Als gegen Ende der 1960er Jahre in Deutschland die Sozialgeschichte, damals noch von
avantgardistischem Theoriedesign, sich gegen den Historismus als "vermeintlichen
Anachronismus" durchzusetzen suchte, "befreite" sie "die deutsche
Geschichtswissenschaft zugleich von ihrer eigenen Tradition" der Historisten von
Ranke und Droysen bis Meinecke (S.11 f.). Retrospektiv veränderte sich damit in
einem "Veröffentlichungsschub historischer Theorietexte" (Jordan) auch
die Deutung der Wissenschaftsgeschichte der Historie. War bisher, auch im
Selbstverständnis des deutschen Historismus, die sozusagen ‚eigentliche‘
geschichtswissenschaftliche Epoche der Historismus gewesen, der auf die wenig
bemerkenswerte Geschichte der Aufklärungshistorie folgte, so ‚stärkte‘ der neo-
aufklärerische Anspruch der Historischen Sozialwissenschaften die
Geschichtsschreibung der Aufklärung, der gegenüber der Historismus nun auf
einmal als fatale deutsche Sonderbildung erschien.
Historismus als Quelle neuer Innovationen
Wenn "historistisch" jemand denkt, der, wie heute
der Amerikaner Richard Rorty sagt, nicht der Ansicht ist, "unsere zentralen
Überzeugungen und Bedürfnisse bezögen sich zurück auf eine
Instanz jenseits des raumzeitlichen Bereiches",2 so ist die
genannte Neubewertung zweier Epochen und Paradigmata der Geschichtswissenschaft eine
glänzende Bestätigung dieser historistischen Einsicht, die zugleich anzeigt, wo
eben tatsächlich die eigentlichen Innovationspotentiale und die erheblich dauerhafteren
Prinzipien historischen Denkens entwickelt wurden und bis heute liegen: nämlich bei
eben jenem von Georg G. Iggers bis Hans-Ulrich Wehler zu Unrecht pauschal
geschmähten Historismus. Hinzuzufügen ist freilich, dass ‚der Historismus‘ eine immens vielinterpretierte und
vielschichtige Gedankenformation ist und dass beileibe nicht jede seiner oft genug
reaktionären Ausprägungen und fatalen Epigonen affirmiert, wer gleichwohl die
entscheidenden Leistungen "historistischer Aufklärung" (Herbert
Schnädelbach) herausstellt.3 Diese Leistungen liegen in der
Sicht der Kultur als Ergebnis historischer Arbeit, die nie etwas Vorgegebenes, sondern
Aufgegebenes ist: Der "Mensch muß, um ein Mensch zu sein, erst ein Mensch
werden; und nur in dem Maße ist er es, als er es zu werden und immer mehr zu werden
versteht".4
Nach dem jetzt von Stefan Jordan konstatierten "Ende der Historischen
Sozialwissenschaften" (S.12) wird eine Ergänzung vormalig ideenpolitisch
besetzter und inspirierter Schemata, vielleicht auch wiederum eine Neubewertung der
Geschichte der Geschichtswissenschaft fällig. Hierzu tritt Jordan, der sein Handwerk
als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der
Ruhr-Universität Bochum (bei Lucian Hölscher) gelernt hat und seit 1999
Redakteur der Neuen Deutschen Biographie in der Historischen Kommission bei der
Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München ist, mit seiner
hochinteressanten Bochumer Dissertation zur "Geschichtstheorie in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts" an. Es sei gleich vorweg
gesagt, dass diese Arbeit sich neben den differenzierten Analysen etwa eines Horst Walter
Blanke nicht zu verstecken braucht.5
Jordan ergänzt die bisherige Dichotomie in der deutschsprachigen
Geschichtstheorie zwischen der im 19. Jahrhundert als "Pragmatismus"
bezeichneten Aufklärungshistorie einerseits und dem Historismus andererseits um eine
zwischen beiden angesiedelte dritte sogenannte "Schwellenzeit" als
eigenständig ausweisbaren Zeitraum. Die hier einzuordnenden Autoren finden sich in
der Arbeit systematisch untersucht, ausgesuchte Vertreter mit Textausschnitten zudem in
einem zusätzlichen Quellenband dokumentiert.
'Schwellenzeit' zwischen Pragmatismus und Historismus
Mit einer etwa fünfzigseitigen Einleitung versehen, bietet der Quellenband
"geschichtstheoretische Texte, die für die Grundlegung, den Aufbau und die
Vermittlung der Geschichte als eigenständige Wissenschaft gedacht sind oder
Reflexionen zu spezifisch historischen Problemfeldern anbieten" (Quellenband, S.XV).
Chronologisch in Zehnjahresschritten von 1800 ff. bis 1850 ff. sortiert, findet sich so ein
weites Text(auszugs)-spektrum von Autoren, deren Äußerungen man zuvor
entweder der Aufklärungshistorie oder dem Historismus zugeschlagen hätte: von
Woltmann, Luden, Süvern und Rotteck über Gervinus, Hagen und Ch. F.
Schulze zu Waitz und Leo, aber auch Niebuhr, Savigny und Ranke. Zudem präsentiert
der Band eine ganze Reihe an Texten und Autoren, die heute zu den Vergessenen
zählen, weil sie nicht voll den Paradigmen ‚Aufklärungshistorie‘ oder
‚Historismus‘ entsprachen. Kurzbiographien sowie eine Bibliographie runden diese
aufwendige und verdienstvolle Materialsammlung ab, in der sich viele interessante und
bemerkenswerte Entdeckungen machen lassen.
Die Auswertung dieser Sammlung und anderer Quellen liefert der Theorieband. Die
Untersuchung konzentriert sich dabei auf die "Geschichtstheorie", die im
Unterschied zur "Geschichtsschreibung" und "Geschichtsphilosophie"
im oben genannten Sinne enger definiert wird als in vergleichbaren Arbeiten. Auch
räumt Jordan dem proklamierten Anspruch der Texte größere Bedeutung
ein. Die zeitliche Eingrenzung der Schwellenzeit basiert auf den Abgrenzungen der
Geschichtstheoretiker um 1800 gegenüber der Aufklärungshistorie bzw. auf der
der Historisten nach 1850 gegenüber ihren Vorgängern. Im begriffsanalytischen
Zugriff werden ausgehend von dieser Periodisierung einzelne Charakteristika der
Geschichtstheorie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgestellt, wie etwa die
Betonung der "Bildung" gegenüber dem Erziehungsideal der
"Aufklärung" oder die Forderung nach einer
"Universalgeschichte" anstelle der "allgemeinen Geschichte".
Eine besondere Qualität erkennt der Autor in der Epistemologie und der Methode der
Schwellenzeit. Wenngleich zwar "verstehen" und "das
Verständnis" als hermeneutische Zugriffe bereits gebräuchlich sind, ist
weiterhin "die Kritik" und nicht "das Verstehen" wie im
späteren Historismus der zentrale Akt historischer Erkenntnis. Anstelle des Verstandes,
der sowohl in der Aufklärungshistorie als auch im Historismus die dominierende
Erkenntnisinstanz sei, werde in der Schwellenzeit nach "dem Gemüt"
gefordert. Mit dem Gemüt solle der Historiker "begreifen",
"verstehen", "empfinden", "erraten" und
"ahnen/ahnden". Gerade der letzte Begriff, der ja eindeutig einen "intuitiven
Erkenntnisakt" (S.146) bezeichnet, steht zugleich unter dem Gebot zunehmender
Empirisierung und bezeichnet nach Jordan so eine legitime Zwischenstufe, die sich von der
Aufklärungshistorie ebenso absetzt, wie sie nicht als bloße Vor- und
Frühstufe des historistischen "Verstehens" verortet werden darf (S.150).
Als neuartige Entwicklungen der Schwellenzeit abstrahiert Jordan die Tendenzen der
Empirisierung, Objektivierung, Personalisierung und Universalisierung der Geschichtstheorie
und konstatiert ein verstärktes "organologisches Denken".
Mut zur "Meta-Geschichtswissenschaft"
Die Autoren- und Werkbezüge in den Texten der Schwellenzeit weisen freilich
darauf hin, dass so etwas wie der "selbstreflexive Diskurs einer ‚scientific
community‘" und eine wirkliche argumentative Binnendiskussion innerhalb des
schwellenzeitlichen Autorenkreises für diese Zeit noch nicht anzusetzen sind. Auch
habe es sich bei den Geschichtstheoretikern häufig nicht um ausgebildete Historiker,
sondern um Akademiker verschiedenster Richtungen gehandelt. Hierin sieht der Autor einen
weiteren Unterschied zu den historistischen Debatten nach 1850.
Jordan möchte der an ein aufklärerisches Ideal anknüpfenden
deutschen Geschichtstheorie der letzten dreißig Jahre kein "konservatives"
oder "romantisches" Modell entgegenstellen. Seine Arbeit beansprucht vielmehr
mit Recht, Anstöße für die Thematisierung jener "Meta-
Geschichtswissenschaft" zu etablieren, die auch für die Debatte um eine
angemessene Geschichtstheorie überhaupt von Bedeutung sind. Die Entwicklung von
der Aufklärungshistorie zum Historismus prägte die Bedingungen historischen
Denkens und das quellenkritisch-methodische Niveau der Geschichtswissenschaft im
eigentlichen Sinne aus. Hinter beides können wir heute nicht zurück; wir
müssen es zur Kenntnis nehmen, wollen wir uns folgenschwere Irrwege ersparen.
Jordans Arbeit leistet nicht nur einen bedeutenden Beitrag zum genaueren Verständnis
dieser Entwicklung. Sie vermag auch, eine Debatte zu rationalisieren, die die
Theoriegeschichte der Historie retrospektiv funktionalisiert.
PD Dr. Volker Steenblock
Heisstraße 48
D-48145 Münster
Ins Netz gestellt am 30.06.2000.
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