeit bleibt unbenommen der Hinweis auf
wiederkehrende Motive und obligatorische Klischees verschiedener Texte, die somit als
spezifische Textsorte kenntlich werden; mit dem zusätzlichen Effekt, für
Abweichungen vom Schema zu sensibilisieren. Es kommt darauf an, an solchen
Globaluntersuchungen die konkreten Studien zu relativieren wie jene an diesen.
Dr. Roberto Simanowski
Georg-August-Universität Göttingen
Seminar für Deutsche Philologie
Jacob-Grimm-Haus
Käte-Hamburger-Weg 3
D-37073 Göttingen
Ins Netz gestellt am 27.07.1999.
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