
- Stefan Knoche: Benjamin – Heidegger. Über Gewalt. Die Politisierung der Kunst. Wien: Turia und Kant 2000. 218 S. Kart. € 22,-.
ISBN 3-85132-252-5.
Rätselhaftes links und rechts
"Links hatte noch alles sich zu enträtseln..." lautete der durchaus programmatisch zu verstehende Titel eines Sammelbandes, der 1978 eine Zwischenbilanz der Benjamin-Forschung zog. Zwar gehörte die von aktuellen politischen Interessen geleitete Wiederentdeckung Benjamins durch die Studentenbewegung im Erscheinungsjahr bereits der Vergangenheit an. Dennoch schien auch das differenziertere Bild, das die mit dem Erscheinen der Gesammelten Schriften einsetzende akademisch-philologische Rezeption zeichnete, eine unparteiliche Beschäftigung mit dem Autor nicht zu erlauben. Das titelgebende Zitat war einem Denkbild entnommen, in dem Benjamin sich die Optionen vergegenwärtigte, die dem bürgerlichen Intellektuellen im Weltbürgerkrieg zu Beginn der dreißiger Jahre noch verblieben waren. Mit dem Unternehmen, Benjamin in den Kontext seiner Zeit zurückzustellen, war für die von Burkhardt Lindner eingeladenen Beiträger die Einschätzung verbunden, "daß sich aus der Rekonstruktion der Auseinandersetzungen der Vorkriegsintelligenz nachhaltige Anstöße für gegenwärtige Probleme ergeben". 1
Inzwischen verdichten sich die Anzeichen, daß in Sachen Benjamin, um in seinem eigenen Bild zu bleiben, auch >rechts< so manches der Enträtselung harre. Mit der hier anzuzeigenden Studie liegt nun bereits eine weitere Monographie über zwei Autoren vor, deren Nähe zu behaupten noch unlängst als skandalös empfunden wurde. Die Berührungsängste mit dem Thema Benjamin und Heidegger abzubauen, hat zwar mittlerweile eine umfängliche Aufsatzliteratur zumeist in englischer Sprache beigetragen, deren Verfasser überwiegend dem Umfeld des Dekonstruktivismus zuzurechnen sind. Aber noch Willem van Reijens 1998 erschienene Studie rechnete mit Lesern, denen die "trotz grundsätzlicher Differenzen" konstatierten "Parallelen und Konvergenzen zwischen den Philosophien Heideggers und Benjamins", anstößig erscheinen könnten. 2 Vor diesem Hintergrund ging er in seiner Studie der grundsätzlichen Frage nach, ob es eine "innere Beziehung zwischen der Methodologie einer Philosophie und der mit ihr verknüpften politischen Option gibt". 3
Um den womöglich als noch skandalöser als seine Ausgangsfragestellung empfundenen Preis einer Rettung der beiden Philosophen als Metaphysiker, die neben der Metaphysik noch das Selbstmißverständnis ihrer Umsetzung in politische Praxis eint, meinte van Reijen Heidegger und Benjamin einander und zugleich den politisch Korrekten unter seinen Lesern näher bringen zu können.
Unter vergleichsweise entspannten Zeitumständen absolviert demnach Walter Benjamin ein Pensum, das Georg Lukács und Theodor W. Adorno bereits überstanden haben. Womöglich ist es kein Zufall, daß die entsprechenden Studien in einem Zeitraum erschienen, in dem der eingangs erwähnte Sammelband die Zeit für reif befand, Benjamin in den historischen, deshalb jedoch keineswegs ausschließlich philosophischen Kontext zu stellen.
Verdinglichung: Lukács und Heidegger
Zu Lucien Goldmanns fragmentarischer Studie über Lukács und Heidegger hatte vermeintlich Heidegger selbst an prominenter Stelle das entscheidende Stichwort gegeben. An zwei Stellen von Sein und Zeit nämlich ist, zudem in Anführungszeichen, von der >Verdinglichung des Bewußtseins< die Rede, dem Schlüsselbegriff von Georg Lukács' vier Jahre vor Heideggers Abhandlung erschienener Aufsatzsammlung Geschichte und Klassenbewußtsein. Lukács selbst hat Goldmanns Lektüre von Sein und Zeit als Replik auf sein eigenes, nicht zuletzt für Benjamins Zuwendung zum Marxismus bahnbrechendes Werk mit der Bemerkung abgetan, das Thema habe eben in der Luft gelegen. 4
Wie Goldmann zeigte, werden die unbestreitbaren Antagonismen gerade im Nachweis ihrer gemeinsamen philosophischen Grundlage zwar nicht unversöhnlicher, aber in ihrer Genese verständlicher. Wie Heideggers Fundamentalanalyse des Daseins läßt sich auch Lukács' neomarxistische Konzeption eines Subjekts der Geschichte vor dem Hintergrund einer philosophischen Auseinandersetzung mit dem neukantianischen Transzendentalismus verstehen. Der Weg, der von diesem gemeinsamen Ausgangspunkt zur Konzeption eines revolutionären Subjekt-Objekts der Geschichte einerseits und zum >eigentlichen Dasein< andererseits führt, zeichnete für Goldmann zugleich auch den Weg einer "analogen Verwandtschaft und Gegensätzlichkeit der politischen Stellungnahmen der beiden Denker [vor], das heißt der Beziehungen Heideggers zum Nationalsozialismus und der Lukács' zum Stalinismus". 5
Jargon der Eigentlichkeit: Adorno und Heidegger
Wie gegenüber Lukács, der ihm gelegentlich den maliziösen Vorwurf machte, seinen eigenen Bekundungen zufolge den "Hitlerismus nur in einem Kierkegaardschen Inkognito mitgemacht zu haben", 6 hat Heidegger auch Theodor W. Adorno gegenüber zeitlebens Stillschweigen bewahrt. Dabei ist für den Heidegger-Schüler Hermann Mörchen die von ihm in zwei Studien untersuchte Kommunikationsverweigerung zwischen den beiden Philosophen, deren Denken die deutsche Nachkriegszeit dominierten, die Kehrseite einer akribisch nachgewiesenen Präsenz Heideggers im Werk des vierzehn Jahre jüngeren Adorno. Auch für Mörchen verbirgt sich unter der Oberfläche von Adornos häufig unsachlicher, jedenfalls aber unversöhnlicher Polemik eine "verschwiegene Nähe" des philosophischen Gedankens. 7 Der in beiden philosophischen Lagern zu erwartenden Skepsis, mit der sein Hinweis auf sachliche Konvergenzen rechnete, hielt Mörchen die doppelte Notwendigkeit entgegen, in einer nachgeholten Auseinandersetzung mit Adorno zum einen Heideggers politisches Engagement nach 1933, zum anderen aber die Ambivalenzen seines Denkansatzes näher zu untersuchen, der nicht zuletzt in seinen eigenen philosophischen Wandlungen zum Ausdruck gekommen sei. 8
Jedoch sind der Vision herrschaftsfreier Kommunikation auch posthum und erst recht in philosophicis Grenzen gesetzt. Hans Ebeling zufolge "läßt sich weder der gesellschaftliche Konflikt in Heideggers Seinsdenken integrieren, ohne beide zu verraten, noch die Seinsgeschichte mit einer Portion weltlicherer Weltgeschichte anreichern, noch gar das Prinzip der Aufklärung mit dem Prinzip der Seinsvergessenheit vermitteln". 9
Geschichte, Politik und Kunst: Benjamin und Heidegger
Man muß nicht auf diese inzwischen historischen Debatten zurückgreifen, um sich die Frage nach Sinn und Grenzen der Vergleichbarkeit zweier Autoren zu stellen, die – wie Stefan Knoche seiner Studie über Benjamin und Heidegger voranschickt – "sich nicht gesucht haben" (S. 11). Gegenüber van Reijen, dessen Abhandlung nach Fertigstellung seiner eigenen erschien, insistiert Knoche darauf, daß die metaphysische Distanz zur Welt der diskursiven Aussagen, in der für van Reijen der Unterschied zwischen rechts und links zur quantité négligeable schwindet, für Heidegger und Benjamin nicht im gleichen Maße gelte. Ohne die Verdienste der älteren Studie zu leugnen, die die vielfältigen Überschneidungen des Benjaminschen und des Heideggerschen Denkens vorzüglich zugänglich mache, erscheint Knoche die Vergleichbarkeit doch erst unter der Voraussetzung eines "fundamentalen Unterschied[s] der Geschichtlichkeits-Begriffe" (S. 179) sinnvoll.
Ihrem zunächst ein wenig irreführenden Untertitel zum Trotz, der die Aufmerksamkeit zwangsläufig auf Benjamins Kritik der Gewalt lenkt, arbeitet die Studie in ihren ersten beiden Kapiteln die geschichtsphilosophischen Konzeptionen in ihrer Gegensätzlichkeit heraus. Einer bei Benjamin um den Begriff der Gegenwart zentrierten, diskontinuierlichen Begriff der Geschichte (S. 28 f.) stehe die >Privilegierung der Zukunft< bei Heidegger entgegen. Sie werde auch durch die nach Sein und Zeit vollzogene Kehre zum seinsgeschichtlichen Denken nicht grundsätzlich revidiert (S. 47).
Wie die merkwürdig kontrastierenden Kapitelüberschriften immerhin vorgreifend signalisieren, erfolgt diese geschichtsphilosophische Grundlegung mit Blick auf die nicht minder zentrale Rolle, die die Kunst in den Werken Benjamins und Heideggers spielt. In den sprachtheoretischen Arbeiten des jungen Benjamins sieht Knoche eine Nähe angelegt, die nicht nur den scheinbar unüberbrückbaren geschichtsphilosophischen Gegensätzen zuwiderläuft, sondern sich zudem in der Kunsttheorie als ein tragfähiges gemeinsames Fundament erweist. Sowohl für Heideggers Vorträge des Jahres 1935 / 36 über den Ursprung des Kunstwerks als auch für Benjamins gleichzeitige Thesen über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit ist die Kunst, wie Knoche überzeugend geltend macht, "ein wesentlicher Bestandteil revolutionärer politischer Absichten" (S. 20).
Am Begriff der Aura und an dem von Benjamin an ihrem Absterben in der Moderne beobachteten grundlegenden Wandel des Wesens der Kunst und nicht zuletzt ihrer medialen Bedingungen zeigt Knoche, wie Benjamin sich bemüht, der Kunst der Moderne die Dimension der Zukünftigkeit zu sichern (Kap. III). Diese Zukunft eröffnet sich ihr jedoch erst im Raum gegenwärtigen politischen Handelns, dem die Aufhebung der kontemplativen Werkästhetik in der avantgardistischen Aktionskunst spielerisch und provokativ zugleich den Boden bereitet. Das Pathos der revolutionären Spontaneität, das diese hoch spekulativen Überlegungen bei Benjamin grundiert, läßt sich in der Tat einleuchtend bis auf seine frühe Sprachtheorie zurückverfolgen, in der Benjamin Sprache nicht als Mittel, sondern als ein Medium magischer Unmittelbarkeit versteht (S. 74). Zugleich läßt sich von diesem Gedanken eine wie auch immer gespannte Verbindungslinie zu Heideggers Vorstellung vom welteröffnenden Geschehen im Kunstwerk ziehen, zum Stiftungsakt der Kunst, in dem die geschichtliche Bestimmung eines Volkes seinen Ursprung findet (Kap. IV). Bekanntlich hat Heidegger darin Hölderlins deutsch-griechische Sendung gesehen, in der – wie Knoche betont – der "Hinweis auf das griechische Erbe wiederum auf das Neue und die herausgehobene Stellung des Zukünftigen" in Heideggers Denken führe (S. 85).
Technik und >techne<
Die letzten Kapitel (Kap. V-VII) verfolgen einen Gedankengang, den die Überschriften einmal mehr eher verrätseln denn verraten. In ihnen zeigt Knoche, wie sich im Widerspiel von Gegensatz und Nähe bei Benjamin und Heidegger in der Reflexion des Verhältnisses von Kunst und Technik letztlich ein vergleichbare Vision abzeichnet: der Gedanke einer anderen Natur als Ort gewaltfreier Lebensverhältnisse. Für dieses gemeinsame utopische Fernziel verschlägt es nichts, daß Benjamin sich diesem Gedanken mit dem Begriff einer zweiten Technik annähert, der ihn zum Fürsprecher einer bisweilen bedenklich an den Futurismus erinnernden Technikbegeisterung macht. Entscheidend ist, daß sich für ihn im Zusammenspiel von Natur und Technik ein Spielraum eröffnet, den er mit dem "Begriff einer von kultischen Fermenten gereinigte Aura" auslotet. Auf diese Weise nämlich kann Knoche den für die Aura konstitutiven "Ausgriff auf die Ferne einer besseren Natur [...] als Ausgriff auf die Ferne einer besseren Zukunft" lesen (S. 112).
>Seinlassen< und messianische Skepsis
Umgekehrt gelangt Heidegger auf dem Weg einer kritischen Offenlegung der destruktiven Tendenzen der modernen Technik zu einem Begriff der >physis<, der trotz einer der Benjaminschen entgegengesetzten Einschätzung der Technik an dessen Gedanken einer "verbesserten Natur" denken läßt. 10 In der Rückbesinnung auf das für die Technik ebenso wie für die Kunst maßgebliche griechische Verständnis der >techne< versuche Heidegger am Leitfaden seiner Auslegung der Dichtung Hölderlins die "Macht der modernen Technik durch eine gewaltfreie Herrschaft des Seins abzulösen" (S. 123). Im Begriff des >Seinlassens<, den Heidegger in seiner Vorlesung über Hölderlins Hymne >Andenken< aus dem Winter 1941 / 42 entwickelt, dechiffriert Knoche die Entsprechung zu Benjamins Vorstellung einer dem Menschen solidarischen Natur.
Das im >Seinlassen< gedachte Aufscheinen verborgener Möglichkeiten des Seienden aber steht unzweideutig im Kontext des politischen Stiftungsakts, den Heidegger im Ursprung der Kunst ins Werk gesetzt sieht. Auf diese Weise aber resultiere Heideggers Seinsdenken mit seiner erklärten Distanz zu allem konkreten historischen Geschehen in einer "Virtualisierung der Geschichte". Es bleibt dem so überschriebenen abschließenden Kapitel vorbehalten, dieser von Knoche als radikale Verfehlung der Geschichte kritisierten Auffassung in einer kursorischen Lektüre von Benjamins Kritik der Gewalt eine bescheidenere Konzeption entgegenzusetzen. In der forcierten Unterscheidung von Recht und Gerechtigkeit komme eine tiefe "messianische Skepsis" zum Ausdruck. Im Unterschied zur gerechten, aber unerkennbaren göttlichen Gewalt bleibe menschliches Recht im Bannkreis der Gewalt, rechtsetzend oder rechterhaltend, jedenfalls geschichtsimmanent. "Während Heidegger [...] Geschichte für erfüllbar hält, bleibt sie bei Benjamin für den Menschen notwendig unerfüllt" (S. 169).
Benjamin und Heidegger im Kontext
Mit dem zentralen Thema Geschichte greift Knoches eindrucksvoll dicht und geschlossen argumentierende Studie ihre Ausgangsfragestellung auf, deren Zusammenhang mit dem Gewaltthema abschließend einsichtig geworden ist. Zugleich deutet sich ein Dilemma der textlichen Basis des Vergleiches an. Auf das Thema Geschichte war Knoche bei seiner einleitenden Spurensuche gestoßen, in der er den sporadischen Erwähnungen Heideggers durch Benjamin nachging. Seine Lektüre der 1916 veröffentlichten Freiburger Antrittsvorlesung Heideggers über den Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft hatte Benjamin mit den Worten kommentiert, der Aufsatz dokumentiere in exakter Weise, wie man die Sache nicht machen solle. Die Tragweite dieser Kritik versucht Knoche durch eine Exposition der Geschichtsauffassung von Sein und Zeit deutlich zu machen. Dabei stützt er sich auf einen Text, über den, wie er eingangs trocken bemerkt, Benjamin zwar eine Meinung, aber keine durch Lektüre erworbene Kenntnis gehabt habe (S. 11). Einen ähnlich geschlossenen Versuch, dem man Heideggers imposantem philosophischen Entwurf auch nur halbwegs vergleichbar an die Seite stellen könnte, sucht man bei Benjamin vergeblich. Immerhin ist die Zentralstellung des Themas Geschichte im Werk beider durch eine weitere briefliche Erwähnung Heideggers durch Benjamin zu Beginn der dreißiger Jahre legitimiert, in der der Autor von Sein und Zeit als Antipode bei der Konzeption einer Erkenntnistheorie der Geschichte figuriert. Sie kam indes ebenso wenig zustande wie das Passagen-Werk, als dessen theoretisches Fundament sie gedacht war.
Es spricht einiges dafür, daß für die brieflich beschworene einigermaßen überraschende Frontstellung Adorno zumindest mitverantwortlich war. Für diesen nämlich war Heidegger bereits in seiner 1928 / 30 entstandenen Habilitationsschrift über Kierkegaard zum philosophischen Gegner avanciert. Die "Heideggers existentiellem Denken" entgegengesetzte Intention der Studie hat Benjamin in seiner Rezension des Buches denn auch entsprechend gewürdigt. 11 Umgekehrt hatte Adorno in seiner im Mai 1931 gehaltenen Antrittsvorlesung über die Aktualität der Philosophie Benjamin in programmatischer Weise zum Antipoden Heideggers stilisiert. In der Vorlesung, die Benjamin im Typoskript las, wird der an Kierkegaard anschließenden >subjektiven Ontologie< Heideggers die Idee einer Philosophie als >Deutung< entgegengesetzt, die Adorno in Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels vorgezeichnet fand. 12 Nicht von ungefähr sah Adorno in Benjamins Passagen-Projekt "das uns aufgegebene Stück prima philosophia" (Brief an Benjamin vom 6.11.1934).
Auf diese Weise verlieh Adorno dem Unternehmen nicht zuletzt eben in eigenem Interesse einen philosophischen Anspruch, der es Heideggers Fundamentalontologe ebenbürtig erweisen sollte. Um so verständlicher und bemerkenswerter ist vor diesem Hintergrund seine eindringliche Kritik am Exposé der Arbeit sowie allgemein an Benjamins Arbeiten der frühen dreißiger Jahre, die er gelegentlich unter dem Titel eines "anthropologischen Materialismus" resümiert, dem er die Gefolgschaft nicht leisten könne (Brief an Benjamin vom 6.9.1936). Dem gemeinsamen Anliegen zum Trotz, war Benjamin entschlossen, dem Projekt einer "Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts" ein eigenständiges, von Adorno heftig kritisiertes philosophisches Fundament zu geben. Dafür war eine "kopernikanische Wende in der geschichtlichen Auffassung" maßgebend, in deren Gefolge "die Politik [...] den Primat über die Geschichte" erhält. 13
Überwindung von Schwierigem durch Häufung desselben?
Damit ist ein theoretischer Zusammenhang angesprochen, der sich bis in Benjamins unausgeführtes Projekt einer Arbeit über Politik aus den frühen zwanziger Jahren zurückverfolgen läßt. In deren Kontext gehört auch der Aufsatz über die Kritik der Gewalt, der eines ihrer Kapitel hätte bilden sollen. 14 In Knoches Arbeit bleibt dieser Kontext indes nicht nur aus philologischen, sondern aus systematischen Gründen ausgeblendet. Während er für die Rekonstruktion von Heideggers Position auf sorgsam ausgearbeitete und abgeschlossene Texte zurückgreifen kann, stellt er dem auf der Seite Benjamins einen pseudo-integralen Gesamttext des Spätwerks gegenüber. Nicht nur, daß auf diese Weise die frühen Schriften so gut wie gar nicht in den Blick geraten. Die späten Schriften bilden darüber hinaus noch weniger als die frühen ein einheitliches Corpus. Vielmehr sind sie in ihren vielfach unvermittelten und schwer vermittelbaren Brüchen und Spannungen der getreue Ausdruck eines nicht abgeschlossenen, sondern immer wieder in neuer Versuchsanordnung unternommenen philosophischen Experiments.
Mit Blick auf die für die Passagen zentrale erkenntnistheoretische Konzeption der dialektischen Bilder hat Benjamin selbst von einem Umschmelzungsprozeß gesprochen, in dem "die ganze ursprünglich metaphysisch bewegte Gedankenmasse einem Aggregatzustand entgegengeführt" werde, in dem sie gegen alle Einreden gesichert sei, welche die Metaphysik provoziere (Brief an Adorno vom 31.5.1935). In diesem Umschmelzungsprozeß kommt dem Begriff des Politischen eine entscheidende Bedeutung zu. Dieser Kontext hätte in Knoches allemal anregender Studie auch deshalb eine eingehendere Behandlung verdient, weil sie dabei auf die Schlüsselrolle aufmerksam geworden wäre, die Friedrich Nietzsche für die theoretischen Neuorientierungen sowohl Heideggers als auch Benjamins gespielt hat, in denen auch vor diesem Hintergrund nicht zufällig, wie Knoche überzeugend herausarbeitet, Kunst und Politik einander angenähert werden.
Der Hinweis mag unbillig erscheinen und obendrein allzusehr an Benjamins vorgeblich alte Maxime der Dialektik gemahnen, derzufolge eine "Überwindung von Schwierigem durch Häufung desselben" zu erwarten sei. Mit Blick auf das Vorstehende mag der dialektische Kunstgriff darin bestehen, durch den Hinweis auf Nietzsche den philosophiegeschichtlichen Horizont ein wenig zu öffnen. So könnte es sich denn erweisen, daß mit dem scheinbaren Anathema Benjamin und Heidegger eben kein vermeintlich letztes Tabu berührt, sondern eine in der Geschichte der Philosophie nicht eben seltene Konstellation einmal mehr zu entdecken steht. 15
Uwe Steiner
Rice University
Department of German & Slavic Studies – MS 32
6100 Main Street
Houston, TX 77005
U.S.A.
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Anmerkungen
1 Burkhardt Lindner (Hg.): "Links hatte noch alles sich zu enträtseln..." Walter Benjamin im Kontext. Frankfurt / M.: Syndikat 1978, S. 10. zurück
2 Willem van Reijen: Der Schwarzwald und Paris. Heidegger und Benjamin. München: Fink 1998, S. 8. zurück
3 Ebd. S. 18. zurück
4 Georg Lukács: Vorwort (1967) in: G. L.: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik (1923) (Sammlung Luchterhand; 11) Neuwied: Luchterhand 1976, S. 23. Die von Goldmann auf Lukács bezogenen Stellen sind in Sein und Zeit, §§ 10 bzw. 83, nachzulesen (Martin Heidegger: Sein und Zeit. 12. Aufl. Tübingen: Niemeyer 1972, S. 46 bzw. 437). zurück
5 Lucien Goldmann: Lukács und Heidegger. Nachgelassene Fragmente. Texteinrichtung und Einleitung von Youssef Ishaghpour (Sammlung Luchterhand; 176) Neuwied: Luchterhand 1975, S. 102. zurück
6 Georg Lukács: Von Nietzsche bis Hitler oder Der Irrationalismus und die deutsche Politik. Frankfurt / M.: Fischer 1966, S. 25. zurück
7 Hermann Mörchen: Adorno und Heidegger. Untersuchung einer philosophischen Kommunikationsverweigerung. Stuttgart: Klett-Cotta 1981, S. 588. Dieser Studie hatte Mörchen eine kürzere Betrachtung der Macht- und Herrschaftskonzeptionen vorausgeschickt: H.M.: Macht und Herrschaft im Denken von Heidegger und Adorno. Stuttgart: Klett-Cotta 1980. zurück
8 Ebd., S. 24. zurück
9 Hans Ebeling: Adornos Heidegger und die Zeit der Schuldlosen. In: Philosophische Rundschau 29 (1982), S. 188-196, hier S. 194. zurück
10 Zu diesem Begriff vgl. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. In: W.B.: Gesammelte Schriften. 7 Bde. und Suppl. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1972-1999, Bd. 5 / 1, S. 456. An zwei anderen Stellen (Ebd., S. 457 und 432) spricht Benjamin im gleichen Sinn von einer "besseren Natur". Hingegen habe ich keinen Beleg für Knoches Rede wahlweise von einer "Vergrößerung" (S. 112) oder "Vermehrung" der Natur (S. 114, S. 121) finden können. Es dürfte sich schlicht um einen Irrtum handeln. Offenbar ist in allen Fällen ein und derselbe Gedanken einer "Verbesserung der Natur" (S. 128) gemeint, für die Knoche denn auch auf die Stelle im Passagen-Werk (S. 456) verweist. zurück
11 Vgl. Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 380. zurück
12 Theodor W. Adorno: Die Aktualität der Philosophie. In: T.W.A.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1970 ff, Bd. 1, S.329 bzw. S.335. Der in den Gesammelten Schriften im Text stillschweigend erfolgende Hinweis auf Benjamins Trauerspielbuch ist in dessen Brief an Adorno vom 17.7.1931 eine offene Frage. zurück
13 Benjamin: Das Passagen Werk. In: Gesammelte Schriften, Bd. 5 / 1, S. 490f. zurück
14 Der Kürze halber sei ein Hinweis in eigener Sache erlaubt, Uwe Steiner: Der wahre Politiker. Walter Benjamins Begriff des Politischen. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 25 (2000), S. 48–92. zurück
15 Ein Namens- und vor allem ein Begriffsregister hätten einer begrifflich so streng argumentierenden Studie nicht nur aus Gründen der Benutzerfreundlichkeit gut zu Gesicht gestanden. Nur zu vermuten ist, daß es sich bei Knoches Arbeit um eine Dissertation handelt. Entgegen üblicher Gepflogenheiten fehlen entsprechende Hinweise. Auch sonst scheint der Verlag entschlossen, akademische Usancen zu ignorieren. Zu hoffen ist, daß seine Weigerung, IASLonline ein Rezensionsexemplar zur Verfügung zu stellen, ein Ausnahmefall bleibt, da sie einer sehr zu wünschenden und möglichst breiten akademischen Rezeption der Studie im Wege steht. zurück
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