Steenblock über Jordan: Geschichtstheorien

Volker Steenblock


Schwellenzeit der Geschichtstheorie


  • Stefan Jordan: Geschichtstheorie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Schwellenzeit zwischen Pragmatismus und Klassischem Historismus. Frankfurt/M.: Campus 1999. 264 S. Kart. DM 58,-.

  • Ders. (Hg.): Schwellenzeittexte. Quellen zur deutschsprachigen Geschichtstheorie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. (Wissen und Kritik 17) Waltrop: Spenner 1999. 345 S. Kart. DM 48,-.1



Als gegen Ende der 1960er Jahre in Deutschland die Sozialgeschichte, damals noch von avantgardistischem Theoriedesign, sich gegen den Historismus als "vermeintlichen Anachronismus" durchzusetzen suchte, "befreite" sie "die deutsche Geschichtswissenschaft zugleich von ihrer eigenen Tradition" der Historisten von Ranke und Droysen bis Meinecke (S.11 f.). Retrospektiv veränderte sich damit in einem "Veröffentlichungsschub historischer Theorietexte" (Jordan) auch die Deutung der Wissenschaftsgeschichte der Historie. War bisher, auch im Selbstverständnis des deutschen Historismus, die sozusagen ‚eigentliche‘ geschichtswissenschaftliche Epoche der Historismus gewesen, der auf die wenig bemerkenswerte Geschichte der Aufklärungshistorie folgte, so ‚stärkte‘ der neo- aufklärerische Anspruch der Historischen Sozialwissenschaften die Geschichtsschreibung der Aufklärung, der gegenüber der Historismus nun auf einmal als fatale deutsche Sonderbildung erschien.

Historismus als Quelle neuer Innovationen

Wenn "historistisch" jemand denkt, der, wie heute der Amerikaner Richard Rorty sagt, nicht der Ansicht ist, "unsere zentralen Überzeugungen und Bedürfnisse bezögen sich zurück auf eine Instanz jenseits des raumzeitlichen Bereiches",2 so ist die genannte Neubewertung zweier Epochen und Paradigmata der Geschichtswissenschaft eine glänzende Bestätigung dieser historistischen Einsicht, die zugleich anzeigt, wo eben tatsächlich die eigentlichen Innovationspotentiale und die erheblich dauerhafteren Prinzipien historischen Denkens entwickelt wurden und bis heute liegen: nämlich bei eben jenem von Georg G. Iggers bis Hans-Ulrich Wehler zu Unrecht pauschal geschmähten Historismus. Hinzuzufügen ist freilich, dass ‚der Historismus‘ eine immens vielinterpretierte und vielschichtige Gedankenformation ist und dass beileibe nicht jede seiner oft genug reaktionären Ausprägungen und fatalen Epigonen affirmiert, wer gleichwohl die entscheidenden Leistungen "historistischer Aufklärung" (Herbert Schnädelbach) herausstellt.3 Diese Leistungen liegen in der Sicht der Kultur als Ergebnis historischer Arbeit, die nie etwas Vorgegebenes, sondern Aufgegebenes ist: Der "Mensch muß, um ein Mensch zu sein, erst ein Mensch werden; und nur in dem Maße ist er es, als er es zu werden und immer mehr zu werden versteht".4

Nach dem jetzt von Stefan Jordan konstatierten "Ende der Historischen Sozialwissenschaften" (S.12) wird eine Ergänzung vormalig ideenpolitisch besetzter und inspirierter Schemata, vielleicht auch wiederum eine Neubewertung der Geschichte der Geschichtswissenschaft fällig. Hierzu tritt Jordan, der sein Handwerk als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum (bei Lucian Hölscher) gelernt hat und seit 1999 Redakteur der Neuen Deutschen Biographie in der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München ist, mit seiner hochinteressanten Bochumer Dissertation zur "Geschichtstheorie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts" an. Es sei gleich vorweg gesagt, dass diese Arbeit sich neben den differenzierten Analysen etwa eines Horst Walter Blanke nicht zu verstecken braucht.5

Jordan ergänzt die bisherige Dichotomie in der deutschsprachigen Geschichtstheorie zwischen der im 19. Jahrhundert als "Pragmatismus" bezeichneten Aufklärungshistorie einerseits und dem Historismus andererseits um eine zwischen beiden angesiedelte dritte sogenannte "Schwellenzeit" als eigenständig ausweisbaren Zeitraum. Die hier einzuordnenden Autoren finden sich in der Arbeit systematisch untersucht, ausgesuchte Vertreter mit Textausschnitten zudem in einem zusätzlichen Quellenband dokumentiert.

'Schwellenzeit' zwischen Pragmatismus und Historismus

Mit einer etwa fünfzigseitigen Einleitung versehen, bietet der Quellenband "geschichtstheoretische Texte, die für die Grundlegung, den Aufbau und die Vermittlung der Geschichte als eigenständige Wissenschaft gedacht sind oder Reflexionen zu spezifisch historischen Problemfeldern anbieten" (Quellenband, S.XV). Chronologisch in Zehnjahresschritten von 1800 ff. bis 1850 ff. sortiert, findet sich so ein weites Text(auszugs)-spektrum von Autoren, deren Äußerungen man zuvor entweder der Aufklärungshistorie oder dem Historismus zugeschlagen hätte: von Woltmann, Luden, Süvern und Rotteck über Gervinus, Hagen und Ch. F. Schulze zu Waitz und Leo, aber auch Niebuhr, Savigny und Ranke. Zudem präsentiert der Band eine ganze Reihe an Texten und Autoren, die heute zu den Vergessenen zählen, weil sie nicht voll den Paradigmen ‚Aufklärungshistorie‘ oder ‚Historismus‘ entsprachen. Kurzbiographien sowie eine Bibliographie runden diese aufwendige und verdienstvolle Materialsammlung ab, in der sich viele interessante und bemerkenswerte Entdeckungen machen lassen.

Die Auswertung dieser Sammlung und anderer Quellen liefert der Theorieband. Die Untersuchung konzentriert sich dabei auf die "Geschichtstheorie", die im Unterschied zur "Geschichtsschreibung" und "Geschichtsphilosophie" im oben genannten Sinne enger definiert wird als in vergleichbaren Arbeiten. Auch räumt Jordan dem proklamierten Anspruch der Texte größere Bedeutung ein. Die zeitliche Eingrenzung der Schwellenzeit basiert auf den Abgrenzungen der Geschichtstheoretiker um 1800 gegenüber der Aufklärungshistorie bzw. auf der der Historisten nach 1850 gegenüber ihren Vorgängern. Im begriffsanalytischen Zugriff werden ausgehend von dieser Periodisierung einzelne Charakteristika der Geschichtstheorie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgestellt, wie etwa die Betonung der "Bildung" gegenüber dem Erziehungsideal der "Aufklärung" oder die Forderung nach einer "Universalgeschichte" anstelle der "allgemeinen Geschichte".

Eine besondere Qualität erkennt der Autor in der Epistemologie und der Methode der Schwellenzeit. Wenngleich zwar "verstehen" und "das Verständnis" als hermeneutische Zugriffe bereits gebräuchlich sind, ist weiterhin "die Kritik" und nicht "das Verstehen" wie im späteren Historismus der zentrale Akt historischer Erkenntnis. Anstelle des Verstandes, der sowohl in der Aufklärungshistorie als auch im Historismus die dominierende Erkenntnisinstanz sei, werde in der Schwellenzeit nach "dem Gemüt" gefordert. Mit dem Gemüt solle der Historiker "begreifen", "verstehen", "empfinden", "erraten" und "ahnen/ahnden". Gerade der letzte Begriff, der ja eindeutig einen "intuitiven Erkenntnisakt" (S.146) bezeichnet, steht zugleich unter dem Gebot zunehmender Empirisierung und bezeichnet nach Jordan so eine legitime Zwischenstufe, die sich von der Aufklärungshistorie ebenso absetzt, wie sie nicht als bloße Vor- und Frühstufe des historistischen "Verstehens" verortet werden darf (S.150). Als neuartige Entwicklungen der Schwellenzeit abstrahiert Jordan die Tendenzen der Empirisierung, Objektivierung, Personalisierung und Universalisierung der Geschichtstheorie und konstatiert ein verstärktes "organologisches Denken".

Mut zur "Meta-Geschichtswissenschaft"

Die Autoren- und Werkbezüge in den Texten der Schwellenzeit weisen freilich darauf hin, dass so etwas wie der "selbstreflexive Diskurs einer ‚scientific community‘" und eine wirkliche argumentative Binnendiskussion innerhalb des schwellenzeitlichen Autorenkreises für diese Zeit noch nicht anzusetzen sind. Auch habe es sich bei den Geschichtstheoretikern häufig nicht um ausgebildete Historiker, sondern um Akademiker verschiedenster Richtungen gehandelt. Hierin sieht der Autor einen weiteren Unterschied zu den historistischen Debatten nach 1850.

Jordan möchte der an ein aufklärerisches Ideal anknüpfenden deutschen Geschichtstheorie der letzten dreißig Jahre kein "konservatives" oder "romantisches" Modell entgegenstellen. Seine Arbeit beansprucht vielmehr mit Recht, Anstöße für die Thematisierung jener "Meta- Geschichtswissenschaft" zu etablieren, die auch für die Debatte um eine angemessene Geschichtstheorie überhaupt von Bedeutung sind. Die Entwicklung von der Aufklärungshistorie zum Historismus prägte die Bedingungen historischen Denkens und das quellenkritisch-methodische Niveau der Geschichtswissenschaft im eigentlichen Sinne aus. Hinter beides können wir heute nicht zurück; wir müssen es zur Kenntnis nehmen, wollen wir uns folgenschwere Irrwege ersparen. Jordans Arbeit leistet nicht nur einen bedeutenden Beitrag zum genaueren Verständnis dieser Entwicklung. Sie vermag auch, eine Debatte zu rationalisieren, die die Theoriegeschichte der Historie retrospektiv funktionalisiert.


PD Dr. Volker Steenblock
Heisstraße 48
D-48145 Münster

Ins Netz gestellt am 30.06.2000.

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Anmerkungen

1 Zitate aus der Monographie werden im Text mit einfacher Seitenzahl angemerkt, Zitate aus der Edition mit dem Zusatz „Quellenband“.   zurück

2 Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität (Contingency, irony, and solidarity), Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, S.14.   zurück

3 Vgl. Verf.: Transformationen des Historismus, München: Fink 1991.   zurück

4 Johann Gustav Droysen: Historik, Ausgabe R. Hübner, München: Oldenbourg 1937, S.15 f.   zurück

5 Vgl. z. B. Horst Walter Blanke: Historiographiegeschichte als Historik. Stuutgart- Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1991; Ders./Jörn Rüsen (Hgg.): Von der Aufklärung zum Historismus. Zum Strukturwandel historischen Denkens. (Historisch-politische Diskurse 1) Paderborn usw.: Schöningh 1984. Vgl. ferner: Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760-1860. Berlin: de Gruyter 1996.   zurück