Stark über Bachleitner: Zur deutschen Rezeption britischer und irischer Literatur

IASLonline


Susanne Stark

Zur deutschen Rezeption der britischen und irischen Literatur im 19. Jahrhundert

  • Norbert Bachleitner (Hg.): Beiträge zur Rezeption der britischen und irischen Literatur des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 45) Amsterdam, Atlanta/GA: Rodopi 2000. X + 534 S. Geb. DM 225,-.
    ISBN 90-420-0991-8.


Interdisziplinäres: Buchhandelsgeschichte, Staatslehre und politische Utopie | Fin de siècle-Kultur in Großbritannien, Deutschland und Österreich | Romanadaptationen von Defoe bis Collins | Übersetzungen: Dickens und Jane Austen | Für die Rezeption wichtige Zeitschriften: Blätter für literarische Unterhaltung, Magazin für die Literatur des Auslandes, Grenzboten | Irische Schriftstellerinnen und Schriftsteller | Zwei dominante Figuren: Byron und Scott | Resümee

Den Fallstudien in dem von Norbert Bachleitner herausgegebenen Band liegt ein im Sinn einer interdisziplinär arbeitenden Kulturwissenschaft erweitertes, umfassendes und facettenreiches Konzept von Rezeptionsgeschichte zugrunde. Die neunzehn reichhaltig dokumentierten und sorgfältig edierten Aufsätze dieser Sammlung sind überzeugend in vier Abteilungen (Grundlagen der Rezeptionsgeschichte; literarische Kritik; Übersetzung, Bearbeitung und Aufführungsgeschichte; produktive Rezeption) gegliedert. Wie der Herausgeber in seiner Einleitung darlegt, kann es sich bei moderner Rezeptionsforschung nicht mehr ausschließlich um die Untersuchung von Einflüssen zwischen Schriftstellern und ihren Werken handeln. Vielmehr müssen die Rezeption von Texten und Autoren auf den "Umwegen" der Übersetzung, der literarischen Kritik, Umarbeitung und Adaptation, der Verbreitung und Distribution durch Leihbibliotheken und den Buchhandel sowie der Abdruck von Literatur in Periodika verstärkt in komparatistische Untersuchungen miteinbezogen werden. Fernerhin darf der Geschmack des breiten Lesepublikums, der sich unter Umständen von den in Zeitungen und Magazinen artikulierten Kritikermeinungen unterscheidet, nicht vernachlässigt werden. Diesem Anspruch wird der Band gerecht, indem er nicht nur literaturwissenschaftlich, sondern auch historisch und soziologisch ausgerichtete Aufsätze berücksichtigt. Ebenso hätte man sich Exkursionen in die Kunstgeschichte, die ansatzweise in der Untersuchung des Einflusses von William Morris eine Rolle spielt, vorstellen können.

Interdisziplinäres:
Buchhandelsgeschichte, Staatslehre und politische Utopie

Die am stärksten interdisziplinär arbeitenden Autoren des Bandes scheinen mir Thomas Keiderling, Sandra Pott und Annette Simonis zu sein. Keiderlings Aufsatz steht in dem vorliegenden Band völlig zurecht an erster Stelle, da seine wirtschafts-, sozial- und im Hinblick auf die Copyright-Entwicklung auch rechtsgeschichtlich fundierten Ausführungen zur herausragenden Rolle des Buchhandels der Stadt Leipzig, über den im Untersuchungszeitraum zwischen 1815 und 1914 schätzungsweise mehr als 90 Prozent der Importe englischer Bücher abgewickelt wurden, in vielerlei Hinsicht als Grundlage für die nachfolgenden Themen verstanden werden können. Keiderling stellt das von Leipziger Buchhandlungen ausgehende, strategisch gut durchdachte und weiträumig vernetzte Bestellsystem englischer Bücher überzeugend dar und analysiert die sich im 19. Jahrhundert stark wandelnden Bedingungen für die Verbreitung englischer Werke im deutschen Sprachraum. Während am Anfang des Jahrhunderts Bücher aus Großbritannien noch ein Luxusgut waren, ermöglichte die Tatsache, daß Tauchnitz seit 1841 englische Titel in Deutschland druckte, auch kaufkraftärmeren Schichten den Erwerb ausländischer Werke. Keiderling beeindruckt insbesondere durch seine durchsichtige Auswertung umfangreicher Tabellen und Statistiken und seine, wenn auch an manchen Stellen vielleicht unnötig schematisierte, methodische Klarheit.

Historische Überlegungen, insbesondere im Hinblick auf die wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung des Rechts, der Soziologie und Politologie, stehen auch im Mittelpunkt von Sandra Potts Untersuchung über die Wechselbeziehungen zwischen Staatslehre und Staatsroman zwischen 1845 und 1900. Die Autorin geht in ihrem Versuch, eine Verbindung zwischen literarischem und wissenschaftlichem Diskurs herzustellen, auf den Staatswissenschaftler Robert von Mohl zurück, der in seiner Geschichte der Staatswissenschaften (1855) dem Thema der Staatsromane, also Werken, die sich mit der Erfahrung des Staates im Mittel der Fiktion beschäftigen, ein Kapitel gewidmet hat. Seine hohe Einschätzung der "schönen Literatur" im Rahmen von wissenschaftlichen Untersuchungen wurde allerdings von Gelehrten wie Ludwig Gumplowicz wegen ihrer Naivität und geringen Realisierungschancen abgelehnt. Gumplowicz, der oft als Begründer der deutschen Soziologie angesehen wird, fühlte sich zu den im 18. Jahrhundert entwickelten, empirisch klar nachvollziehbaren Theorien des schottischen Philosophen Adam Ferguson hingezogen. Den Romanversuchen von Autoren wie Theodor Herzl oder Bertha von Suttner stand er dagegen äußerst kritisch gegenüber. Im Gegensatz dazu gelingt es Theodor Hertzka, der selbst drei Staatsromane verfaßt hat und an die Theorien Adam Smiths anknüpft, mühelos, das fiktive Potential seiner Werke zu benützen, um die Umsetzung von bereits bewiesenem, aber noch nicht in der Realität angewandtem wirtschaftlichem Wissen im Roman vorwegzunehmen.

Britische und amerikanische Einflüsse in diesen wissenschaftstheoretischen Diskussionen wurden fernerhin in der Rezeption von William Morris' News from Nowhere (1891) und Edward Bellamys Looking Backward (1888) in der von August Bebel, Johann Dietz und Wilhelm Liebknecht gegründeten Zeitschrift Die neue Zeit deutlich, und England wird im sozialdemokratischen Umfeld mit freiheitlichen, die Entwicklung der Arbeiterklasse positiv beeinflussenden Werten assoziiert. Obwohl Potts Aufsatz an manchen Stellen von einer Entschlüsselung des Fachjargons und ausführlicheren Erklärungen profitiert hätte, bildet ihr komplexes Thema die Grundlage für einen der originellsten Beiträge des Bandes.

Das utopische Potential von William Morris' News from Nowhere spielt auch eine zentrale Rolle in den Betrachtungen von Annette Simonis zum Einfluß des Künstlers im deutschen Sprachraum. In einer vorbildlich klar aufgebauten und mit stilistischer Präzision verfaßten Ideenfolge argumentiert die Autorin, daß Morris zur Zeit der Jahrhundertwende einerseits in Liebknechts Umfeld als politischer und sozialutopischer Denker rezipiert wurde, andererseits durch die Autoren der Wiener Moderne und im George-Kreis als ein vorwiegend ästhetisierender "art pour art"-Künstler verstanden wurde. Die Ausblendung des politischen Moments in Rudolf Kassners Die Mystik, die Künstler und das Leben (1900), das von zentraler Bedeutung für die Morris-Wirkungsgeschichte ist, hat weitreichende Folgen für die zum Teil einseitige, rückwärts gewandte und romantisierende, vor allem auch im Werk von Ernst Bloch artikulierte, deutsche Morris-Interpretation des zwanzigsten Jahrhunderts.

Entsprechend ihrer Überzeugung, daß man dem Schaffen dieses Künstlers nur durch das Erkennen der Verschränkung von politischen und ästhetischen Momenten in seinem Werk näher kommen kann, versucht Simonis neues Licht auf die für diese Wechselwirkung so wichtigen "Arts und Crafts-Dokumente", und insbesondere die 1882 veröffentlichte Schrift The Lesser Arts of Life, zu werfen. Es ist nämlich gerade im Bereich des Kunstgewerbes, in dem Morris die Möglichkeit sieht, eine noch nicht arbeitsteilige, ganzheitliche Identität von Subjekt und Objekt wiederherzustellen, und so seiner Ornamentsästhetik eine sozialpolitische Dimension zu verschaffen. Diese Ideen kommen, wie Simonis abschließend darstellt und reichhaltig illustriert, auch in Morris' Beschäftigung mit der Buchkunst zum Tragen.

Fin de siècle - Kultur
in Großbritannien, Deutschland und Österreich

In anderem Kontext steht die fin de siècle-Kultur in Deutschland und Österreich auch im Mittelpunkt der Aufsätze von Rainer Emig und Rudolf Weiss. Emig beschäftigt sich mit den in den Übersetzungen Stefan Georges und der literarischen Kritik Hugo von Hofmannsthals deutlich werdenden kulturspezifischen Transformationen. In diesem Zusammenhang zeigt er, daß sowohl George in seinen Übersetzungen von Dante Gabriel Rossetti, Algernon Swinburne und Ernest Dowson als auch Hofmannsthal in seiner literarischen Kritik von Werken Margaret Oliphants, Walter Paters und Oscar Wildes eine die englischen Texte "domestizierende" Rezeptionsstrategie praktizieren. Dabei werden kulturelle Werte, programmatische Ideen und Themen, die für den deutsch-österreichischen Hintergrund der Rezipienten von Bedeutung sind, als vorrangig gegenüber dem Ideal einer treuen, die Verschiedenheit des britischen kulturellen Rahmens respektierenden Übertragung behandelt.

Insbesondere zeigt Emig, wie George Rossettis und Swinburnes Poetik in ihrer Bildlichkeit zähmt und verflacht und so äußerliche Sinnlichkeit einer abstrakten, manchmal religiös gefärbten Innerlichkeit unterordnet. Auch Dowson wird zum Vorreiter einer neuen Poetik in Georges Sinn stilisiert und in einer vom Übersetzer erzwungenen Solidarität zum Botschafter seines "neuen Geistes". Eine ähnliche "Disziplinierung" des britischen Ästhetizismus kann man nach Emig in der Kritik von Hofmannsthal finden, und die innerlichen "großen Geister" Georges kehren als eine schöpfende, privilegierte Künstler- und Kritikerelite zurück. Emigs Aufsatz überzeugt durch seine textnahe und detaillierte Analyse der George-Übertragungen. Ob weiter reichende Schlußfolgerungen seines Beitrags, wie zum Beispiel die Beschreibung der deutschen ästhetischen Ideologie der Jahrhundertwende als in solchem Maße autoritaristisch, daß sie "schließlich ihre eigene >Übersetzung< in Totalitarismus mit ermöglichte" (S. 341), adäquat sind, müßte jedoch noch weiter hinterfragt werden.

Auch der Aufsatz von Rudolf Weiss beschäftigt sich mit der Wiener Kultur der Jahrhundertwende. In seinem Beitrag geht es um zwischen 1886 und 1913 in Wiener Theatern verstärkt aufgeführte zeitgenössische englische Dramen und deren Kritik in der Wiener Presse. Letztere muß wiederum im Zusammenhang mit der für die Zeit typischen Angst vor kultureller Überfremdung gesehen werden. Häufige, in der Beurteilung englischer Dramatik verbreitete negative Stereotypen schließen ihr Epigonentum, ihre Trivialität, ihre Rührseligkeit und Langweiligkeit, sowie ihren mißglückten Versuch, französische Kollegen zu imitieren, ein. In seiner Analyse der Wiener Theaterszene geht Weiss insbesondere auf fünf britische und irische Dramatiker ein, und die Stärke seines Beitrags liegt in der minutiösen Zusammenstellung der Kritiker- und Publikumsreaktionen auf die Aufführungen ausgewählter Dramen von Wilson Barrett, Arthur Wing Pinero, George Bernard Shaw, Oscar Wilde und John Galsworthy. Für zukünftige Forschungen auf diesem Gebiet ist fernerhin Weiss' tabellarischer Überblick über alle Wiener Aufführungen von englischen Dramen in dem von ihm gewählten Untersuchungszeitraum ein grundlegendes Hilfsmittel. Sein Aufsatz gewährt nicht nur Einsichten in die österreichische und deutsche Beurteilung von britischen Dramen, sondern er ist auch ein solide recherchierter Beitrag zur Theatergeschichte Wiens.

Romanadaptationen von Defoe bis Collins

Das Theater spielt eine Rolle in zwei weiteren der drei Aufsätze in Bachleitners Band, die sich mit dem Thema der Adaptation und der Hybridstellung dieser Form zwischen Übersetzungen im engeren Sinn und der Neuschaffung literarischer Werke beschäftigen. Russell West setzt sich in diesem Zusammenhang mit den Transformationsprozessen im Gattungswechsel zwischen Roman und Drama an den Beispielen von Charlotte Birch-Pfeiffers Umarbeitungen von Dickens' The Old Curiosity Shop (1840) in Großvater und Enkelkind oder die Wanderung (1843), Charlotte Brontës Jane Eyre (1847) in Die Waise aus Lowood (1853), George Eliots Silas Marner (1861) in Eine Sylvesternacht (1862) und Wilkie Collins' The Woman in White (1860) in Die Frau in Weiß (1866) auseinander.

Während West Birch-Pfeiffers Talent, die zeitlich oft ausgedehnten Handlungen eines Romans für die Länge einer Theateraufführung zu raffen und in manchen Fällen die Handlung geschickt neu zu arrangieren, nicht in Frage stellt, kritisiert er ihre mangelnde Fähigkeit, die für jeden Roman wichtigen räumlichen Strukturen erfolgreich in der Gattung des Dramas zu präsentieren. Er stellt fest, daß Birch-Pfeiffer die Bühne oft zu einer Plattform für gesprochene und erzählte, nicht aber wirklich gespielte Handlungen reduziert, wobei Räumlichkeit häufig verloren geht. Obwohl örtliche Strukturen im englischen Roman des 19. Jahrhunderts oft eine wichtige Funktion in der Beschreibung der sozialen Verhältnisse haben, zum Beispiel etwa in der Darstellung des Unterschiedes zwischen Stadt und Land, hält er es jedoch nicht für gerechtfertigt, Birch-Pfeiffer wegen der Reduzierung ihrer Bedeutung gesellschaftspolitische Indifferenz vorzuwerfen. Insgesamt ist es ist eines der Hauptanliegen von Wests Aufsatz, derartig pauschale Beurteilungen durch eine Untersuchung der Transformationsstrategien, die bei der "Übersetzung" von Texten zwischen verschiedenen Gattungen und Kulturkreisen angewendet werden, zu differenzieren.

Ganz auf die Umarbeitung von Jane Eyre konzentriert sich Inga-Stina Ewbanks hervorragend recherchierter und noch unerschlossenes Material behandelnder Beitrag. Die Autorin legt dar, wie die vor allem im Vergleich zur französischen Version sehr wörtliche deutsche Übersetzung von Christoph Friedrich Grieb des Jahres 1850 durch den Wiener Pädagogen Jakob Spitzer im Jahr 1862 für die Bedürfnisse von österreichischen Schülerinnen umgearbeitet wurde. Spitzer, der zu diesem Zeitpunkt an einer Töchterschule unterrichtete, war durch seine pädagogischen Werke für Lehrer und Schüler bekannt. Die Waise aus Lowood blieb jedoch sein einziger Versuch, erzieherische Ideen in der Form des Romans darzubieten. Der Titel der Umarbeitung weist eindeutig auf seine Kenntnis von Birch-Pfeiffers dramatischer Adaptation hin, die zwischen 1853 und 1895 im Wiener Burgtheater 102 mal aufgeführt wurde. Es ist ebenfalls davon auszugehen, daß seine Schülerinnen das Theaterstück kannten, und seine Bearbeitung des Romans kann als Reaktion sowohl auf Grieb als auch auf Birch-Pfeiffer bewertet werden.

Während Birch-Pfeiffer Brontës Stoff bereits in einen stark vereinfachten, moralisch und emotional viel weniger komplexen Handlungsablauf umstrukturiert hat, entfernt Spitzer alle phantastischen, gotischen und psychologischen Elemente des Romans. Die Erziehung Jane Eyres etwa beschreibt er viel eingehender als Brontë das je getan hat, wobei er die Heldin als Vorbild für seine eigenen Schülerinnen darstellt. Auch versucht er, seinen Lesern landeskundliches Wissen über das industrialisierte England zu vermitteln. Am Ende ihrer klar aufgebauten Argumentation bemerkt Ewbank, daß Spitzers bizarre Verzerrung von Brontës Roman wohl nicht ganz zu Unrecht wegen ihrer literarischen Minderwertigkeit von der Kritik vernachlässigt worden ist. Andererseits verdient sein Werk als Dokumentation für den weitreichenden Einfluß Jane Eyres in ganz Europa und als ein Beispiel par excellence für eine aus den Bedürfnissen des rezipierenden Leserkreises erwachsende Adaptation die Beachtung, die ihm durch Ewbanks Aufsatz zuteil wird.

David Blamires' vielschichtige Untersuchung deutschsprachiger Umformungen von Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) fügt den Überlegungen der beiden anderen Autoren zum Thema der Adaptation noch zwei weitere grundsätzliche Aspekte hinzu, nämlich zum einen die Wichtigkeit des historischen Kontextes, in dem eine Umarbeitung verankert ist, und zum anderen die im britischen Kulturkreis des Urtextes stattfindende erneute Rezeption der deutschen Umformung eines englischen Werks. Es ist die klare Darstellung dieser komplexen temporalen und interkulturellen Verzahnungen, die das Thema von Blamires zu einem besonders gelungenen Beitrag in Bachleitners Band werden lassen.

Am Ende des 18. Jahrhunderts konkurrierten die 1779-80 publizierten Umarbeitungen Johann Karl Wezels und Joachim Heinrich Campes um die Gunst des deutschen Lesepublikums. Wezels Robinson Crusoe war für Jugendliche und Erwachsene geschrieben, und die abenteuerlichen Elemente von Defoes Roman werden in der deutschen Version durch eine sozialpolitische, oft radikale Vorstellungen vertretende Tendenz überlagert. Im Gegensatz dazu war Campes Robinson der Jüngere für Kinder gedacht, und die Vermittlung von erzieherischen und moralischen Werten steht hier im Vordergrund. Obwohl Campes Buch im 19. Jahrhundert neu bearbeitet und sogar ins Englische übersetzt wurde, erreichte es nicht den dort noch länger anhaltenden Ruhm des von Johann David Wyss verfaßten und zwischen 1812 und 1827 in vier Bänden in Zürich veröffentlichten Schweizerischen Robinson. Wyss' Version unterscheidet sich insofern von den anderen beiden, als es sich bei seinem Werk nicht nur um eine Abenteuererzählung sondern auch um ein Sachbuch handelt, das über Tiere und Pflanzen der nicht-europäischen Welt belehrt.

Christoph Schmids 1829 publizierter Gottfried, der junge Einsiedler ist die letzte Adaptation, mit der sich Blamires auseinandersetzt. Auch diese Version ist wie die drei anderen im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum zumindest teilweise wegen ihrer schnell überholten moralischen Werte zur historischen Kinderbuchlektüre herabgesunken, während Defoes Roman weiterhin in populären Editionen aufgelegt wird. Dieses Schicksal wurde bis zu einem gewissen Grad auch dem Schweizer Robinson zuteil, der sich im englischen Sprachraum noch größerer Beliebtheit als im deutschen erfreute. Wahrscheinlich war der immer wieder auf den neuesten wissenschaftlichen Stand gebrachte Sachbuchcharakter des Buches dafür verantwortlich, daß es im englischen kulturellen Umfeld nicht nur während der kolonialen Expansion des 19. Jahrhunderts, sondern auch im 20. Jahrhundert in der beträchtlich vereinfachten Form des Swiss Family Robinson einen Platz in den Listen der Kinderbuchreihen behalten hat.

Übersetzungen: Dickens und Jane Austen

Die in den an sie gestellten Erwartungen klarer definierte Form der linguistischen Übersetzung literarischer Werke wird in den Beiträgen von Norbert Bachleitner und Helen Chambers untersucht. In beiden Aufsätzen wird deutlich, daß es sich jedoch auch bei dieser Form der Übertragung nicht um eine transparente, in Gestalt von klar verifizierbaren Gleichungen operierende Transposition handelt, sondern daß auch und gerade Übersetzer an Kanonentscheidungen sowie politischen Weichenstellungen beteiligt sind. Fernerhin stellen sie wichtige Verbindungen zu anderen Rezeptionsformen wie zum Beispiel der bereits erwähnten Bearbeitung oder der Rezension in literarischen Periodika her.

Bachleitner untersucht in seinem ideenreichen Beitrag das Beispiel der 1844/45 erschienenen Übersetzung von Dickens' Pickwick Papers (1837) durch den vor allem als Dramatiker bekannten Eduard von Bauernfeld. In seinem Fall verknüpft sich eine liberale, von der junghegelianischen Kritik beeinflußte Gesinnung mit Bewunderung für den Realismus der Romane von Charles Dickens. Bauernfeld verbindet sein Lob für die freiheitlicheren englischen Verhältnisse mit einer Klage über die deutschen und österreichischen Zustände, insbesondere die Einschränkungen durch die dort herrschende Zensur. In bezug auf seine Übersetzungsstrategie hat sich Bauernfeld – von einigen Ausnahmen abgesehen – für die von deutschen Romantikern wie Friedrich Schleiermacher propagierte und praktizierte verfremdende Methode entschieden. Um der Forderung nach Treue gegenüber der Originalsprache gerecht zu werden, läßt er es zu, daß sich in seinem Text Anglizismen einschleichen, und er greift an manchen Stellen zum Hilfsmittel der Fußnote, um schwer übersetzbare Phänomene zu erklären. Völlig zurecht wird in diesem Zusammenhang auch diskutiert, ob sich die von Bauernfeld praktizierte Übertragung von englischem Dialekt in Wienerische Mundart mit diesem Ideal der Treue vereinbaren läßt, und Bachleitner beendet seinen Aufsatz mit der für zukünftige Arbeiten bedeutsamen Frage, ob es sich bei Bauernfelds Verfremdungsstrategie um einen Einzelfall handelt. Sollte dies nicht der Fall sein und in Österreich eine generelle Tendenz des längeren Fortlebens romantischer Traditionen vorliegen, so müßte man weiter nachforschen, ob diese in der multikulturellen Situation der Vielvölkermonarchie, die eine bewußte Auseinandersetzung mit fremden Ideen förderte, begründet liegt.

Bachleitners Aufsatz ist ausgewogen in seiner Verbindung von detaillierter Textarbeit in ausgewählten Passagen mit der gezielt hinterfragenden Beurteilung der für die Übersetzung relevanten historischen und kulturellen Rahmenbedingungen. Es ist diese Verbindung, die in der historischen Übersetzungswissenschaft zu fruchtbaren Ergebnissen führt, und es bleibt zu hoffen, daß die von Bachleitner erwähnte, noch zu schreibende Geschichte des Übersetzens in Österreich die durch seinen Beitrag aufgeworfenen Fragen bald einer Lösung näher bringen wird.

Der Aufsatz von Helen Chambers, der die beiden deutschen Übersetzungen von Jane Austens Romanen untersucht und die Vernachlässigung ihres Werks im deutschen Sprachraum im 19. Jahrhundert beleuchtet, ist schematischer angelegt. Auf eine biographische Vorstellung von Wilhelm Adolf Lindau, der Persuasion (1818) als Anna. Ein Familiengemählde (1822) wiedergab, folgt eine Analyse seiner Übersetzungsstrategien, und eine Skizzierung der Aktivitäten von Louise Marezoll wird der Diskussion ihrer Übersetzung von Pride and Prejudice (1813) als Stolz und Vorurtheil (1830) vorangestellt. Auf der Basis von gründlichen Textvergleichen beschreibt Chambers beide Übertragungen, insbesondere im Vergleich zu erfolgreicheren Übersetzungen des 20. Jahrhunderts, als ein "Verlustgeschäft", da die deutschen Versionen den subtilen Nuancen von Austens Stil und den spezifisch englischen kulturellen Aspekten ihres Werkes nicht gerecht werden. Die geringe Beachtung, die Austen zwischen 1822 und 1911 in deutschen Rezensionszeitschriften zuteil wurde, ist daher wohl nicht verwunderlich, und Chambers' Beitrag schließt mit einer für zukünftige Forschungen wertvollen Zusammenstellung der in diesem Zeitraum publizierten Rezensionen von Austens Werken. Diese werden auch zum Teil auszugsweise abgedruckt, leider aber nicht weiter in ihrer Relation zu den Übersetzungen untersucht.

Für die Rezeption wichtige Zeitschriften:
Blätter für literarische Unterhaltung, Magazin für die Literatur des Auslandes, Grenzboten

Die Bedeutung des Mediums Zeitschrift in der Rezeption englischer und irischer Schriftsteller wird in den Beiträgen von Susanne Schmid, Margarete Rubik, Karl Wagner, Eda Sagarra und Ulrike Tanzer weiter hervorgehoben. Susanne Schmid verfolgt die Entwicklung der Darstellung von Aspekten englischer Kultur im Magazin für die Literatur des Auslandes zwischen 1832 und 1849. Sie versucht in ihrer gut fundierten Studie, einige generelle Tendenzen aufzuzeigen, die in mehrfacher Hinsicht in einer abschließenden Fallstudie der Behandlung Shelleys im Magazin reflektiert werden. Das von Joseph Lehmann herausgegebene Magazin ist unter anderem deswegen für den Rahmen des vorliegenden Bandes besonders interessant, weil sich in seinen Publikationen verschiedene Formen der Rezeption manifestieren: außer den traditionellen Rezensionen und Aufsätzen über britische Themen, die auch Reiseberichte und naturwissenschaftliche Beobachtungen einschließen, finden sich dort nämlich auch Übersetzungen von Artikeln aus englischen Zeitschriften sowie Reaktionen auf deutsche Literatur im Ausland. Fernerhin stellt Schmid überzeugend die aus deutschen historischen Ereignissen ableitbaren Gründe für das sich im Untersuchungszeitraum wandelnde Verhältnis zwischen literarischen und politisch-sozial ausgerichteten Beiträgen im Magazin dar. Damit verweist sie darauf, wie wichtig es ist, die manchmal nicht offen diskutierten, jedoch implizit geltenden Parameter für die Aufnahme ausländischer Ideen in einer rezipierenden Kultur zu berücksichtigen.

Auch Margarete Rubik beschäftigt sich neben den Blättern für literarische Unterhaltung mit dem Magazin für die Literatur des Auslandes. Ihr Hauptinteresse gilt jedoch Artikeln, die den Siegeszug englischer Sensationsromane von Autoren wie Mary Elizabeth Braddon, Wilkie Collins und Mrs Henry Wood im deutschsprachigen Raum in den siebziger Jahren kommentieren. Rubik geht von der Hypothese aus, daß die ungeheueren Erfolge der Autorinnen und subversiven Heldinnen dieser Romane in England als Protest gegen die benachteiligte und zum Teil unmündige Stellung der Frauen insbesondere im Bereich des Eigentumsrechts und ehelichen Güterrechts gelesen werden können. Wie jedoch läßt sich ihr Erfolg in Deutschland und Österreich, wo seit 1848 bürgerliche Rechte im Mittelpunkt standen und insgesamt relativ günstigere, jedoch in den einzelnen Territorien auch stark divergierende Rechtsnormen galten, erklären? Die abwertenden und die Romane aus ästhetischen Gründen verdammenden Rezensionen sprechen für die These, daß im deutschsprachigen Raum weniger geschlechtsspezifische als allgemein politische Überlegungen im Vordergrund standen, und daß das Unheil, das die Kritiker durch die fiktiven Gesetzesbrecherinnen heraufziehen sahen, weniger mit der Furcht vor der Befreiung der Frau aus ihren traditionellen Rollen als mit der Angst vor sozialer Revolution und Klassenressentiments zu tun hat. Diese Annahme wird auch dadurch unterstützt, daß etwa in der 1876 publizierten Übersetzung von Lady Audley's Secret (1862) weibliche Charakterbilder flacher und harmloser als im Urtext präsentiert werden und so unkonventionelle Frauenbilder von den Effekten des Kriminalromans überlagert werden. Derartige Verzahnungen zwischen praktizierten Übersetzungsstrategien und den Ideen der Kritiker sind natürlich faszinierend, und es ist die Stärke von Rubiks stringent geführter Argumentation, den Blick des Lesers für diese kulturhistorischen Verknüpfungen zu schärfen.

Im Vergleich zu den Sensationsautoren findet George Eliot trotz der Verfügbarkeit ihrer Werke in deutscher Sprache etwa in den Blättern für literarische Unterhaltung wenig Beachtung. Sie wird jedoch im Bereich der Grenzboten und in Spielhagens Schriften in den romantheoretischen Debatten des deutschen Realismus immer wieder erwähnt. Während die ältere Forschung von L. M. Price die Aufnahme von George Eliot ausschließlich im Grenzbotenkontext beschreibt, geht Karl Wagner auch auf ihre Rolle in der ersten Frauenbewegung in Deutschland und Österreich ein. Mit Ausnahme von Marie von Ebner-Eschenbach und Helene Druskowitz ist Eliots Einfluß auf Autorinnen und Feministinnen dieser Generation jedoch noch weitgehend unerforscht. Die Rezeption von Daniel Deronda (1876), die im Kontext des auf die wirtschaftliche Depression von 1873 folgenden Antisemitismus gesehen werden muß, ist der letzte Themenkreis von Wagners Aufsatz. Der Roman wurde in seinem jüdischen Kontext unter anderen von dem Germanisten Wilhelm Scherer, Ludwig Philippson, dem Herausgeber der Allgemeinen Zeitung des Judenthums, und auf Aufforderung von George Eliot auch von David Kaufmann, der Professor am jüdischen theologischen Seminar in Budapest war, besprochen. Interessanterweise zeigt Wagners Aufsatz, daß alle drei Kritiker die englische Haltung gegenüber dem Judentum insbesondere im Vergleich zu den rassistischeren Zügen des deutsch-österreichischen Antisemitismus beschönigen, obwohl George Eliot in ihrem Roman ein relativ scharfes Bild von anti-jüdischen Ressentiments in Großbritannien gezeichnet hat.

Irische Schriftstellerinnen und Schriftsteller

Eda Sagarra, Ulrike Tanzer und Eoin Bourke beschäftigen sich mit der Aufnahme der irischen Literatur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In diesem Zeitraum wurden in Deutschland und Österreich vor allem drei Autoren, nämlich Maria Edgeworth, Lady Morgan und Thomas Moore, gelesen. Während Sagarra und Tanzer die Rezeption der beiden Schriftstellerinnen im Spiegel von Periodika und Leihbibliothekskatalogen analysieren und damit wie viele Autoren des Bandes auf der Forschung von Alberto Martino und Norbert Bachleitner zu diesen Themen aufbauen, unterstreicht Bourke die Wichtigkeit Moores durch seinen Einfluß auf andere Autoren und Intellektuelle sowie die preußische Königsfamilie und den europäischen Hochadel. Sagarra und Tanzer konzentrieren sich besonders auf die Blätter für literarische Unterhaltung und die Allgemeine Literaturzeitung in den Jahren zwischen 1815 und 1848. Dabei kommen sie zu dem aus heutiger Sicht erstaunlichen Ergebnis, daß Maria Edgeworth gegenüber Lady Morgan den zweiten Platz einnimmt, und daß sich die Rezeption ihrer Werke einseitig auf ihre moralischen Erzählungen beschränkt. Der Erfolg der Romane Lady Morgans war kurzlebig. Dennoch konnte sie als kommerziell orientierte und geistreiche Schriftstellerin, die einen dezidiert irischen Patriotismus und bürgerliche Emanzipationsideale vertrat, deutsche Leser und literarische Zeitschriften für sich gewinnen.

Auch dem irische Freiheitsideale unterstützenden Thomas Moore wird heute eine geringere Bedeutung beigemessen, als dies zu seinen Lebzeiten der Fall war. Moore wurde vor allem durch seine Irischen Melodien (1808-34) und sein langes, in Indien spielendes Gedicht Lalla Rookh (1817) bekannt und berühmt. Das bis 1879 neunmal ins Deutsche übertragene Epos reflektierte nicht nur das orientalistische Interesse der Zeit, sondern enthielt auch verschlüsselt antimonarchische Tendenzen. Ironischerweise erkannten die adeligen Kreise des preußischen Hofs, wo Lalla Rookh 1821 in Szene gesetzt wurde, diese Züge des Gedichts nicht. Moore wurde 1842 sogar das preußische Verdienstkreuz verliehen, obwohl er unter einem Pseudonym weitere satirische Schriften, die die ihm verhaßte Heilige Allianz kritisierten, publiziert hatte. Auch wurde er nicht nur bei Hofe, sondern auch von anderen Schriftstellern wie Mme de Staël, Goethe, E. T. A. Hoffmann und la Motte Fouqué geschätzt. Seine historischen und biographischen Schriften wurden unter anderem von Ludwig Börne, Heinrich Heine und Friedrich Engels zur Kenntnis genommen, und die Irlandreisenden Hermann von Pückler-Muskau, Johann Georg Kohl und Julius Rodenberg berichten von seinem Einfluß. Obwohl Sagarra und Tanzer bzw. Bourke methodologisch unterschiedlich vorgehen und auf verschiedene Formen der Rezeption Bezug nehmen, skizzieren sie ein kohärentes Bild vom Einfluß irischer Schriftsteller im deutschen Sprachraum in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts und decken somit in kompetenter und gut lesbarer Weise einen wichtigen Teilbereich ab, ohne den Bachleitners Band um einiges ärmer wäre.

Zwei dominante Figuren: Byron und Scott

Während Moore zwar zu seinen Lebzeiten zusammen mit Byron und Scott in die Trias der drei "großen" lebenden englischsprachigen Schriftsteller eingereiht wurde, kann der Einfluß seiner Ideen auf die nachfolgenden Generationen nicht mit dem der beiden anderen Autoren konkurrieren. Sowohl Byron als auch Scott werden in den Aufsätzen von Günther Blaicher, Stefan Neuhaus, Alexander Ritter und Hans Vilmar Geppert behandelt. Günther Blaicher widmet sich insbesondere dem Problem der Rezeption späterer Generationen und versucht, die Frage, wie Byron von einer Vielzahl von deutschen Autoren und Kritikern während des gesamten 19. und frühen 20. Jahrhunderts als modern empfunden werden konnte, einer Klärung näher zu bringen. Für Autoren wie L. Wienbarg, A. Neidhart, K. Bleibtreu und E. Dühring war Byron der Dichter einer Übergangsperiode, mit dem sich die genannten Kritiker von den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts bis zur Jahrhundertwende identifizieren konnten, da auch sie sich selbst als Teile einer unabgeschlossenen, noch reifenden Kultur verstanden. Blaicher stellt in diesem Zusammenhang die interessante, jedoch leider nur sehr kurz diskutierte Hypothese auf, daß ein solches Byron-Verständnis nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr möglich war, was seiner Meinung nach zu einem Nachlassen des Interesses am Werk des Dichters im deutschen Sprachraum führte.

Weiterhin ist für Blaichers Thema die Untersuchung von Byrons Verhältnis zur Antike durch deutsche Autoren und Kritiker wie Heinrich von Treitschke, Karl Mendelssohn-Bartholdy, Friedrich Kreyßig und Rudolf Gottschall von besonderer Bedeutung. Die Frage, ob die klassische Zivilisation gegenüber der Zerrissenheit, dem Freiheitsstreben und den faustischen Zügen des modernen Menschen als eine beruhigende, einheitliche und formvollendete Kultur verstanden werden kann, ist zweifellos von ebenso zentraler Bedeutung für das vorliegende Thema wie die Beurteilung von Byrons Skepsis im Bereich der deutschen Kultur, mit der Blaichers Beitrag abgeschlossen wird. Während die deutschen Kritikermeinungen minutiös zusammengestellt und untersucht werden, hätte man gerne noch mehr zu der Frage erfahren, ob die deutsche "Fixierung" auf die modernen Züge in Byrons Werk in den Stellungnahmen der britischen Kommentatoren eine ähnlich zentrale Rolle einnimmt, oder ob hier kulturspezifische Eigeninteressen dominieren – aber vielleicht ist das ja ein Thema für einen weiteren Aufsatz.

Auch Stefan Neuhaus berücksichtigt in seiner Untersuchung der wichtigsten englischen Einflüsse auf Heinrich Heine Byron neben Scott und Shakespeare. Nach einigen eher selbstverständlichen theoretischen Überlegungen zum Thema der produktiven Rezeption beschreibt Neuhaus die Rolle Englands in Heines Werk als Gegenbild zu dem fortschrittlicheren, mit den Idealen der Revolution von 1789 assoziierten Frankreich. Dennoch hat Heine auch von englischen Autoren viel gelernt und bis zu einem gewissen Grad benützt er sie, um seinen eigenen Ideen Ausdruck zu verleihen. Während Byron in der Harzreise (1826) von einer ironisch geschilderten älteren Dame nur in den Teilen gelesen wird, in denen er ihrer eigenen biedermeierlich-romantischen Stimmung entspricht, ist er für Heine selbst ein politischer Autor. Seine Rezeption ermöglicht ihm sowohl eine Kritik der selbstgefällig bürgerlichen als auch der aristokratisch-monarchischen Gesellschaft mit einem König von Gottesgnaden an der Spitze. Letzteres Thema wird vor allem in Heines Umarbeitung von Byrons Belshazzar-Gedicht (1815), das Neuhaus in seinen verschiedenen Versionen in einem Anhang wiedergibt, angesprochen.

Trotz seiner Bewunderung für die literarische Begabung Sir Walter Scotts ist Heine auch in seiner Rezeption dieses Autors von politischen Motiven bewegt, und in den Englischen Fragmenten (1831) skizziert er Scotts Napoleon-Biographie als ein Unfreiheit symbolisierendes, in die Vergangenheit zurückverweisendes Werk, was zur oben bereits erwähnten Idealisierung von Frankreich gegenüber England beiträgt. Shakespeare dagegen begegnet Heine mit größter Ehrerbietung, wenn auch, wie Neuhaus vorschlägt, der Grund dafür sein mag, daß dieser von ihm nicht primär als Repräsentant Englands verstanden wird, sondern als ein über nationale Grenzen hinaus wirkender Weltdichter. Neuhaus' Beitrag wird von Betrachtungen zu Heines Tragödie William Ratcliff (1823) abgeschlossen, in der – so argumentiert der Aufsatz – der Einfluß von allen drei englischen Autoren spürbar ist. Seine Stärke liegt in seinem rekapitulierenden Überblickscharakter. Genauere Detailarbeit müßte, wie der Autor selbst in seiner Schlußbemerkung darlegt, in thematisch enger begrenzten Untersuchungen geleistet werden.

Sowohl Alexander Ritter als auch Hans Vilmar Geppert schließlich beschäftigen sich mit produktiven Rezeptionen des Werkes von Sir Walter Scott und seinem Einfluß auf die Gattung des historischen Romans in deutscher Sprache. Der von Ritter behandelte Charles Sealsfield, der 1823 in die Vereinigten Staaten emigrierte und bis 1858 immer wieder dort reiste und lebte, ist deshalb ein besonders interessanter Fall, weil seine Verarbeitung von Scotts Werken nicht ohne den Hintergrund amerikanischer Kultureinflüsse denkbar wäre. Sealsfield ist nämlich daran interessiert, die Popularität Scotts und der Gattung des historischen Romans gezielt für seine eigenen Zwecke auszunützen. Jedoch ist es nicht der "authentische", in der britisch-europäischen Tradition verwurzelte Scott, der Sealsfield faszinierte, sondern der durch amerikanische Südstaaten-Autoren wie John Pendleton Kennedy und William Gilmore Simms "gefilterte" Scott. Autoren wie sie drückten Scotts historischem Roman den Stempel ihrer eigenen Kultur auf, verwandelten in ihren "historical romances" und "plantation novels" schottische Aristokraten in Landbesitzer von Virginia und "highlanders" in "frontiermen".

Es ist gerade diese Überlagerung und Vermischung der Kulturen, die Sealsfield besonders beeindruckte. Auch er ist nämlich darum bemüht, die Probleme der Alten Welt, etwa ihre mangelnde Demokratisierung, und die Krisen seiner eigenen Zeit durch die von ihm als vorbildlich dargestellten Verhältnisse der Neuen Welt zu überwinden. Amerika wird in diesem Zusammenhang als Zukunft Europas präsentiert. In seinen eigenen Geschichtsromanen, so zum Beispiel in Das Cajütenbuch oder Nationale Charakteristiken (1841), versucht Sealsfield nicht nur, seinen deutschen Lesern ein Stück amerikanische Geschichte zu vermitteln, sondern auch, sie politisch zu belehren und ihnen durch sein Werk eine Orientierungshilfe zu bieten. Während Sealsfield dabei sehr bewußt auf die bei den Lesern beliebten Themen und narrativen Strukturen Scotts zurückgreift, schafft er durch deren Verlegung in die Vereinigten Staaten eine neue Plattform für die didaktisch gut aufbereitete Durchsetzung seiner eigenen Ideen. Diese "transatlantische" Scott-Rezeption ist wegen des dabei stattfindenden Kulturaustausches zwischen drei Ländern ein lohnendes Thema, bei dem es sicherlich noch eine Vielzahl von unaufgearbeiteten Aspekten zu entdecken gibt.

Auch Hans Vilmar Gepperts Behandlung der Rezeption von Scotts Werken geht über eine rein "bilaterale" Untersuchung deutsch-britischer Literaturbeziehungen hinaus. In seinen theoretisch ausgerichteten Überlegungen untersucht Geppert für historische Romane konstitutive, bereits innerhalb von Scotts eigenem Werk kritisch hinterfragte Parameter und deren Modifikation durch Autoren wie Stendhal, Balzac, Thackeray, Fontane und Alexis.

Besonders interessant sind Gepperts Ausführungen zur Benützung der Synekdoche, die maßgeblich zur nachhaltigen Wirkung der Scottschen Werke beitrug, in den Werken seiner Nachfolger. Während bei Scott Fiktion oft lediglich einen kleinen Teil eines Ausschnitts aus den größeren historischen Zusammenhängen abdeckt, dehnt sich in den produktiven Rezeptionen der bereits erwähnten Autoren diese verengte Perspektive zum Teil in eine große geschichtsphilosophische Metapher aus. Das Verhältnis von Fiktion und Historie, ihre Trennung und Verschmelzung, findet in den Werken dieser Autoren immer wieder neue Ausprägungen, und Gepperts dicht geschriebener Aufsatz bietet dem Kenner neue Einsichten in die bereits in Scotts Œuvre angelegte, jedoch von seinen Nachfolgern immer wieder mit Experimentierfreudigkeit neu erschlossene Vielfalt an narrativen Perspektiven im Bereich der historischen Fiktion. Obwohl an manchen Stellen eine ausführlichere Diskussion der Texte das Verständnis der komplexen erzähltechnischen Überlegungen erleichtert hätte, gelingt es Geppert, die in Scotts Werk angelegten grundsätzlichen Möglichkeiten und Strukturen historischen Schreibens sowie die Variationen seiner Techniken in späteren Romanen des 19. Jahrhunderts in einer theoretisch anspruchsvollen und herausfordernden Form darzustellen.

Resümee

Zusammenfassend ist zu bemerken, daß sich das in der Einleitung zu Bachleitners Band postulierte umfassendere und damit interdisziplinär arbeitende Konzept der Rezeptionsgeschichte in der kreativen Vielfalt der Ansätze und Methoden der Autoren widerspiegelt. Dadurch wird auch die Meinung unterstützt, daß es an der Zeit sei, ältere Standardwerke auf dem Gebiet der englisch-deutschen Literaturbeziehungen wie zum Beispiel Lawrence Marsden Prices English Literature in Germany (1953) oder Horst Oppels Englisch-deutsche Literaturbeziehungen (1971) auf der Grundlage dieser methodischen Erweiterungen für die Leser der Gegenwart zu überarbeiten und neu zu schreiben. In diesem Kontext sind die Beiträge des Bandes als wertvolle Mosaiksteine für ein solches traditionelle Fachgrenzen überschreitendes Unternehmen zu bewerten. Der Herausgeber hat die Aufsätze mit gewissenhafter Umsicht und präziser Genauigkeit redigiert, mit einem hilfreichen Personenregister versehen, und das Interesse des Lesers wird bereits vor dem Aufschlagen des Buches durch eine ansprechende Cover-Illustration geweckt. Sein Band stellt eine sorgfältig durchdachte und neue Einsichten eröffnende Bereicherung für die Erforschung der Beziehungen zwischen dem deutsch- und englischsprachigen Kulturkreis im 19. Jahrhundert dar.


Susanne Stark PhD
University of Leeds

Ins Netz gestellt am 31.07.2001
IASLonline

Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Diese Rezension wurde betreut von unserem der Redaktion IASLonline. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez - Literaturwissenschaftliche Rezensionen.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück ]