Simanowski ueber Innis: Kommunikation - Preprint

Roberto Simanowski


Ein Name vor dem Namen.
Harold A. Innis als Anreger McLuhans

Karlheinz Barck (Hg.):
Harold A. Innis – Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte. Wien, New York: Springer Verlag 1997. 267 S. Kart. DM 68,-.



Seit der Erfindung des Buchdrucks gibt es technologische Entwicklungen, deren immense Bedeutung für die menschliche Kommunikation keiner leugnen mag und deren nicht unproblematischer Einfluß auf das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft oder Generation kontrovers diskutiert wird. Radio, Kino und Fernsehen sind Beispiele für das 20. Jahrhundert, denen inzwischen Computer und Internet an die Seite getreten sind. Die Geisteswissenschaft, die der Gesellschaft ein Wissen über sich selbst in wissenschaftlicher Form zu vermitteln trachtet, hatte im Grunde von Anfang an immer auch die Medien im Blick (zu haben). Daß dabei idealistische Kulturkritik der nüchternen Analyse oft im Wege steht, weiß man vor allem in Deutschland, wo lange vor dem Kapitel "Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug" in der "Dialektik der Aufklärung" der Verrat der Medien an den Zielen der Aufklärung beklagt wurde (man denke an die Debatte um die >Lesesucht< im 18. Jahrhundert). Auch die nordamerikanische Wissenschaft hat diesbezüglich ihre Vertreter, wie Neil Postman etwa, der im Niedergang der Schriftkultur und im Vormarsch der elektronischen Medien das Amüsement zum Tode bzw. ein "we are getting sillier by the minute" als epistemologische Konsequenz ausmacht. 1

Aber aus Nordamerika kommt auch die Medienwissenschaft, die weitestgehend frei von moralischer Verve den sozialen Einfluß moderner Technologien analysiert. Der Kanadier Marshall McLuhan (1911-1980) gilt als deren Begründer. In Büchern wie "The Gutenberg Galaxy" (1962) und "Understanding Media" (1964) hat er die elektronischen Medien nüchtern als Ausweitungen des menschlichen Körpers, die zugleich den Rahmen der menschlichen Wahrnehmung abstecken, erörtert. >Nüchtern< ist dies freilich nur im Blick auf die unterlassene Kulturkritik zu nennen, denn ansonsten begegnet man den abenteuerlichsten Gedankengängen: so wenn McLuhan zwischen >heißen< und >kalten< Medien unterscheidet (ein >heißes<, wie Radio oder Film, fordert vom Publikum weniger Beteiligung oder Vervollständigung und erweitert nur einen der Sinne, aber bis ins Detail; ein >kaltes<, wie Telefon oder Fernsehen, ist "detailarm" und verlangt in hohem Grade persönliche Beteiligung) und dies schließlich anhand des Volkspruches "Mein letzter Wille, eine Frau mit Brille" illustriert (normale Gläser als >heißes< Medium, weil sie das weibliche Imago überdeutlich abzeichnen, die Sonnenbrille als >kaltes<, weil das unnahbare Vorstellungsbild eine Vervollständigung des Betrachters verlangt). 2

McLuhans Slogans vom "Globale Village" und dem Medium als Botschaft des Mediums sind heute geflügelte Worte, deren Anwendung gerade auf das jüngere Phänomen des Internet sich kaum jemand entziehen mag. Die Kritiklosigkeit, mit der diese Begriffe dabei oft in neuen Kontexten genutzt werden, entspricht der blinden Verehrung, die McLuhans >wildem< Denken als Antwort auf die weitverbreitete akademische Ignoranz gegenüber den tatsächlichen kulturellen Ereignissen gezollt wird. McLuhans Name ist Münze geworden, deren Wert durch jene abenteuerliche Art zu denken nur gesteigert werden kann.

Es gibt einen Namen vor dem Namen. Harold A. Innis (1894-1952) gilt als der große Anreger McLuhans wie überhaupt der Toronto School of Communication. Er war, wie es McLuhan ausdrückt:

the first person in the Western World to make an exclusive study of the effects of technological innovation and the related disequilibrium in man and society.
Mit seinen beiden Büchern "Empire and Communications" sowie "The Bias of Communication" ist er praktisch der Pionier der Medienwissenschaft, die sich in Nordamerika in den 40er und 50er Jahren bildete. Den Weg dahin nahm Innis – Professor und Dekan an der Universität Toronto – bezeichnenderweise nicht von der Geisteswissenschaft, sondern als Wirtschaftshistoriker.

Mit seiner Promotion "A History of the Canadian Pacific Railway" (1923) und seinen folgenden Büchern zur Geschichte des kanadischen Pelzhandels und der Kabeljaufischerei hatte er Standardwerke geschrieben. Bereits in diesen Büchern unternahm er eine soziologische Interpretation der (Transport)Medien, indem er zeigte, daß die kanadische Gesellschaft durch die Ost-West-Achse der Handelsstraßen für ihre natürlichen Rohstoffe Pelze, Fisch und Holz stärker europäisch als amerikanisch formatiert ist. Unter Kommunikationstechnologie, das verdeutlichen diese Bücher, versteht Innis sowohl die Medien der Güterbewegung (Flüsse, Straßen, Schienen) wie das Medium der Sprache.

In seinen späteren Büchern "Empire and Communications" (1950) und "The Bias of Comminication" (1951) widmet sich Innis dann ausführlich der Geschichte der Medien und ihres Einflusses auf die politische und kulturelle Entwicklung einer Gesellschaft. Mit der Betonung der generierenden Bedeutung der Medien- und Technikgeschichte für die Gesellschaft setzt er, vor und gleichsam in Ergänzung zu Michel Foucaults Diskursanalyse, der traditionellen subjekt-zentrierten Geschichtsauffassung recht früh eine strukturalistische entgegen. Die Titel der Bücher stehen für zwei Grundsätze, auf die Innis anhand des verschiedensten historischen Materials immer wieder zurückkommt:

  1. Macht generiert sich über die Anwendung von Kommunikationstechnologien,
  2. zivilisatorischer respektive technischer Fortschritt geht mit Verlusten einher, die Bias (schräge Richtung, Kniff, Schere) ist das dynamische Dispositiv in jedem Kommunikationsmedium.
Das vorliegende Buch versammelt – nach einer Einführung in Leben und Werk von Innis durch den Herausgeber Karlheinz Barck sowie Eric A. Havelock, einen Schüler von Innis – Essays aus beiden genannten Büchern. Daneben wurde ein Aufsatz zum Werk Thorsten Veblens (1857-1929) abgedruckt, dem sozialistischen amerikanischen Soziologen, dessen dynamische Wirtschaftstheorie Innis aufgegriffen hat, der Aufsatz Dezentralisierung und Demokratie, in dem Innis den Einfluß der Ost-West-Handelsachse auf die Gesellschaftsgeschichte Kanadas erläutert, sowie, aus dem Band "The Strategie of Culture" (1952), Die militärischen Implikationen der Amerikanischen Verfassung und Die Presse, ein vernachlässigter Faktor in der Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, in dem der Zusammenhang zwischen kanadischer Holzindustrie, Papierproduktion, Entstehung großer Pressemonopole in den USA und der Öffentlichkeit hinsichtlich der Erzeugung wirtschaftlicher und sozialer Energien skizziert wird.

In Tendenzen der Kommunikation (dem Titelaufsatz aus "The Bias of Communication") macht Innis deutlich, daß Medien sich nicht isoliert voneinander entwickeln, sondern geschichtlich wie systematisch aufeinander zu beziehen sind:

Jedes einzelne Kommunikationsmittel spielt eine bedeutende Rolle bei der Verteilung von Wissen in Zeit und Raum, und es ist notwendig, sich mit seinen Charakteristiken auseinanderzusetzen, will man seinen Einfluß auf den jeweiligen kulturellen Schauplatz richtig beurteilen. (S. 95)
Besonders bemerkenswert ist hier ein Beispiel für die inhaltlichen Konsequenzen eines Wechsels der Hauptmedien. Die Übertragung der Papyrustexte auf das inzwischen entwickelte billigere und durch seine Anordnung und Kodifizierbarkeit nutzerfreundlichere Pergament im frühen Mittelalter war zugleich die größte Zensuraktion der bisherigen Geistesgeschichte: Heidnische Schriften wurden bei der Übertragung vernachlässigt, christliche in den Mittelpunkt gerückt, was das Bildungsmonopol Roms entschieden festigte.

In Die Medien in den Reichen des Altertums beschreibt Innis den Zusammenhang zwischen dem Übergang der ägyptischen Zivilisation von einer absoluten Monarchie zu einer demokratischen Staatsform und der Schwerpunktverlagerung vom Stein als Kommunikationsmittel bzw. Prestigegrundlage (in den Pyramiden) auf Papyrus.

Der Aufsatz Das Problem des Raumes skizziert am Beispiel der Antike Innis' Auffassung, daß das Ziel kultureller Systeme in der Balance zwischen räumlicher und zeitlicher Kontrolle bestehe. Während die räumliche Kontrolle auf politische Herrschaftsmittel zurückgreift (militärische Macht, Gewaltmonopol), beruht die zeitliche auf der (religiösen) Überlieferung. Das von den Assyrern eroberte Babylon mit seiner Aufrechterhaltung getrennter Sprachen (die semitische Sprache der Eroberer und die sumerische der Eroberten) gilt Innis als Beispiel für einen gelungenen Kompromiss zwischen Raum- und Zeitmonopol. "Der spezifische Charakter eines jeden Kommunikationsmittels", so Innis in Ein Plädoyer für die Zeit, "neigt dazu, eine Tendenz in der jeweiligen Kultur zu schaffen, die die Überbetonung entweder zeitlicher oder räumlicher Vorstellungen begünstigt". (S. 122) Die Einführung des Papiers und der Druckerpresse führte in den modernen Staaten zum Beispiel zur Ablösung des geistlichen Monopols durch auf eigenem Boden gewachsene Monopole, also zur Ablösung des zeitlichen durch ein räumliches Monopol. (S. 123)

Sowohl in Ein Plädoyer für die Zeit wie in Die Strategie der Kultur erörtert Innis die moderne "Gegenwartsbesessenheit" und "Überbetonung der Räumlichkeit" als Störung des Gleichgewichts zwischen Zeit und Raum mit "katastrophalen Folgen für die westliche Zivilisation". (S. 133) Die durch moderne Kommunikationsmedien (zunächst Zeitung, dann Rundfunk) erhöhte Geschwindigkeit und Reichweite der Informationsübertragung führe zur Vorherrschaft der Augenblickserfahrung und zum Verlust des in die Vergangenheit oder in die Zukunft verlängerten Denkens.

Innis' Klage über die "schweren Beeinträchtigungen der Kultur durch Industrialismus und Werbung" (S. 203), seine, wie Havelock kommentiert, romantische Bevorzugung des gesprochenen Wortes (S. 26) und seine Kritik der Augenblicklichkeit lassen nun doch einige Nähe zur Kulturkritik der Frankfurter Schule und Neil Postmans erkennen. Dies gilt im übrigen auch für Marshall McLuhan, der die Kultur der 60er Jahre zwar studierte, aber "monstrous and sickening" fand 3 und im Grunde ein "extremely conservative man" war "who loathed the world he saw acomin". 4 Beide Väter der modernen Medienwissenschaft eignen sich, das wird nicht immer bedacht, kaum als Referenzen schneller Begeisterung für die Klick-Klick-Kultur von Internet und Hypertext. Das ist durchaus eher als Vorteil denn als Nachteil zu verbuchen, hält es doch bewußt, daß zwischen den Extremen der Ignoranz bzw. radikalen Ablehnung und der kritiklosen Bejahung der neuen Medien genug Raum für andere Positionen bleibt.

Im programmatischen Aufsatz Die Eule der Minerva schließlich findet man Innis' Grammatologie der Medien: die Theorie von den Medien als Sprache mit eigener Grammatik und Syntax, womit Innis, wie Karlheinz Bark festhält, "der entstehenden modernen Medienwissenschaft eine von der üblichen mediensoziologischen Inhaltsanalyse unterschiedene Perspektive gewiesen hat." (S. 10).

Das jeweilige Medium, das eine Gesellschaft zur Förderung ihrer Kommunikation einsetzt (sei es die in Stein gehauene Hieroglyphe, sei es die auf Papyros gebrachte oder die per Buchdruck weit zugänglich gemachte Schrift), bringt eine spezifische Art und Weise hervor, in der die Informationsübertragung selbst vor sich geht. Dies beeinflußt zugleich den Inhalt, der kommuniziert wird. Innis betont, daß die drakonischen und solonischen Rechtsreformen im antiken Griechenland nur möglich waren, solange eine schriftlliche Überlieferung mit ihrer Abwehr der Veränderung noch nicht Fuß gefaßt hatte, und unterstreicht mit Verweis auf De Quincy ("Ohne Buch kein Dogma, ohne Dogma kein Buch") den Bedingungszusammenhang von Monotheismus und geschriebenem Wort. (S. 78)

An solchen Texten konnte McLuhan sein Denken über Wesen und Einfluß der Medien schulen und seine berühmte Formulierung vorbereiten, ">daß das Medium die Botschaft ist<, weil eben das Medium Ausmaß und Form des menschlichen Zusammenlebens gestaltet und steuert". 5 Das bedeutet, nicht auf den Inhalt des Mediums kommt es an, sondern auf das Medium selbst:

jedes Medium hat die Macht, seine eigenen Postulate dem Ahnungslosen aufzuzwingen. 6
Auf den Einwand, daß es doch wichtig sei, wie man das Medium verwendet, hat McLuhan eine plastische Antwort parat: "der >Inhalt< eines Mediums ist mit dem saftigen Stück Fleisch vergleichbar, das der Einbrecher mit sich führt, um die Aufmerksamkeit des Wachhundes abzulenken." 7

Solch griffige Bilder findet man bei Innis nicht. Gleichwohl gibt es Ähnlichkeiten im Stil, die man, je nach eigener wissenschaftlicher Positionsbestimmung, als vorteilhaft oder nachteilig verbuchen wird. Eric A. Havelock, der sogar der Meinung ist, daß der späte Innis der Medientexte nur als vormaliger Autor der klassischen ökonomischen Schriften Gehör fand, formuliert es deutlich kritisch:

Bis zu einem bestimmten Grade entzieht er sich der genauen Erforschbarkeit: sein Schreibstil in späteren Jahren ist aphoristisch und unzusammenhängend; er gleitet zwischen den Schlußfolgerungen umher, die sein Interpret gern formulieren würde. (S. 14)
Aber man wünscht sich nicht nur klare Aussagen, man wünscht sich zu den vorgebrachten auch ausführlichere Kommentare und Belege.

Wenn Innis eine Aussage (die Blüte der Kultur Hellas am Vorabend ihres Unterganges) statt durch ein Faktum durch ein Zitat, das die Aussage selbst nur noch einmal wiederholt, >belegt<, deutet sich seine problematische Argumentationstrategie bereits an. Wenn er schließlich problemlos entgegengesetzte Schlußfolgerungen aus ein und demselben Phänomen zieht, verstärkt sich dieser Eindruck. So hatte Innis mit Blick auf die solonischen Reformen soeben die Schrift als Reformhemmnis angesprochen, um sie eine Seite weiter als Rebell gegen die Mythen-Überlieferung, als Vermittlungsinstanz der Skepsis zu deklarieren. Statt die naheliegende Überlegung, daß gerade durch die Schrift Mythen bzw. ihr lebensnotwendiger Kern viel besser befestigt werden, auszuräumen, plaziert Innis zwei Zitate von Hekataios und Xenophanes, die keinerlei Belegkraft für die vorliegende Frage haben und genausogut oder -schlecht für die gegenteilige Aussage hätten stehen können.

Mit seiner ungenauen Argumentationsweise verstärkt Innis das Dilemma, in dem sich großangelegte Synthetisierungsversuche ohnehin befinden. Der begrüßenswerte Schritt über die engen Grenzen der eigenen Spezialisierung hinaus entgeht schon zwangsläufig oft nicht dem Vorwurf der Spekulation; er bietet diesem Vorwurf eine unnötig breite Angriffsfläche durch den von Havelock beschrieben Stil der Unerforschbarkeit dessen, was eigentlich kommuniziert werden soll (ein Problem auch vieler neuerer Arbeiten im Bereich der Medienwissenschaft). Das sei keine Warnung vor der Lektüre der in diesem Band versammelten Schriften. Aber die wiederholte Beobachtung dieses Umstandes provoziert die Frage, ob das Medium als Gegenstand der Kommunikation diese spezifische Art und Weise hervorbringt, in der es kommuniziert wird.


Dr. Roberto Simanowski
Georg-August-Universität Göttingen
Seminar für Deutsche Philologie
Jacob-Grimm-Haus
Käte-Hamburger-Weg 3
D-37073 Göttingen

Preprint der im Internationalen Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) erscheinenden Druckfassung. Ins Netz gestellt am 11.06.1999.

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Anmerkungen

1 Neil Postman: Amusing Ourselves to Death: Public Discourse in the Age of Show Business. New York: Penguin Books 1985, S. 24. zurück

2 Vgl. Marshall McLuhan: "Heiße Medien und kalte", in: ders.: Die magischen Kanäle. Understanding Media. Dresden und Basel: Verlag der Kunst 1995, S. 44-61. Hier S. 44 und 59. zurück

3 McLuhan in: Philip Marchand: Marshall McLuhan: The Medium and the Messenger. New York: Ticknor and Fields 1989, S. 43. zurück

4 Richard A. Lanham: The Electronic Word. Democracy, Technology, and the Arts. The University of Chicago Press 1993, S. 230. zurück

5 Marshall McLuhan, "Das Medium ist die Botschaft" in: ders.: Die magischen Kanäle. Understanding Media. Dresden und Basel: Verlag der Kunst 1995, S. 21-43. Hier S. 23. zurück

6 Ebd., S. 33. zurück

7 Ebd., S. 38. zurück