Stoermer über Tholen: Erfahrung und Interpretation

Fabian Stoermer

Hermeneutik und Dekonstruktion

  • Toni Tholen: Erfahrung und Interpretation. Der Streit zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion. (Probleme der Dichtung 26) Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 1999. 262 S. Kart. DM 88,-.
    ISBN 3-8253-0883-9.


Die Debatte zwischen
Hermeneutik und Dekonstruktion

Die Debatte zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion ist in die Jahre gekommen. Ihr polemisches Potential scheint sich weitgehend erschöpft zu haben. Vorbei - glücklicherweise vorbei - die Zeit als diese theoretische Auseinandersetzung die unangenehme Form deutsch-französicher Grabenkämpfe annehmen konnte; aufgezehrt wohl auch das Interesse, im Bündnis mit den radikal-kritischen Positionen des Poststrukturalismus den anstehenden akademischen Generationswechsel als theoretische Erneuerung zu akzentuieren.

Der Grund für die Entdramatisierung der Debatte zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion liegt nicht, wie einige ihrer hermeneutisch orientierten Teilnehmer es antizipierten, darin, dass die Dekonstruktion sich als eine bloß ephemere Störung in der abendländischen Universalgeschichte der Hermeneutik erwiesen hätte; eher schon darin, dass die Dekonstruktion sich soweit etablieren konnte, dass sie selbst schon die Züge einer "klassischen" Theorie, mit allen problematischen Implikationen eines solchen Status angenommen hat.

Noch entscheidender aber dürfte sein, dass im Zeichen der kulturwissenschaftlichen Neuorientierung der Geistes- und Sozialwissenschaften das Interesse an einer Auseinandersetzung mit den Paradoxien hermeneutischer Immanenz überhaupt nachgelassen hat. Ergiebiger als die wiederholte Vertiefung in die hermeneutische Verteidigung und dekonstruktive Kritik von Wahrheitsdiskursen erscheinen vielen Kulturwissenschaftlern heute Programme historischer Forschung, die sich von der Diskursanalyse ihre positivistische Naivität haben austreiben lassen, ohne den Anspruch auf die Gewinnung positiven Wissens und seine ideologiekritische Verarbeitung preiszugeben.

Aufregender, als den >lingustic turn< immer wieder auszubuchstabieren, scheint es vielen vielleicht, einen >performative turn< herbeizuführen, und die Kulturwissenschaften aus der Enge wesentlich philologischer Disziplinen zu befreien. Und wer auf die theoretische Ausarbeitung grundlegender Paradoxien kultureller Kommunikation nicht verzichten will, findet in der Systemtheorie, die mehr und mehr die Funktion eines universellen methodischen Leitbildes übernimmt, eine Terminologie und eine Zugangsweise, die zu einer unaufgeregten, operationalen Thematisierung einladen, die man vielleicht gerne gegen hermeneutische Illusionen und dekonstruktive Verzweiflung eintauscht.

Selbst wenn man dieses Stimmungsbild für zutreffend hält, wird man nicht davon ausgehen, dass die in der Debatte zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion verhandelten Probleme durch derartige, womöglich auch auf den abstrakten Rhythmus theoretischer Moden zurückzuführende, Intressensverlagerungen schon abgegolten sind. Vielmehr kann man in der Entdramatisierung und Relativierung der Auseinandersetzung zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion gerade auch eine günstige - wenn nicht notwendige - Voraussetzung für den Versuch sehen, diese Debatte jenseits polemischer Parteinahme als einen ‚produktiven Streit' zu rekonstruieren, dessen kritisches Niveau es als Standard interpretationstheoretischer Entwürfe zu sichern gilt.

Das Gespräch zwischen
Gadamer und Derrida

Unter dem Titel Erfahrung und Interpretation. Der Streit zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion bemüht sich Toni Tholens Frankfurter Dissertation aus dem Jahr 1996, die 1999 im Verlag C. Winter (Heidelberg) erschienen ist, um eine entsprechende "Engführung dekonstruktiver und hermeneutischer Theorien" (Klappentext).

Mit dem Anspruch, das in der Pariser Debatte von 1981 zwischen Jacques Derrida und Hans-Georg Gadamer gescheiterte Gespräch zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion überhaupt erst als Gespräch möglich zu machen, widmet sich Tholen in den ersten beiden Teilen seiner Arbeit einer jeweils eigenständigen Rekonstruktion der philosophischen Konzeptionen Derridas und Gadamers.

Der dritte Teil der Arbeit versucht die in diesen Einzeldarstellungen zutage getretenen Übereinstimmungen und Differenzen zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion zusammenzufassen und ausgehend von den komplementären Schwächen, die Tholen in den Theorien Derridas und Gadamers ausmacht, ein eigenes hermeneutisches Programm zu skizzieren, das sich weder für Gadamers Hermeneutik noch für die Dekonstruktion entscheidet, sondern sich ‚im Streit' dieser Theorien halten soll und sich zugleich mit den nicht-begrifflichen Einsichten der Literatur gegen die schematischen Interpretationsangebote der philosophischen Wahrheitsdiskurse verbündet.

Tholens Vorentscheidung, den im Untertitel seiner Arbeit als Thema annoncierten Streit zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion als Auseinandersetzung zwischen Derrida und Gadamer zu personalisieren, scheint naheliegend; selbstverständlich ist sie, zumindest im Hinblick auf die Vertretung der Hermeneutik durch Gadamer, wohl nicht. Tholen verzichtet auf einen Klärung der Frage, inwieweit ihm die philosophische Hermeneutik Gadamers als exemplarische Repräsentation hermeneutischer Alternativen zur Dekonstruktion erscheint. Damit bleibt auch die mögliche Reichweite der aus dem Vergleich von Derrida und Gadamer gewonnenen Einsichten zunächst im Unklaren. Aus der gesamten Anlage von Tholens Arbeit lässt sich allerdings ersehen, dass er nicht nur die Position Gadamers, sondern auch jene Derridas als spezielle und jeweils unzureichende hermeneutische Positionen betrachtet, die er durch den eigenen hermeneutischen Ansatz einer dialektischen Dialogik überbieten möchte.

Es geht Tholen also weniger darum, ein möglichst vollständiges Bild der möglichen Positionen und Argumente einer Debatte zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion zu geben, als darum in der Auseinandersetzung mit Derrida und Gadamer eine prägnante Matrix für seine eigene theoretische Selbstverständigung zu gewinnen.

Tholens Begriff der Hermeneutik

Dass Tholen den Begriff "Hermeneutik" dabei zweideutig verwendet, nämlich zum einen - in der Rede vom ‚Streit zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion' - als Bezeichnung einer Alternative zur Dekonstruktion, für die Gadamers philosophische Hermeneutik einsteht, zum andern aber als Obertitel für den gesamten theoretischen Rahmen seiner Arbeit, weist darauf hin, dass seine Untersuchung von einer Vorentscheidung zugunsten der Hermeneutik geprägt ist. Tholen gesteht diese Voreingenommenheit ausdrücklich zu. Schon die Unterstellung der Möglichkeit eines Gesprächs zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion, ergreift, wie er meint, implizit Partei für die Hermeneutik.(S. 1f.)

Angesichts des programmatischen Anspruchs, Hermeneutik und Dekonstruktion ins Gespräch zu bringen, überrascht es, dass Tholen der Möglichkeit, Positionen Derridas und Gadamers direkt aufeinander zu beziehen, durch die Gliederung seiner Arbeit gerade ausweicht, indem er sich für eine gesonderte Darstellung der Konzeptionen beider Philosophen entscheidet. Das führt nicht nur dazu, dass Tholen den äusserst klug gewählten Ausgangspunkt seiner Überlegungen bei Heiddegers Aufsatz über Hegels Begriff der Erfahrung gleich zweimal referieren muss; die gesonderte Behandlung der Konzeptionen Derridas und Gadamers hat vielmehr auch zur Folge, dass die Linie ihrer Auseinandersetzung in ihrem konkreten Verlauf relativ undeutlich bleibt. Der Entwurf eines fiktiven Gesprächs zwischen Gadamer und Derrida über ein Gedicht von Paul Celan und die zusammenfassenden Hinweise im dritten Teil von Tholens Arbeit können dafür nur bedingt entschädigen; zumal das inszenierte Gespräch der Philosophen zwar von Gadamers Celan-Interpretation ausgeht, der Dekonstruktivist D dem Hermeneuten G dann aber ohne konkrete Rücksicht auf die Celan-Lektüren Derridas antwortet.

Insbesondere vermisst man die direkte argumentative Gegenüberstellung in Tholens Ausführungen zu Gadamer. Da er prinzipiell mit Gadamer an der Möglichkeit dialogischen Verstehens als Grundlage einer guten Hermeneutik festhalten will, tendiert Tholen hier dazu, grundlegende kritische Einwände in die Fußnoten zu verweisen oder ihre Behandlung auf spätere Kapitel zu verschieben. Umso mehr provoziert dann das Referat von Gadamers Thesen die Frage, warum eine Arbeit, die sich ausdrücklich auch für die Dekonstruktion interessiert, darauf verzichtet, starke theoretische Annahmen, wie sie etwa in Gadamers Rede von der ‚totalen Vermittlung' zum Ausdruck kommen, mit den kritischen Einwänden der Dekonstruktion zu konfrontieren.

Dass Tholen auf eine solche Konfrontation verzichtet, hängt wohl vor allem damit zusammen, dass er sich für das kritisch-analytische Potential der Dekonstruktion, das dabei ins Gespräch zu bringen wäre, prinzipiell weit weniger interessiert, als für ihre existenzielle Grundhaltung. Diese bestimmt Tholen als "Sein zum Tode" und spricht die Dekonstruktion deshalb insgesamt als "Hermeneutik des Todes" an (S.11 u.ä.), gelegentlich auch als "Philosophie des Todes" (S. 81). Wo Tholen in den Ausführungen zu Gadamer den Rückbezug zu Derrida herstellt, tut er dies fast durchgängig im Sinne der Gegenüberstellung der Todverfallenheit der Dekonstruktion und des hermeneutischen "Seins zum Leben" (S.8 , passim).

Diese Zuordnung geht hinter die argumentierbaren Differenzen von Hermeneutik und Dekonstruktion zurück und dient damit wohl weniger dem Zweck, die beiden Theorien miteinander ins Gespräch zu bringen, als dem Versuch, sie als je einseitige Statthalter einer elementaren Opposition zu situieren, gegenüber denen Tholen seinen eigenen hermeneutischen Ansatz als dialektische Theorie des Wider-Spruchs zwischen den Opponenten profilieren kann.

Oppositionelle Standpunkte

Ohne Zweifel trifft Tholen mit seiner Bestimmung der Dekonstruktion als einer Hermeneutik des Todes und der philsophischen Hermeneutik Gadamers als einer dem Leben zugetanenen Hermeneutik der Endlichkeit bedeutende Motive in den theoretischen Konzeptionen Derridas und Gadamers. Und es gelingt ihm, indem er die symmetrischen Optionen, die beide ergreifen, als Optionen kennzeichnet, die sich theoriegeschichtlich aus der Auseinandersetzung mit der Philosophie Hegels und Heideggers herleiten lassen, der zunächst weltanschaulichen Opposition existenzieller Grundhaltungen ein gewisses theoretisch-begriffliches Profil zu verleihen. Das kann als ein echter Fortschritt gegenüber jenem Nullpunkt gewertet werden, den das Pariser Gespräch zwischen Derrida und Gadamer spätestens in dem Augenblick erreichte, als Gadamer die Vermutung aussprach, Derridas Metaphysik gewinne ihre Bestätigung aus "der privaten Erfahrung der Enttäuschung" 1 .

Indem Tholen Hermeneutik und Dekonstruktion als die zwei Seiten einer elementaren Opposition bestimmt, spricht er ihnen zwar notwendig ein jeweils nur beschränktes, aber immerhin ein gleiches und zumindest ein überpersönliches, nicht auf psychologische Dispositionen zu reduzierendes Recht zu.

Trotzdem kann diese Interpretation des Streits von Hermeneutik und Dekonstruktion nicht völlig befriedigen. Das überprägnante Schema, in dem sie konzipiert ist, führt einerseits dazu, dass die möglichen Konsequenzen, die der Streit zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion für konkrete Interpretationsversuche haben kann, diffus werden, bzw. als Konsequenzen schwer nachvollziehbar sind; andererseits erzwingt die Überpointierung - vor allem im Hinblick auf die Texte Derridas - vereinseitigende Interpretationen.

Das ist umso bedauerlicher, als Tholen mit dem Begriff der Erfahrung einen Ausgangspunkt für seine Interpretation wählt, der einen ausgezeichneten Zugang zu den ethischen Motiven der dekonstruktiven Aktivität eröffnet. Er wehrt damit das die Auseinandersetzung von Hermeneutik und Dekonstruktion einige Zeit bestimmende Mißverständnis der Dekonstruktion als blanken Skeptizismus von vornherein ab. Zumindest für die Texte Derridas (schon weniger vielleicht für jene de Mans) läßt sich behaupten, dass die rückhaltlose Ent-täuschung von Sinnerfahrungen und Sinnbehauptungen in ihnen von dem paradoxen Verlangen getrieben ist, eine unverstellte Erfahrung dessen zu erreichen, was durch die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung immer schon entstellt ist.

Das Verlangen der Dekonstruktion

In seiner Auseinandersetzung mit Benjamins Aufsatz Zur Kritik der Gewalt, auf den Tholen bezeichnenderweise nicht eingeht, hat Derrida die Gerechtigkeit als diese "Erfahrung dessen, wovon wir keine Erfahrung machen können" bezeichnet, und von der Dekonstruktion behauptet, sie sei "verrückt nach dieser Gerechtigkeit" und werde von diesem "Gerechtigkeitsverlangen" verrückt gemacht 2 .

Da das Verlangen der Dekonstruktion sich auf die unmögliche Erfahrung dessen richtet, was sich der Erfahrbarkeit entzieht, liegt es nahe, dass die Motive der Abwesenheit, des Todes, der Leere und des Nichts in einigen Texten Derridas eine bedeutende Rolle spielen. Die nachdrückliche Bezugnahme auf diese Motive, die Tholen u.a. in Derridas Bataille- und Mallarmé-Lektüre verfolgt, erfüllt aber zunächst eine kritische Funktion: sie soll das zur Geltung bringen, was in der lebendigen (Selbst)Gegenwart des Bewußtseins nicht erfahren wird und überhaupt nicht erfahren werden kann.

Gegen die von Derrida als Grundtendenz der abendländischen Metaphysik behauptete Privilegierung der Anwesenheit, des Lebens, der Fülle und des Seins, werden deshalb die negativen Gegenmotive festgehalten und aufgewertet. Der Sinn dieser Operation kann aber, wie Derrida immer wieder hervorgehoben hat, im Rahmen der Dekonstruktion unter keinen Umständen darin liegen, durch eine einfache Inversion von der Metaphysik der Präsenz zu einer Philosophie der Abwesenheit oder des Todes überzugehen.

Genau dies aber suggeriert Tholens Interpretation als die entscheidende Tendenz der Dekonstruktion. Wie Tholen meint, führt sie Derrida, schließlich zum vollständigen Verlust von Erfahrung in narzisstischer Selbstbezüglichkeit und damit ins Abseits jedes echten hermeneutischen Bemühens. An Derridas Nietzschelektüre Sporen und seinem autobiographischen Text Zirkumfession versucht Tholen zu zeigen, dass das ausdrückliche Beharren auf der unmöglichen Erfahrung des Anderen den unausdrücklichen Versuch einer endlosen Selbsteinschreibung des Autors Derrida (ver)deckt, dessen "Diskurs über die/den Andere(n) [...] immer wieder [...] bei sich an[kommt]" (S.59).

Beispielhaft dafür erscheint Tholen u.a. die Tatsache, dass Derrida "das reale Sterben seiner Mutter", von dem er in Zirkumfession berichtet, "nicht zum ‚Anstoß' des Nachdenkens über das zu Lebzeiten versäumte Gespräch mit ihr" nimmt (S.83), sondern den zusammenhangslos von der sterbenden Mutter ausgesprochenen Satz "ich möchte mich umbringen" als seinen eigenen Satz erkennt, der ihn und seine Texte auf eine problematische Weise bestimmt.

Da der Text Zirkumfession, als durchlaufende Fußnote von Geoffrey Benningtons systematischer Darstellung der ‚Philosophie' Derridas, ausdrücklich dazu dient, diese Systematisierung der Dekonstruktion als Philosophie zu irritieren, scheint es zweifelhaft, ob man diesen Hinweis Derridas schon, wie Tholen, als Beleg für den Versuch einer "mythischen Selbststilisierung" (S.83) deuten kann. Zumindest aber scheint die ausdrückliche Auskunft eines Autors, dass seine Texte von einer persönlichen, sich der unmittelbaren Mitteilung entziehenden, Problematik geprägt sind, nicht der günstigste Anlass, um die These zu bestätigen, die Texte dieses Autors erschöpften sich insgesamt in der Selbstaneignung und Selbsteinschreibung dieses Autors.

Derartige Bedenken machen Tholens Einsicht, dass etwa Derridas Rede vom ‚testamentarischen' Charakter der Schrift nicht nur als Kritik am Ideal lebendiger Kommunikation gelesen werden kann, sondern auch als Hinweis auf den Wunsch des Autors Derrida, in seinen Schriften ein spezifisches Nachleben zu gewinnen, keineswegs gegenstandslos. Sie legen es aber nahe, diese Einsicht nicht zu rasch und nicht ohne Einbeziehung eines breiteren Textkorpus zur These einer wesentlichen Selbstbezüglichkeit der Dekonstruktion auszuweiten.

Problematisch scheint dies zumal dann, wenn Tholen gegen den als Anfang vom narzisstischen Ende der Dekonstruktion interpretierten Anspruch auf die ‚unmögliche Erfahrung' des anderen "die reale andere bzw. den realen anderen" (S.85) aufbietet, ohne zu erklären, was dabei mit der Bestimmung des "realen" gemeint ist.

Entscheidung für die Hermeneutik

Zwischen Derridas "Sein zum Tode" und Gadamers "Sein zum Leben" entscheidet sich Tholen unzweideutig für die Option der philosophischen Hermeneutik und damit für die Zuversicht in ein dialogisches Verstehen, das in der Endlichkeit des menschlichen Bewußtseins nicht seine Grenze, sondern die positive Bestimmung seiner Möglichkeit findet. Als problematisch erscheint Tholen allerdings Gadamers Versuch, diese hermeneutische Zuversicht u.a. dadurch zu begründen, dass er die priviligierten Gesprächspartner der philosophischen Hermeneutik, nämlich die ‚klassichen Werke', als zeitlose Quellen von Wahrheit auszeichnet.

Diese Operation ist schon vielfach als eine konservative Überbetonung der Autorität der Tradition kritisiert worden, sie steht aber, wie Tholen bemerkt, auch in einem latenten Widerspruch zu Gadamers nachdrücklichen Hinweisen auf die Zugehörigkeit der möglichen hermeneutischen Gegenstände zu der Welt, aus der sie hervorgegangen sind. In ihrer absoluten Stellung sind die klassischen Werke nämlich gerade aus jenem Zusammenhang einer geteilten Erfahrungswelt herausgelöst, in dem sich ihr Sinn vermitteln soll. Sie werden damit zu jenen autonomen Objekten, die Gadamer als Gegenstände eines bloß ästhetischen Bewußtseins gerade kritisiert.

Diese Kritik der ‚ästhetischen Unterscheidung' schließt u.a. die Aufwertung der okkassionellen und dekorativen Kunstformen und die Rehabilitierung der Allegorie ein, sofern deren Verständnis von einem Wissen um überlieferte Bedeutungskonventionen und nicht von einem je subjektiven Erleben getragen ist. Tholen moniert zurecht, dass die Verabsolutierung der klassischen Werke diese kritischen Tendenzen der philosophischen Hermeneutik blockiert und sie auf jenes "klassisch-symbolische Kunstverständnis" (S.155) festlegt, dessen Anachronismus man ihr oft genug vorgehalten hat.

Zu wenig Beachtung schenkt Tholen allerdings der Frage, inwieweit die Behauptung der Idealität des Klassischen, nicht nur der Ausdruck eines willentlichen Traditionalismus, sondern auch eine notwendige Voraussetzung dafür ist, dass das hermeneutische Gespräch auch dort noch glückt, wo es seine eigentliche Herausforderung findet, nämlich im Verständnis dessen, was nicht schon immer dem Horizont der eigenen Erfahrungswelt zugehört. Tatsächlich durchzieht der Konflikt zwischen dem Ausgangspostulat der historischen und kulturellen Immanenz des hermeneutischen Bewußtseins und der Tendenz über diese Immanenz hinauszugelangen ja nicht nur die Theorie des Klassischen, sondern die gesamte philosophische Hermeneutik Gadamers. Und dieser Konflikt scheint unvermeidbar, sofern ohne die Unterstellung einer die historischen und kulturellen Kontexte übersteigenden Idealität des Sinns, als deren priviligiertes Medium Gadamer die Schrift auszeichnet, der Anspruch auf die Universalität und Verbindlichkeit des Verstehens kaum einzulösen wäre.

Zum Zwischenraum von
Dekonstruktion und Hermeneutik

Im Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit Derrida und Gadamer distanziert Tholen sich von beiden vor allem aufgrund von drei Einwänden, die die Dekonstruktion und die philosophische Hermeneutik in gleicher Weise betreffen. Ersten hält er beiden Theorien vor, dass sie mit der an Heidegger angelehnten These von der Ereignishaftigkeit des Kunstwerks, bzw. Textes, die Stellung des verstehenden Subjektes unterminieren. Zweitens sieht er beide in einem Zirkel des Je-schon-Verstehens, bzw. Je-schon-Nichtverstehens befangen, der ihnen den Zugang zu einem wirklich offenen Gespräch verwehrt. Drittens scheinen ihm beide "einen universale philosophischen Wahrheitsanspruch" zu erheben (S.189), der ihr Bemühen, "das zu denken, was sich dem philosophischen Begriff widersetzt" (ebd.), wenig aussichtsreich erscheinen lässt.

Seine eigene hermeneutische Konzeption, die diese grundlegenden Mängel überwinden soll, situiert Tholen - trotz des im Grunde vernichtenden Charakters seiner Kritkik - nicht im Jenseits, sondern "im Zwischenraum von Dekonstruktion und Hermeneutik" (S.241). Diese komplexe Ortsangabe lässt sich vor allem dadurch konkretisieren, dass Tholen von Gadamer die Zuversicht in die Möglichkeit eines echten Gesprächs übernimmt und von Derrida die Erwartung, dass dieses Gespräch gleichwohl scheitern kann.

Indem Tholen den von ihm angestrebten hermeneutischen Bezug zum anderen als "Wider-Spruch" bestimmt, gerät er allerdings - trotz des Bindestrichs - in die Gefahr auch mit seiner Konzeption "in der philosophischen Domäne" (S.190) Derridas und Gadamers zu verbleiben; sofern nämlich Widersprüche keine Tatsachen der ästhetischen Erfahrung, sondern des begrifflichen Denkens sind.

Tatsächlich führen dann Tholens Lektüren von Texten Musils, Friedrich Schlegels und Bettina von Arnims auch nicht so sehr dazu, dass "hermeneutische Theorie in der Erfahrung der Literatur ihrer eigenen Kontingenz gewahr wird" (S.190), sondern vielmehr zur Bestätigung des hermeneutischen Theorems vom "Wider-Spruch". Das spricht weder gegen dieses Theorem noch gegen die Lektüren Tholens; es relativiert aber den Status von Tholens Kritik an der philosophischen Befangenheit Gadamers und Derridas.

Das Interesse, das Tholen in seinen knappen‚literarischen' Lektüren verfolgt, richtet sich nicht auf die Literarizität der behandelten Texte, sondern auf thematische Motive, die ihm für die von ihm angestrebte hermeneutische Haltung beispielhaft erscheinen. Als solche erkennt er Musils Konzeption des Essayismus, Schlegels Konzeption der Ironie und die "Erotik des Gesprächs", die sich ihm als Leser Bettina von Arnims "unmittelbar [...] zu Gehör" bringt (S.226).

Besonderes Gewicht legt Tholen dabei auf die geschlechtliche Codierung der hermeneutischen Haltung: die Befähigung zum "liebenden Gespräch" (S.226) erkennt er als ein spezifisch weibliche Qualität, die sich bei Bettina von Arnim aber auch bei Agathe in Musils Mann ohne Eigenschaften prägnant zeigt. Demgegenüber verfangen sich der Autor Friedrich Schlegel und Musils männlicher Protagonist Ulrich, wie Tholen meint, immer wieder in Selbstbezüglichkeit und Eigenliebe. Daran scheitert in seiner Interpretation schließlich das "wirkliche Gespräch" (S.210) zwischen den Geschwistern Ulrich und Agathe und die Sehnsucht des Ironikers nach "einer [...] vollständigen Mitteilung." (S.216)

Interpretatorische Erprobung an Paul Celan

Im Anhang seiner Arbeit bietet Tholen auf wenigen Seiten den "Versuch einer Annäherung an Paul Celan", den er selbst als interpretatorische Erprobung der "im Anschluß an Musil, Schlegel und Arnim gewonnenen Gedanken essayistischer Erfahrung" ausweist. In einer sehr persönlichen Befragung seiner eigenen Gefühle und Selbstwahrnehmungen bei der Lektüre Celans versucht Tholen dabei vor allem die Gefahr abzuwehren, "die Texte Celans [...] zu Exempeln einer allgemeinen Wahrheit zu machen" (S.248). Trotzdem geben ihm die Gedichte Celans eine mustergültige und seine eigenen theoretischen Annahmen bestätitigende Auskunft über die allgemeinen Bedingungen der hermeneutischen Situation; nämlich darüber, "wie steinig die Wege sind, die an den möglichen oder auch unmöglichen Ort der Begegnung führen" und darüber, dass der "gemeinsame Raum von Ich und Du, der Dialog, [...] etwas [ist], das zwischen uns, in seltenen Augenblicken, geschieht." (S.249).


Fabian Stoermer
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Ins Netz gestellt am 03.04.2001

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Anmerkungen

1 Hans-Georg Gadamer: Und dennoch: Macht des Guten Willens. In: Philippe Forget (Hg.): Text und Interpretation. München: Fink 1984, S.59-61, hier: S.60   zurück

2 Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der "mystische Grund der Autorität". Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S.33 und 52   zurück