Strepp über Warburg: Der Bildatlas Mnemosyne

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Hans Michael Strepp

Sprich, Erinnerung!

  • Aby Warburg: Der Bildatlas Mnemosyne (Aby Warburg Gesammelte Schriften Zweite Abteilung II / 1), Studienausgabe. Hg. von Horst Bredekamp / Michael Diers / Kurt W. Forster / Nicolas Mann / Salvatore Settis / Martin Warnke. Berlin: Akademie Verlag 2000. 140 S. 63 Tafeln mit ca. 1.2000 Detailabbildungen Geb. EUR (D) 89,90.
    ISBN 3-05-002799-1.


Aby Warburg hat weiterhin Konjunktur. Der Gründervater einer der einflußreichsten Richtungen der modernen Kunstgeschichte erfährt zur Zeit die ihm gebührende breite Beachtung und ist nicht zuletzt durch die verdienstvolle Herausgabe seiner Schriften im Berliner Akademie Verlag wieder präsent geworden. Im Zuge dieser Edition hat Martin Warnke zusammen mit Claudia Brink als Bd. II / 1 der Gesammelten Schriften die Veröffentlichung seines Bildatlas' "Mnemosyne" gewagt.

Die Gestalt

Das Projekt eines Tafelwerks, dem er vorläufig den griechischen Namen für "Erinnerung" gab, beschäftigte Warburg während seiner letzten Lebensjahre kontinuierlich. Angeregt durch seinen Schüler und Mitarbeiter Fritz Saxl, begann Warburg Mitte der zwanziger Jahre damit, auf großen, schwarz bespannten Holztafeln Photographien anzuheften, die er zu verschiedenen Themenkomplexen gruppierte. Solche Tafeln waren von Beginn an keine bloßen Arbeitsinstrumente zur Bewältigung der fakultätstypischen Abbildungsflut, sondern fanden Verwendung als Dokumentationsmittel für Vorträge Warburgs und Ausstellungen im Lesesaal seiner Bibliothek in Hamburg. Später ging Warburg daran, Tafeln für eine gesonderte Veröffentlichung zu komponieren, eben für den Bildatlas. Mehrere dieser Tafeln ließ er abphotographieren. Diese Photographien, nicht jedoch die Tafeln selbst, sind erhalten und bilden zusammen mit einer kurzen Einleitung Warburgs den Gegenstand der vorliegenden Edition.

Dem unbefangenen Betrachter müssen die Warburgschen Tafeln wie übergroße Pinwände erschienen sein. Ihre Gestaltungsweise ist durchaus mannigfaltig. Es gibt Tafeln, die als konventionelles Handwerkszeug eines Kunsthistorikers bezeichnet werden können. Auf Tafel 54 beispielsweise (S. 99) ist das Kuppelmosaik von Raffaels Chigi-Kapelle an S. Maria del Popolo in Rom den Deckenfresken Peruzzis in der Villa Farnesina gegenübergestellt – ein klassisches kunstgeschichtliches Vergleichspaar. Auf Tafel 52 (S. 95) sind Beispiele für die Bildthemen "Großmut des Scipio" und "Gerechtigkeit des Trajan" miteinander kombiniert – hier könnte sich ein ikonographischer Strukturvergleich anschließen. Auf anderen Tafeln sind die Zusammenhänge der einzelnen Abbildungen weniger augenfällig, teilweise regiert eine vielleicht absichtsvoll schroffe und harte Fügung. Unter dem Titel "Fortuna" vereinigt Tafel 48 (S. 89) nicht nur Darstellungen der lateinischen Göttin gleichen Namens mit solchen ihres griechischen Pendants, des "Kairos", sondern zeigt auch das Familienportrait Kaiser Maximilians von Bernhard Strigel und die Fassade von Leon Battista Albertis Palazzo Rucellai in Florenz. Bei solchen Tafeln läßt sich Warburgs Intention nicht ohne weiteres entschlüsseln.

Die Aufbereitung der Bildtafeln durch die Herausgeber ist vorbildlich. Jeweils auf der rechten Seite einer Doppelseite befindet sich Warburgs Tafel, auf der linken ein Schema der auf der Tafel zusammengestellten Abbildungen mit einer erläuternden Legende, die das Dargestellte erschließt. Ein Register unter Einschluß der dargestellten Motive vervollständigt den Band.

Zu einer Veröffentlichung zu Warburgs Lebzeiten kam es nicht, obwohl sie bereits 1927 angekündigt wurde. In seiner Vorbemerkung tritt der Herausgeber Martin Warnke der Einschätzung entgegen, die in den erhaltenen Photographien dokumentierte Fassung der Tafeln zeige den intendierten Abschlußzustand des gesamten Tafelwerks, der lediglich noch der Zusammenführung mit dem geplanten umfangreichen, auf zwei Bände veranschlagten Textapparat bedurft hätte (S. VII). Hierzu gibt es in der Tat keine Anhaltspunkte. Viele Abbildungen sind offenkundig flüchtig angeheftet und nicht auf Linie gebracht, es gibt Überlappungen und Lücken. Vor uns steht demnach vielmehr der Zwischenzustand eines Werkes, über dessen Endgestalt nur Mutmaßungen möglich sind. Dennoch ist seine Aufnahme in die Edition der Gesammelten Schriften Warburgs gerechtfertigt und erfüllt ein lange bestehendes Desiderat der Geschichte der Kunstgeschichte.

Die Faszination

Es dürfte kaum ein kunsthistorisches Werk geben, das mit einer ähnlichen Aura des Geheimnisvollen umgeben ist wie dieser Bildatlas. Unter enigmatischen Titeln wie "Rimini: pneumatische Sphärenvorstellung im Gegensatz zur fetischistischen. Antikische Form" (S. 42) ist eine Vielzahl von bekannten und weniger bekannten Kunstwerken versammelt, die in ihrer Zusammenstellung ungekannte Ausblicke auf die Arkana der Renaissancekunst zu versprechen scheinen. Daß hier einer der eigenwilligsten Erforscher der neuzeitlichen Geistesgeschichte offenbar die Summe seines Gelehrtenlebens ziehen wollte und das Werk infolge seines plötzlichen Todes im Oktober 1929 nicht fertigstellen konnte, verhalf dem Atlas darüber hinaus zum Status eines unvollendeten Vermächtnisses.

Die Frage nach dem eigentlichen Thema des Bildatlas' läßt sich aufgrund seiner nur vorläufigen Gestalt nicht definitiv beantworten. Auffällig ist allerdings, daß zwei Themen, die zeitlebens im Zentrum von Warburgs Forschungsinteresse gestanden haben, auch im Mnemosyne-Atlas besonders berücksichtigt sind. Es sind dies die Wiederentdeckung der olympischen Götter in Gestalt der Planetenbilder und die Wiederbelebung der antiken Gebärdensprache durch von Warburg so genannte "Pathosformeln" in der Renaissance. Den Monatsbildern des Palazzo Schifanoia in Ferrara mit ihren Planetendarstellungen ist eine separate Tafel gewidmet (S. 47), ebenso dem Bildtypus der "eilenden Magd" bei Ghirlandaio und anderen Florentinern, die Warburg als Wiedergängerin der antiken Nymphen oder Mänaden identifizierte (S. 85). Die Mehrzahl der Tafeln ließe sich bereits von ihrer Betitelung her zu einem "Atlas der Gebärdensprache in der bildenden Kunst des klassischen Altertums und der Renaissance" zusammenstellen, wie Fritz Saxl nach dem Tod Warburgs das Werk bezeichnete (S. IX).

Man darf daher die Vermutung aussprechen, daß Warburg mit dem Atlas zumindest auch das Ziel verfolgte, seine bisherige Forschungsarbeit in ihren Hauptlinien einer großen Synthese zuzuführen. In dieser Ausrichtung wäre der Atlas tatsächlich zu Warburgs opus magnum geworden. Vielleicht hoffte Warburg, dem das Verfassen von Texten immer schwer fiel und der zunehmend unter einer Schreibhemmung litt, seine wissenschaftlichen Ergebnisse durch ein Kompendium von Abbildungen sinnfällig zu machen.

Auf dem Weg zu einer neuen Kunstgeschichte?

Damit ist die Faszination, die das Projekt eines Bildatlas' auf Warburgs Umgebung und die nachfolgende Forschergeneration ausübte, jedoch nur ansatzweise erklärt. Um hier tiefer zu gehen, muß man sich denjenigen Tafeln zuwenden, die augenscheinlich nicht als gewöhnliche Illustration einer kunstgeschichtlichen Abhandlung taugen würden, weil sie in ihrer Zusammenstellung auf den bewußten und überraschenden Kontrast setzen, Abseitiges miteinander kombinieren und ungeahnte Verweise bieten. Diese Tafeln enthalten einen "hermeneutischen Rest", der sich durch die gewöhnlichen kunsthistorischen Deutungsmuster nicht auflösen läßt. Hierbei kann offen bleiben, ob die von Warburg vorgesehenen Begleittexte eine definitive Explikation gebracht hätten, denn Gegenstand der Rezeption waren lediglich die Atlastafeln als solche. Man darf vermuten, daß die fehlende Fixierung auf einen konkreten Sinngehalt, der auch unabhängig von der bildhaften Darstellung formulierbar wäre, und die darin liegende weite Ausdeutbarkeit dem Atlas seine Wirkung gesichert und das Interesse an ihm wach gehalten hat. Die Tafeln scheinen in dieser Lesart für sich selbst zu sprechen und in ihrer nicht festgelegten Offenheit eine autonome Qualität zu gewinnen, die sonst nur den auf ihnen versammelten Kunstwerken zukommt.

Aber noch ein weiterer Aspekt tritt hinzu. Ein besonderes Interesse haben diejenigen Tafeln erfahren, in denen Abbildungen von Kunstwerken mit Photographien gewöhnlicher, nicht primär künstlerischer Objekte kombiniert sind. Auf Tafel 46 (S. 85) ist neben den eilenden Mänaden die Photographie einer italienischen Bäuerin von Warburg aufgenommen, auf den drei letzten Tafeln (S. 129, 131, 133) finden sich Werbeplakate, Briefmarken und Zeitungsausschnitte. Nur allzu leicht könnte man der Versuchung erliegen, hierin eine Transzendierung der Gegenstandsgrenzen kunstgeschichtlicher Forschung zu erblicken, wie sie heute unter dem Schlagwort des "iconic turn" im Schwange ist. Dem scheint Warburg selbst Vorschub geleistet zu haben, indem er sich als Bildhistoriker, nicht als Kunsthistoriker bezeichnete.

Dennoch sei vor einer vorschnellen Vereinnahmung Warburgs für eine "Kunstgeschichte ohne Kunst" gewarnt. Der überraschende Kontrast von Raffaels Stanzen im Vatikan mit einer Photographie der Schweizergarde auf dem Petersplatz ist zwar ein markanter, aber im ganzen doch nur leiser Ton im Bildatlas, der sich im weit überwiegenden Teil im klassischen Gegenstandsbereich des Fachs bewegt. Nicht zuletzt hier die Dimensionen wieder geradegerückt zu haben, ist ein Verdienst der postumen Edition.


Dr. Hans Michael Strepp
Johann-Sebastian-Bach-Straße 44
D-85521 Ottobrunn

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Ins Netz gestellt am 11.08.2003
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Alf Christophersen. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.


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