Stockinger über Arburg / Gamper / Stadler: Wunderliche Figuren

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Claudia Stockinger

Kontemplative Lektüren

  • Hans-Georg von Arburg / Michael Gamper / Ulrich Stadler (Hg.): "Wunderliche Figuren". Über die Lesbarkeit von Chiffrenschriften. München: Fink 2001. 376 S. Kart. € 51,60.
    ISBN 3-7705-3578-2.

Inhalt

Jörg Bittner: Wolken, Mauern und Schwämme. Leonardo und die natürlichen Hilfsmittel visueller Kreativität | Hans-Georg von Arburg: Dämonische Signaturen aus dem Tintenfaß. Justinus Kerners >Kleksographien< und die >Zufallsbilder< der Natur | Christa Habrich: Aspekte der Signaturenlehre in der abendländischen Medizin | Ernst Lichtenhahn: Sichtbare Sprache der Natur. Zur romantischen Deutung musikalischer Chiffrenschriften | Ulrich Stadler: Alexander von Humboldts >Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse< und die poetischen Blumenbücher des 19. Jahrhunderts | Sabine Haupt: Schrift – (Bild) – Fleisch. Über An- und Abwesenheiten in der Texttheologie Peter Handkes (mit Seitenblicken auf Botho Strauß und George Steiner) | Matthias Christen: >Wo Abfälle und Sternbilder sich treffen<. Lichtschriften und photographische Chiffren im Werk Siegfried Kracauers | Christine Noll Brinckmann: Filmische Farbe, als Abbild und als Artefakt | Claudia Kestenholz: >Hieroglyphen der absoluten Wahrheit<. Andrej Tarkowskijs Ästhetik des bewegten Bildes | Albert Spitznagel: Auf der Spur von Spuren | Peter Schnyder: Die Disziplinierung des Zeichens. Kants Lektüre der Französischen Revolution | Dominik Müller: Grenzen der Lesbarkeit der Welt. Beobachtungen zu Landschaftsdarstellungen Adalbert Stifters | Cornelia Blasberg: Ornament, Schrift und Lektüre. Überlegungen zu Ernst Haeckel, Gustav Klimt und Hugo von Hofmannsthal | Michael Gamper: >Was nie geschrieben wurde, lesen<. Entzifferung und Mythologisierung als Methoden der physiognomischen Lektüre in Großstadttexten | Emil Angehrn: Schrift und Spur bei Derrida



Prämissen

Vorliegender Sammelband enthält die Beiträge einer Tagung über das Problem der Lektüre und der Deutung von Chiffrenschriften (Hertenstein, 16.–19. September 1998). Bereits diese Problemstellung kennzeichnet die meines Erachtens insgesamt zugrunde gelegte methodologische Annahme, daß noch die poststrukturalistische Absage an die Verstehbarkeit ein genuin hermeneutisches Verfahren impliziert. Das Interesse an der dekodierenden Lektüre muß immer schon mit der Uneinlösbarkeit dieses Interesses rechnen, d.h. mit der Unauflösbarkeit der Chiffren bzw. mit der prinzipiellen Unendlichkeit des Verstehensprozesses, der sich an das sei es als einholbar, sei es als inexistent Gedachte nur annähern kann.

Eine Festlegung ist jeweils von vornherein ausgeschlossen – hier ähneln sich Schleiermachers Vorstellung vom "(unendlich offenen) Zusammenhang" zwischen Schrift und Verstehen 1 und Derridas >disseminale Lektüre<. Diese lehnt es ab, Texte auf eine zentrale Sinneinheit zu reduzieren, und berücksichtigt stattdessen die doppelte Markierung sprachlicher Äußerungen, "die nicht zu einem (imaginierten) ursprünglichen Sinn zurückführt, sondern ihn unkontrollierbar verschiebt, entstellt und neubestimmt". 2 Darin eben wird die Ambivalenz der Hermeneutik offenbar, die sich begriffsgeschichtlich nicht nur mit dem Götterboten Hermes verbindet, dem Mittler zwischen göttlichem Wort und menschlicher Auffassungsgabe, sondern auch mit der spätantiken Geheimlehre des Hermes Trismegistos oder der Hermetik >moderner< Literatur.

Chiffren lesen!

Das den einzelnen Beiträgen voranstehende Motto ist dem Beginn von Hardenbergs Romanfragment "Die Lehrlinge zu Saïs" entnommen, der die >mannichfachen Wege< der Menschen als "wunderliche Figuren" liest (S.9, aus der "Einleitung" der Herausgeber), als Spuren einer höheren Daseinsform, wie sie sich – noch vor der Realisation dieser Vorstellung in den Bewegungsbildern nächtlicher Großstadtaufnahmen etwa – natürlicherweise in Wolkenformationen oder zufälligen Mauerflecken finden. Gibt es einen verbindlichen Schlüssel zu diesen beziehungsreichen Formationen? Wie hat sich – je historisch diversifiziert – den einzelnen Disziplinen das skizzierte Problem gestellt? Wie wurde es jeweils beantwortet? Welchen Anforderungen muß der gegenwärtige Leser chiffrierter Schriften genügen (eine Tautologie, sobald Schrift und Chiffre für identisch gehalten werden)?

Eine erste Antwort darauf findet sich ebenfalls bereits in der "Einleitung", die die Kontemplation, "die Versenkung in Zeichenfigurationen" und "nicht das Eilen entlang von Zeichensequenzen" für die angemessene Rezeptionsform hält (S.11). Der Interpret wird darüber selbst zum romantischen Leser, dessen Arbeit am Verstehen die Produktion des zu Verstehenden weitertreibt, indem er als "Autor in der 2t Potenz", 3 als "höhere Instanz" "die Sache von der niedern Instanz" übernimmt und fortsetzt. 4 Weitere ebenso perspektiven- wie materialreiche Antworten ergeben sich aus den Beiträgen des Sammelbandes. Sie lassen sich – analog zur Sektionsbildung des Bandes – in vier Gruppen unterteilen:

"Künstlerische Imagination und Invention"

Ein stärker ästhetisches (sowohl poetologisches als auch kunsttheoretisches) Interesse bestimmt die Beiträge von

  • Jörg Bittner: Wolken, Mauern und Schwämme. Leonardo und die natürlichen Hilfsmittel visueller Kreativität, S.17–41, und

  • Hans-Georg von Arburg: Dämonische Signaturen aus dem Tintenfaß. Justinus Kerners >Kleksographien< und die >Zufallsbilder< der Natur, S.43–67.

Jörg Bittner beschreibt die Ambivalenz von Sinnverflüchtigung und Sinnsetzung am Beispiel semiotischer Lektüren in Kunstgeschichte und Literatur. Goethes naturwissenschaftliche und poetische Deutung von Wolkenformationen entspricht künstlerischen Inspirationslehren, die auf der Betrachtung von Wolken, Mauerflecken und Schwämmen beruhen – diese werden zwar zumeist mit dem Namen Leonardo da Vincis verbunden, kennen aber Vorgänger (Leon Battista Alberti, Botticelli, Plinius d. Ältere, chinesische Vorläufer). Immer jedenfalls ist es das >eigne Bilden<, das etwa in >unbestimmten< Wolkenbildern >Bestimmtes< erkennt und sich dadurch zu eigenen Gestaltungen anregen läßt (S.20). Die daraus resultierenden poetischen oder künstlerischen Produktionen sind dann selbst wiederum auslegungsbedürftig u.s.f.

Das skizzierte topische Wechselverhältnis von >zufälliger Inspiration< und eigener Produktivität, dessen grundlegende Voraussetzung die >Wesensschau<, die (meditative) Versenkung in die Gegenstände darstellt, setzt sich in Hans-Georg von Arburgs >Rettung< des von der Literaturgeschichte vernachlässigten schwäbischen Dichter-Arztes Justinus Kerner (1786–1862) bzw. seiner 1890 posthum veröffentlichten "Kleksographien" fort. Die Herstellung zufälliger Tintenklecksbilder – deren deutende Vollendung durch die Hand des Künstlers auf der (metaphysischen) Sicherheit beruht, eine sinnvolle Zeichen-Lektüre sei in jedem Fall möglich – gibt die Klecksographen zugleich als eine Art Urbild des romantischen Lesers zu erkennen; Produktion und Rezeption fallen ineins. Jedes Sehen ist perspektivisch, doch damit wird kein Programm subjektivistischer Deutungswillkür vorbereitet; die Tintenkleckse gelten Kerner vielmehr als "Hieroglyphen" einer höheren Daseinsform (S.47).

Von Arburgs materialreiche Darstellung zeigt die Vernetzungen der "Kleksographien" auf: Es gibt zahlreiche Parallelen zur romantischen Poesie (etwa zu E.T.A. Hoffmanns "Der goldne Topf"), zu den Äthertheorien der zeitgenössischen Psychologie und Physiologie, zu den ästhetischen bzw. kunsttheoretischen Diskursen der Zeit (Inventionslehren); zudem lassen sich die Photographiegeschichte, die Röntgengeschichte, Hermann Rorschachs "Psychodiagnostik" (1921) oder Peter Rühmkorfs Reimgeschichte und -theorie ("agar agar – zaurzaurim", 1981) daraus entwickeln. Damit mag Kerners kleinen Gelegenheitsarbeit sehr viel zugemutet werden – jedenfalls gelingt das Experiment: Die "Kleksographien" halten der Belastung stand, die Ergebnisse sind plausibel, Kerners >Rettung< ist gelungen.

"Natura loquitur"

Der topischen Rede vom >Buch der Natur< widmen sich vier Beiträge:

  • Christa Habrich: Aspekte der Signaturenlehre in der abendländischen Medizin, S.71–96;

  • Ernst Lichtenhahn: Sichtbare Sprache der Natur. Zur romantischen Deutung musikalischer Chiffrenschriften, S.97–113;

  • Ulrich Stadler: Alexander von Humboldts >Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse< und die poetischen Blumenbücher des 19. Jahrhunderts, S.115–136;

  • Sabine Haupt: Schrift – (Bild) – Fleisch. Über An- und Abwesenheiten in der Texttheologie Peter Handkes (mit Seitenblicken auf Botho Strauß und George Steiner), S.137–161.

Christa Habrich skizziert die große Bedeutung der Signaturenlehre für das Selbstverständnis der Medizin seit den frühen Hochkulturen über Mittelalter, Renaissance, Barock bis zu ihrem Fortleben in mystischer Welterklärung (Gottlieb Friedrich Oetinger) oder Dichtung (Novalis). Im Grunde genommen ließen sich hier zusätzlich >moderne< Naturheilverfahren anschließen, deren Deutungskompetenz (und dann die Therapierung der Symptome) ebenfalls nicht selten auf Analogiedenken beruht. Sabine Haupt geht Handkes Poetologie der literarischen Erzeugung >realer Gegenwart< nach.

Ernst Lichtenhahn behandelt das in der Romantik formulierte Problem der Materialisierung, d.h. der Fixierung musikalischer Phänomene, das – um ein literarisches Beispiel zu ergänzen – etwa in Rat Krespels ans Pathologische grenzenden vergeblichen Versuchen erörtert wird, der >inneren Struktur< der Musik durch das Zerlegen berühmter alter Geigen auf die Spur zu kommen (in E.T.A. Hoffmanns gleichnamiger Serapions-Erzählung). Zum einen zeichnet Lichtenhahn Hoffmanns allmählich sich verfestigende Einsicht in den Natursprachencharakter der Musik nach ("Ahnungen aus dem Reiche der Töne", 1814, umgearbeitet zu "Johannes Kreislers Lehrbrief"), die nicht fixiert werden könne, zum anderen erinnert er an Ernst Florens Friedrich Chladnis Klangfiguren-Experimente, die über der Materialisierung von Tönen Hinweise auf die inneren Gesetzmäßigkeiten der Natur geben sollten ("Entdeckungen über die Theorie des Klanges", 1787).

Ulrich Stadler zeichnet Alexander von Humboldts "Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse" (1806 / 1808) als letztmaligen – und damit die Ordnungssystematiken des 18. Jahrhunderts ergänzenden – Versuch einer das >Weltganze< implizierenden Lektüre ihrer Bestandteile. Entscheidend sei die distanzierte Betrachtung des Objekts, es gehe um die Formulierung eines "Totaleindrucks", der sich "mit Einem Blicke" einstelle (S.122).

Die Schwäche dieser erhellenden Darlegung liegt meines Erachtens in ihrer methodischen Orientierung. Stadler zeigt sich irritiert darüber, daß Foucault an der Kategorie der Ähnlichkeit für das 16. Jahrhundert festhalte, die doch – berücksichtige man Goethe oder Humboldt – ebenso für das beginnende 19. Jahrhundert gelte. Welchen methodischen Aussagewert hat aber die hermeneutische Nutzung der diskursanalytischen Annahmen (zumal gut hermeneutisch oder geistesgeschichtlich die Wiederauflage tradierter Formen und Modelle eher die Frage nach der Differenz in der Verwendung als nach Ähnlichkeiten aufwerfen dürfte)? Sollte nicht vielmehr umgekehrt gefragt werden, wie Humboldts (oder Goethes) Konzept diskursanalytisch erklärt werden kann? Welche Diskurse um 1800 ermöglichen die von Stadler skizzierte Rede über Ganzheit? Meines Erachtens basiert Humboldts Modell weniger auf >Analogie< als vielmehr auf >Geschichte<, es reflektiert die Bedingungen der Möglichkeit des Denkens von Ganzheit unter den Bedingungen der Historizität – ein Modell, das Wilhelm von Humboldt später auf die Beschreibung der (Welt-)Geschichte und ihrer Gesetzmäßigkeiten übertragen wird ("Ueber die Aufgabe des Geschichtschreibers", 1821).

"Zwischen Bild und Schrift"

Auf Photographie und Film konzentrieren sich vier Beiträge:

  • Matthias Christen: >Wo Abfälle und Sternbilder sich treffen<. Lichtschriften und photographische Chiffren im Werk Siegfried Kracauers, S.165–186;

  • Christine Noll Brinckmann: Filmische Farbe, als Abbild und als Artefakt, S.187–206;

  • Claudia Kestenholz: >Hieroglyphen der absoluten Wahrheit<. Andrej Tarkowskijs Ästhetik des bewegten Bildes, S.207–237, und

  • Albert Spitznagel: Auf der Spur von Spuren, S.239–259.

Matthias Christen geht dem Werbemedium >Lichtreklame< in den 1920er Jahren nach. Mit Hilfe von Flugzeugen an den Himmel applizierte Leuchtschriften führten bei Firmen wie Henkel zu enormen Umsatzsteigerungen. Zugleich beschreibt das zeitgenössische Feuilleton, wie sich durch die Zunahme der Lichtreklame in den Städten Schriftzüge und Werbezwecke zunehmend voneinander entfernen (S. Kracauer). Die Schrift löst sich von ihren Bedeutungen und setzt auf diese Weise Deutungspotential frei; natürliche Wolkenformationen werden jetzt künstlich erzeugt, haben aber denselben Effekt.

Der Beitrag von Claudia Kestenholz zerfällt in zwei Teile, erstens in sehr ausführliche allgemeine Bemerkungen über die Chiffre, die eher in die Einleitung des Sammelbandes gepaßt hätten, und zwar von der Romantik über die Jahrhundertwende bis zu Blumenberg, zweitens in Tarkowskijs Ästhetik des Films als absoluter Metapher, der darüber als Medium der Herstellung von Authentizität fungiere – George Steiners >reale Gegenwart< jetzt also nicht in der Literatur (Handke, siehe den Beitrag von Haupt), sondern im Film.

Christine Noll Brinkmann beschreibt an zwei Beispielen (zum einen "Pal Joey" aus den 1950er Jahren, zum anderen "Chungking Express" aus den 90ern) die Funktion von Farbe im Film. Die Farbe ist demzufolge eigenständige Mitteilungsinstanz; sie korrespondiert entweder den inhaltlichen Verwicklungen und übernimmt Deutungsfunktionen oder liefert Metareflexionen auf die Materialität des filmischen Bildes selbst. Ist sie aber dadurch zugleich Chiffrenschrift? Wird schon durch den Akt der Deutung oder dessen produktiver Vorwegnahme das Gedeutete zur Chiffre? Ist also alles Chiffre? Welchen Aussagewert hat dann noch der Begriff >Chiffre<?

Keine thematische Verbindung zu dieser Sektion hat die Untersuchung von Albert Spitznagel, die dem Begriff der Spur nachgeht, u.a. in einer empirischen Erhebung unter 6–12 Jährigen. Daß allerdings >Spur< sich auf eine außerliterarische Wirklichkeit beziehe, die Chiffre aber nicht (S.242 f.), wird nur behauptet, nicht begründet, und widerspricht allen vorgestellten Chiffren-Lektüren des Sammelbandes, vor allem denjenigen, die – wie der Beitrag von Noll Brinkmann – den Begriff der Chiffre implizit universalisieren.

"Krisen der Lesbarkeit"

Auf die metatheoretische Perspektivierung der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Lektüre reflektieren die Beiträge von

  • Peter Schnyder: Die Disziplinierung des Zeichens. Kants Lektüre der Französischen Revolution, S.263–276;

  • Dominik Müller: Grenzen der Lesbarkeit der Welt. Beobachtungen zu Landschaftsdarstellungen Adalbert Stifters, S.277–291;

  • Cornelia Blasberg: Ornament, Schrift und Lektüre. Überlegungen zu Ernst Haeckel, Gustav Klimt und Hugo von Hofmannsthal, S.293–315;

  • Michael Gamper: >Was nie geschrieben wurde, lesen<. Entzifferung und Mythologisierung als Methoden der physiognomischen Lektüre in Großstadttexten, S.317–345; und

  • Emil Angehrn: Schrift und Spur bei Derrida, S.347–363.

Peter Schnyder liest die Geschichte als Chiffre um 1800. Kants >physiognomische Lektüre< der Französischen Revolution ("Der Streit der Fakultäten", 1798) wird dabei – ähnlich dem Beitrag Stadlers über Alexander von Humboldt – zu einem Versuch, der Krise der Lesbarkeit von Chiffrenschriften ein letztes Mal zu entgehen, also "die chaotische Mannigfaltigkeit der menschlichen Geschichte doch noch im Hinblick auf eine sinnstiftende Totalität ordnen zu können" (S.274). Entsprechend behandelt Dominik Müller die bei Stifter gestaltete Unlesbarkeit der Welt, etwa in den Erzählungen "Bergkristall" oder "Condor". Cornelia Blasberg diagnostiziert eine Lese-Krise um 1900. Am Beispiel >unlesbarer< Jugendstilschriften mache, so Blasbergs einleuchtende These, "die Kunst der Epoche die >Krise des Lesens< zu einer Art Arbeitsgrundlage" (S.295).

Michael Gampers faszinierende Studie über die Stadt als Buch knüpft an diese Überlegungen Blasbergs an, wenn am Beispiel von S. Kracauer und F. Hessel Stadtlektüre nach 1920 unter den Bedingungen der Wahrnehmungskrise um 1900 gelesen wird. Sehr große Zeiträume umfassend, muß einiges ungenau bleiben; die leitenden Hinsichten des Aufsatzes haben vor allem heuristischen Wert für eine umfassendere Studie zum Thema. So ist von der "integrativen Wirkung" der Stadtbeschreibungen um 1830 die Rede, die sich nach 1920 "ausdifferenziert" habe (S.323). Und dazwischen? Wie steht es etwa (um ein Beispiel zu nennen) mit Stifters Konterkarierung des tradierten >Turmblicks< in seinen Wiener Stadtansichten Vom Sankt Stephansturme, der die Unübersehbarkeit der sich immer weiter ausdehnenden städtischen Topographie beschreibt?

Emil Angehrn schließlich faßt einmal mehr Derridas Konzept der Spur auf der Grundlage von dessen Absage an den abendländischen Logozentrismus zusammen. Der Band endet so – sinnigerweise – mit der Unabschließbarkeit von Lektüren.

Fazit

Im Ganzen ist damit ein durchweg gelungener, aufwendig gestalteter Sammelband entstanden (mit teilweise farbigen Abbildungen). Selbst die (beinahe schon obligatorische) Kritik an der notwendigen Heterogenität solcher Zusammenstellungen läßt sich hier in einen Gewinn umbuchen, weil nur auf diese Weise Interdisziplinarität produktiv werden kann; der Band integriert Bereiche wie Kunst / Kunstgeschichte, (deutsche) Literatur / Literaturwissenschaft, Naturgeschichte und -wissenschaft, Musikwissenschaft, Medizin, Photographie, Film und Pädagogik.

Im (methodischen) Zentrum fast aller Beiträge steht das objet ambigu, das der Philosoph Sokrates in Valérys Totengespräch "Eupalinos" am Strand findet. Es erinnere an nichts, heißt es im Text, sei aber gestaltet, geformt, ein Urheber könne nicht festgelegt werden – Gott, die Natur, ein menschlicher >Schöpfer<? Auch die Funktion bzw. die Intention des Gegenstands sei unklar; eigentlich bestehe es hauptsächlich aus Zweifel ("matière à doutes"). Erst als Sokrates das Objekt schließlich wieder ins Meer zurückwirft, wird deutlich: Genau darin bestand seine Funktion, nämlich Gegenstand der Reflexion auf die eigene Funktion zu sein und auf das, was damit zusammenhängt, das Problem der Autorschaft, die Rolle der Kunst oder die Position des Betrachters etc. 5


Dr. Claudia Stockinger
Universität Karlsruhe
Institut für Literaturwissenschaft / Germanistik
Franz Schnabel Haus
D-76128 Karlsruhe

Ins Netz gestellt am 02.04.2002
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Anmerkungen

1 Manfred Frank: Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur deutsch-französischen Hermeneutik und Texttheorie. Erweiterte Neuausg. (suhrkamp taschenbuch wissenschaft; 317) Frankfurt / M.: Suhrkamp 1990, S.205.   zurück

2 M. F. (Anm. 1), hier S.148.   zurück

3 Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe, hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett u. Hans Eichner. Achtzehnter Band: Philosophische Lehrjahre 1796–1806 nebst philosophischen Manuskripten aus den Jahren 1796–1828. Erster Teil. München u.a.: Schöningh 1963, S.106.   zurück

4 Novalis: Schriften. Zweite, nach den Handschriften ergänzte, erw. u. verb. Auflage. Zweiter Band: Das philosophische Werk I, hg. von Richard Samuel. Stuttgart: Kohlhammer 1965, S.470.   zurück

5 Paul Valéry: Eupalinos. L'Ame et la danse. Dialogue de l'Arbre. Paris: Gallimard 1993, S.65f.   zurück