Staiger über Schaub: Gilles Deleuze im Kino

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Michael Staiger

Deleuze und die Film-Philosphie

Kurzrezension zu
  • Mirjam Schaub: Gilles Deleuze im Kino: Das Sichtbare und das Sagbare. München: Wilhelm Fink 2003. 311 S. Kart. EUR (D) 37,90.
    ISBN 3-7705-3834-X.


Die beiden Kinobücher von Gilles Deleuze Das Bewegungs-Bild (1989) und Das Zeit-Bild (1991) sind eine Herausforderung sowohl für die Philosophie als auch für die Filmwissenschaft. Im Kontext des deleuzianischen Werkes galten sie vielen Fachvertretern lange als "Anomalien", zum filmwissenschaftlichen Diskurs stellten sie sich aufgrund ihrer Ablehnung von filmsemiotischen Theorien quer (vgl. S. 78). So erschien mit Rodowicks Gilles Deleuze's Time Machine erst 1997 die erste monographische Auseinandersetzung mit den beiden Kinobüchern, auf die seither eine überschaubare Zahl weiterer Studien folgte (u.a. Fahle / Engell 1997, Flaxman 2000, Kennedy 2000, Bogue 2003).

Mirjam Schaub legt mit der Monographie Gilles Deleuze im Kino den zweiten Teil ihrer Dissertation über Deleuze vor. Sie schließt an die Reflexionen über Zeitphilosophie als Ereignisphilosophie an, die bereits unter dem Titel Gilles Deleuze im Wunderland (2003) veröffentlicht wurden. Ihr Blickwinkel ist also jener der Philosophin, die versucht zu verstehen, "[...] wie Deleuze aus der Nicht-Philosophie Fragen für die Philosophie entwickelt" (S. 25). Denn Deleuze selbst verstand sich niemals als Kunst- oder Filmtheoretiker, sondern immer als Philosoph.

Mit seinen Überlegungen zum Film hat Deleuze eine "rätselhafte Beziehung" (Bellour nach Schaub, S. 76) zwischen dem Kino und der Philosophie gestiftet. Deleuzes Kinobücher sind weder eine Filmgeschichte noch eine Stilgeschichte des Films, sie entfalten auch keine abgeschlossene Film-Theorie oder -Ästhetik. Schaubs Lektüre der Kinobücher orientiert sich deshalb an primär philosophischen Fragestellungen (vgl. 80 ff.).

Sie geht davon aus, dass die Kinobücher implizit Aufschluss geben über die Frage nach der Möglichkeit von Philosophie und über die Art und Weise, wie künftig Philosophie betrieben werden kann. Deleuze schreibe die Geschichte der Philosophie durch das historische Material des Kinos – der wirklichkeitsnahesten Kunst – neu. Dabei stellt er die Frage, was Wahrheit ist, auf der Ebene der Bewegung. Denn das Kino bietet als einziges Medium die Möglichkeit, "falsche Bewegungen" zu zeigen, die einer natürlichen Bewegungslogik zu widersprechen scheinen (vgl. 83). Die Krise des Bewegungs-Bildes – das das klassische Vorkriegskino dominierte – verweist auf die Krise der Wahrheit und der Repräsentation in der Philosophie. Mit dem Übergang in der Moderne zum Zeit-Bild wird der Film reflexiv, Zeit bleibt kein bloßer Faktor des Mediums, sie wird zu seinem Inhalt. Im Blick auf die Philosophie ergibt sich aus diesem Wandel der Epochenumbruch von der klassischen Philosophie (der großen Systeme) zur modernen Philosophie (des singulären Begriffs) (vgl. S. 19).

Deleuzes Philosophieren über Zeitlichkeit weist eine signifikante Leerstelle in den Jahren 1970 bis 1980 auf. Schaub stellt dar, wie sich sein Zeitverständnis in der zweiten Phase nicht mehr länger auf die Medien Schrift und Sprache, sondern fortan auf die Medien Bild und Film aufbaut:

Nicht länger die Sukzessivität des Sagbaren und der Schrift, sondern die Sinnsimultaneität des Sichtbaren wird zum erkenntnisleitenden Vorbild des Nachdenkens über Zeit. (S. 20)

Der Film ist das Medium der Simultaneität par exellence, da er gleichzeitig auf verschiedene Zeichensysteme zurückgreift und auf diese Weise unterschiedliche Informationen transportieren kann: "Das Sagbare (Tonspur) artikuliert seinen Sinn sukzessiv, das Sichtbare (Bild) kann simultan Sinn und Gegensinn enthalten
(qua Schärfentiefe, wie z.B. in Citizen Kane, Bildmontage etc.)" (S. 21). Dabei charakterisiert sich das Bild alleine bereits über seine Unbestimmtheit, da es niemals einen eindeutigen Sinn enthält, sondern immer verschieden les- und interpretierbar ist. Deleuze selbst hat keine Bildtheorie vorgelegt, Schaub verweist darum in diesem Zusammenhang auf die Überlegungen von Roland Barthes
(vgl. S. 11).

Der Frage Deleuzes, warum und wie das Kino den Glauben an die Welt zurückgebe, stellt Schaub zwei Antworten gegenüber (vgl. S. 278 ff.). Die medienspezifische Antwort charakterisiert das Kino als ein Medium zur Veranschaulichung des Nicht-Gegebenseins eines Ganzen, das jedoch aus den Fragmenten in einer Bilderfolge wieder ein neues Ganzes erschafft. In der Simultaneität der Ordnungen des Sichtbaren und des Sagbaren können zwei – oder mehrere – sich widersprechende Aussagen parallel zueinander laufen, so dass die Sinnangebote des Films nicht einer herkömmlichen Logik folgen müssen.

Welcher der widersprüchlichen Deutungen der Vorzug gegeben werden soll, bleibt offen, so dass sich im Film ein beständiges "Versprechen, Sinn zu machen"
(S. 279) fortschreibt, denn das nächste Bild könnte ja bereits Aufschluss darüber geben, welche Deutung die Richtige ist. Schaubs zweite Antwort bezieht sich auf die Struktur des deleuzschen Denkens. Die Wahrheitskrise der modernen Philosophie verlangt nach einer Neuorientierung, zu der sich Deleuze durch das Kino inspirieren lässt: "Deleuze muß an das Kino glauben, damit er wieder philosophieren kann. Und dies obwohl, nein weil der Glaube an die alte Philosophie verloren ist." (S. 280).

Fazit

Schaubs Deleuze-Lektüre folgt eindeutig einem philosophischen Erkenntnisinteresse und wird deshalb für den Philosophen fruchtbarer sein als für den Filmwissenschaftler. Daran kann auch das letzte Kapitel des Buches nichts ändern, in dem Schaub einige Ansatzpunkte zur Verknüpfung von Deleuzes "Kinotheorie" mit dem Mainstream-Kino andeutet (vgl. hierzu auch Schaub 1998). Einmal mehr sind es die – in dieser Hinsicht reichlich überstrapazierten – Filme Matrix und Lola rennt, die eine Brücke zwischen Kino und Philosophie bauen sollen.

Die Struktur von Schaubs Vorgehensweise wird nicht immer gleich auf den ersten Blick deutlich, es zeigen sich innerhalb des Buches zahlreiche Überschneidungen und Wiederholungen verschiedener Aspekte. So findet sich beispielsweise eine halbseitige Passage in identischem Wortlaut auf Seite 22 und auf Seite 87. Insgesamt leistet Schaub mit ihrer Studie Gilles Deleuze im Kino jedoch einen wichtigen Beitrag im Rahmen der – philosophischen – Rezeption der Kinobücher von Deleuze im deutschsprachigen Raum.


Dipl.-Päd. Michael Staiger
Pädagogische Hochschule Freiburg
Kunzenweg 21
D-79117 Freiburg i. Br.
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Ins Netz gestellt am 18.01.2004
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Zitierte Literatur:

Bogue, Ronald: Deleuze on Cinema. New York; London: Routledge 2003.

Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Frankfurt / M: Suhrkamp 1989 (orig. 1983).

Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1991 (orig. 1985).

Engell, Lorenz / Fahle, Oliver: Film-Philosophie. In: Jürgen Felix (Hrsg.): Moderne Film Theorie. Mainz: Bender 2002, S. 222–240.

Fahle, Oliver / Engell, Lorenz (Hrsg.): Der Film bei Deleuze. Weimar: Verlag der Bauhaus-Universität 1997.

Flaxman, Gregory (Hrsg.): The Brain is the Screen. Deleuze and the Philosophy of Cinema. Minneapolis / London: University of Minnesota Press 2000.

Kennedy, Barbara M.: Deleuze and Cinema. The Aesthetics of Sensation. Edinburgh: Edinburgh University Press 2000.

Rodowick, David: Gilles Deleuze's Time Machine. Durham; London: Duke University Press 1997.

Schaub, Mirjam: Das Kino, die Sichtbarkeit, der Blick und seine Unsichtbarkeit, dargelegt u.a. am Beispiel von David Lynchs Film Lost Highway. In: Sybille Krämer (Hrsg.): Über Medien. Geistes- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Berlin 1998, S. 60–91, http://userpage.fu-berlin.de/~sybkram/medium/schaub.html [12.12.03]