Bernhard Tempel
Ulrich Erdmann: Vom Naturalismus zum Nationalsozialismus? Zeitgeschichtlich-
biographische Studien zu Max Halbe, Gerhart Hauptmann, Johannes Schlaf und Hermann
Stehr. Mit unbekannten Selbstzeugnissen. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1997. 355 S. Kart. DM
89,-.
Der Titel der im November 1995
abgeschlossenen Dissertation deutet auf zwei forschungsgeschichtlich wichtige
Vorläufer: Um "Zeitgeschehen und Bewußtsein" ging es Hans von
Brescius in einer "politisch-biographische[n]" Studie über Gerhart
Hauptmann, 1 und der plakative - wenn auch vorsichtig als Frage
markierte - Haupttitel nimmt eine Formulierung von Dieter Kafitz auf: "Vom
Naturalismus zum Nationalsozialismus" lautet das abschließende Kapitel seines
Buches über Johannes Schlaf. 2 Es wird daher zu fragen sein,
was der Autor über diese Arbeiten hinaus zu dem ergiebigen Thema beizutragen hat,
sei es auf methodischem, sei es auf inhaltlichem Gebiet.
Vorwegnehmend ist festzuhalten, daß Erdmann primär an v. Brescius anschließt, wie er im Resümee
dann auch deutlich benennt und begründet: "unter zahlreichen Forschern und
Sympathisanten [Hauptmanns]" habe die Studie "Tendenzen zur Relativierung,
Bagatellisierung und Legendenbildung" ausgelöst, "die einer
Klärung oder Korrektur bedurften" (S. 331). Diese Bemerkung bestätigt
den Eindruck, der Verfasser habe vor allem die Rehabilitation und Erneuerung einer
früheren Arbeit angestrebt, wenngleich erweitert und übertragen auf weitere
Autoren. Mit Kafitz wird hingegen lediglich der Ausgangspunkt geteilt: nämlich der
"vermeintliche Widerspruch", daß Schriftstellern des Naturalismus
gemeinhin "die Fähigkeit zu umfassender Realitätsdurchdringung und
rationaler Analyse der Zeitverhältnisse" zugeschrieben wurde, so daß
"nach dem Ausklingen dieser Bewegung um die Jahrhundertwende die Affinität
der deutschen Naturalisten zu irrational geprägten kulturellen wie gesellschaftlichen
Strömungen bis hin zu bedingten Sympathien mit dem Nationalsozialismus
befremdend" gewirkt habe (S. 7).
Ergänzend zu den "seltenen exemplarischen Einzelstudien der letzten Jahre" (Erdmann nennt hier nur Kafitz),
sollen "die bewußtseinsgeschichtlichen Voraussetzungen für die
Entwicklung entsprechender Geisteshaltungen an vier Autoren unter biographischen wie
historischen Aspekten untersucht und mit bislang unbekannten Selbstzeugnissen doku-
mentiert" (S. 7) und auf der Grundlage vor allem von "privaten Lebens-
zeugnissen wie Tage- und Notizbucheinträgen, Briefen und Entwürfen"
das "zeithistorische Bewußtsein" der Autoren rekonstruiert werden (S.8),
so das Programm.
Der knappen Einleitung (S.7-11), die mit weniger als fünf Seiten für
Andeutungen zu Fragestellung, Forschungsstand, Methode, Gliederung und Danksagungen
auskommt, folgt ein Kapitel "biographische Skizzen" (S.12-25) und ein
weiteres über die "Beziehungen der vier Dichter untereinander" (S.26-
101). In diesen beiden Kapiteln könnte man eine umfangreiche Rechtfertigung der
Auswahl gerade der vier betrachteten Autoren sehen: die über die Lebensdaten
hinausgehende Zugehörigkeit zu einer Generation aufgrund künstlerischer und
persönlicher Beziehungen. Dabei fallen die Hauptmann-Abschnitte mit insgesamt 70
Seiten deutlich ausführlicher aus als diejenigen, die nur Halbe, Schlaf und Stehr
behandeln, mit gerade sechs Seiten. Offenbar war Hauptmann, insbesondere seines (auch
materiellen) Erfolges wegen, gemeinsamer Bezugspunkt für die drei anderen Autoren,
so daß die ungleiche Gewichtung nicht nur auf die Überlieferungslage (den
außerordentlichen Umfang des Hauptmann-Nachlasses) zurückzuführen
ist.
Zwei Ordnungsprinzipien bestimmen die Darstellung: Alphabet (für die Abfolge
der Kapitel) und Chronologie (innerhalb der einzelnen Abschnitte). Das gilt auch für
den Hauptteil des Buches, die vier monographisch angelegten Kapitel über Halbe,
Hauptmann, Schlaf und Stehr (S.102-329), denen ein kurzes Resümee (S.330-337)
folgt, das den Textteil abschließt. Diese vier Kapitel haben der Vergleichbarkeit halber
eine stets identische Unterteilung, die sich an "Phasen oder Ereignisse[n] der
Zeitgeschichte" (S.9) orientiert: "In der Weimarer Republik" mit den
Abschnitten "Von der Novemberrevolution bis zum Versailler Vertrag
(1918/19)", "Krisenjahre (1920-1923)", "Konsolidierung (1924-
1929)" und "Niedergang (1930-1932)"; "Die Haltung [bzw.
Einstellung] zum Antisemitismus"; und "Das erste Jahr im Dritten Reich
(1933)". Im Falle Hauptmanns wird die Haltung zum Antisemitismus differenziert
nach "bis 1933" und "ab 1933"; ein eigener Abschnitt gilt dem
"Zerwürfnis mit Alfred Kerr".
Schon dieser Blick gewissermaßen auf das Inhaltsverzeichnis läßt
ahnen, daß der Haupttitel des Buchs falsche Erwartungen wecken könnte; und
tatsächlich geht es nicht um die (literarhistorische) Kategorie des Naturalismus,
sondern es werden lediglich Autoren, die im Zeichen des Naturalismus ihr Werk begonnen
hatten (was für Stehr zudem eingeschränkt wird; vgl. S. 7), im Hinblick auf ihr
zeitgeschichtliches Bewußtsein nach dem Ersten Weltkrieg betrachtet. Während
Kafitz über Johannes Schlaf eine "entwicklungsgeschichtliche
Monographie" vorlegt, "in deren Mittelpunkt die Betrachtung des dichterischen
und theoretischen Werks steht", wobei "biographisches Quellenmaterial [...] flankierend zur Erschließung des Selbstverständnisses des
Autors herangezogen" wird, 3 stehen bei Erdmann
biographische Quellen an erster Stelle, begleitet von kritischen und theoretischen
Äußerungen; das dichterische Werk wird nur gelegentlich einbezogen, und von
"Kurzanalysen dichterischer Werke" (S. 9) zu sprechen, wirkt sogar etwas
übertrieben.
Wenn schon die Anlage einer Studie Zweifel weckt, wird man zunächst einen
skeptischen Blick auf Ergebnisse werfen. Sicher läßt
es sich als Ergebnis verbuchen, daß sich Stehr "am anfälligsten für
antisemitische Klischees [zeigte], insbesondere, wenn sie mit dem Stereotyp des Mate-
rialismus verbunden waren, der ihm prinzipiell verhaßt war" (S.333) 4, während Halbe, Schlaf und Hauptmann der Antisemitismus
grundsätzlich wesensfremd war (auch wegen ihrer persönlichen Beziehungen
zu Förderern jüdischer Herkunft), sie gleichwohl sich nicht dem
zeitgenössischen Diskurs entzogen und mitunter die gängigen Klischees
reproduzierten.
Sicher ist es ein Ergebnis (wenn auch kein überraschendes), daß
Anfang der zwanziger Jahre keiner der vier Autoren den Vertrag von Versailles
begrüßte, daß Halbe und Stehr von Beginn an die Republik ablehnten und
allenfalls Stehr als "Opponent obrigkeitsstaatlichen Denkens und Verfechter von
demokratischen Ideen schon in vergangenen Jahrzehnten" das neue System
"zuversichtlich begrüßte" (S.275), aber durch die Realität
bald enttäuscht wurde; und daß Hauptmann "wohl aufgrund seiner
herausragenden Repräsentantenstellung und materiell ungefährdeten
Position" "im Unterschied zu Halbe, Schlaf und Stehr den Bestand der
Weimarer Republik bis in die letzten Krisenjahre hinein nicht in Frage" stellte (S.331;
vgl. S.260: "der in der Weimarer Republik nie heimisch gewordene Schlaf").
Und daß etwa Johannes Schlaf "fundamentale Differenzen hinsichtlich der
Rassetheorien" ausblendete und "seine weltanschaulichen Konzepte auf die
nationalsozialistische Ideologie" projizierte (S.270), um in dieser Ideologie die
Erfüllung seiner eigenen Hoffnungen erkennen zu können.
Ähnliches galt für Stehr, der den "Gegensatz von im eigenen Werk propagierter
individualistischer Weltanschauung und dem geforderten wie praktizierten völkischen
Kollektivismus der deutschen Faschisten [...] durch den Verweis auf die Verpflichtung
durch das historische Erbe zu harmonisieren" versuchte (S.326), einen Gegensatz, den auch Hauptmann mehrfach in seinen
Tagebüchern thematisiert. 5 Die mehr oder weniger
bewußte "Konstruktion von Übereinstimmungen" bei Ausblendung
von "Widersprüchen zur Ideologie des Nationalsozialismus" ist
übrigens ein Verhaltensmuster, das man nicht nur bei Schriftstellern findet; es wurde
z. B. für den Erziehungswissenschaftler und
Pädagogen Peter Petersen beschrieben. 6
Doch bis zu solchen Parallelen dringt der Verfasser nicht vor; er hält sich eng an
die ausgewerteten Selbstzeugnisse der vier Autoren. Seine Befunde bleiben daher an der
faktischen Oberfläche, und es entsteht der Eindruck, daß die Ergebnisse der
Arbeit vorwiegend in der kommentierenden, meist unterschwellig wertenden, Reihung von
Quellenzitaten bestehen. Denn Erdmann verzichtet weitgehend auf thesenbezogene
Argumentation, überhaupt auf die Formulierung von Thesen; zusammenfassende
Bemerkungen bietet erstmals das Resümee, in dem das Reihungsprinzip in Kraft
bleibt.
Dem entspricht, daß eine ausdrückliche Reflexion der Methode nicht
erfolgt; in der Einleitung steht zwar eine Bemerkung über die Bedeutung der
vorwiegend privaten Lebenszeugnisse als wichtigster Grundlage, denen als "nicht
originär zur Veröffentlichung bestimmten Texten eine hohe Authentizität
zuzuschreiben ist". "Andererseits soll auch der begrenzten Verbindlichkeit
derartiger Äußerungen Rechnung getragen werden [...]. Der Charakter des
jeweils herangezogenen Materials wird in der Regel im Text verdeutlicht oder durch
entsprechende Anmerkungen erklärt." (S. 9) So weist Erdmann denn auch
gelegentlich hin auf beispielsweise emotionale Spontanäußerungen (z.B. S.111
u. 131), um aber auf der anderen Seite durch die durchgängige Verwendung von
Wörtern wie "verkennen", "bagatellisieren",
"euphemisieren", "herunterspielen", "maßlos
übertreiben" u.ä. unfreiwillig das Fehlen jeglicher Reflexion über
die Distanz zwischen erlebendem und aus historischem Abstand wertenden Subjekt zu
offenbaren. Erdmann entgeht dieser Gefahr ebensowenig wie seinerzeit v. Brescius, der sich aber bewußt war, daß insbesondere der
"Biograph" "der Versuchung ausgesetzt" ist, "die kognitiven
Möglichkeiten des Geschichte erlebenden Subjekts zu überschätzen,
seinen Erfahrungs- und Erwartungshorizont zu überdehnen".
7
Das großzügige Absehen vom literarischen Werk der Autoren und die
Beschränkung auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg verstellt von vornherein die
Möglichkeit, die im Titel ausgedrückte Frage erklärend zu beantworten.
Die Beziehungen zwischen einer literarhistorischen und einer politischen (oder zumindest
nicht-literarhistorischen) Kategorie lassen sich in diesem engen Rahmen nicht klären.
Es genügt nicht, in den letzten Absätzen darauf hinzuweisen, "daß
literarisch Schaffenden zwar per se kein überdurchschnittliches
Erkenntnisvermögen unterstellt werden kann, sich aus ihrer exponierten Stellung und
der Möglichkeit zur öffentlichen Einflußnahme aber eine besondere
Verantwortung gegenüber der Gesellschaft ergibt" (S.337), und dies mit einer
allgemein gehaltenen literatursoziologischen Bemerkung über "symbolische
Politik", die Schriftsteller mit ihren Texten "betreiben" (zit. ebd.), zu
begründen.
Vielmehr wäre für die einzelnen betrachteten Autoren zu
untersuchen, inwieweit ihnen wirklich eine solche Wirkung zukam, und der
Literaturwissenschaftler hätte seine Kompetenz einzubringen, um anhand der Analyse
und Interpretation literarischer Werke deren potentiell oder real wirksamen (ideologischen)
Gehalt herauszuarbeiten. Bei weitgehender Ausblendung des literarischen Werks zugunsten
des "zeitgeschichtlich-biographischen" Schwerpunkts erscheint eine solche
Bemerkung aufgesetzt. Zwar werden die Gerüchte um Hauptmanns Kandidatur
für das Amt des Reichspräsidenten erwähnt, Stehr als
"Amateurpolitiker" (S.276) vorgeführt und öffentliche, vor allem
aber private Äußerungen über die politischen Verhältnisse bei allen
vier Autoren belegt. Doch selbst hier bleibt die Interpretation vage. So über-
schätzt Erdmann wohl die Bedeutung eines alternden Schriftstellers, wenn er
resümiert: "In den letzten Jahren der Weimarer Republik wurden deren Gegner
durch Hauptmanns Harmoniebedürfnis und Neutralitätsbemühen
ungewollt begünstigt, da sich ihre Radikalität und Brutalität seinem
Vorstellungsvermögen entzog." (S.332) Ebenso beim Kommentar zu einer im
schlesischen (!) Bad Warmbrunn gehaltenen Rede Stehrs:
"Nach diesen Ausfällen gegen Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg
schürte der Gelassenheit und Sachlichkeit für sich reklamierende Redner
weitere Aggressionen, indem er mittels eines rhetorischen Kniffs eine Aufforderung an das
Publikum dementierte, "diese elenden Verbrecher an der Freiheit und allen sittlichen
Gütern des Menschen und der Nation mit Stumpf und Stil [sic] auszurotten"
[...], zugleich aber mit der Verbalisierung derartiger Überlegungen zum geistigen
Klima für deren einige Tage darauf folgende brutale Ermordung beitrug." (S.280)
Das unterstellt eine Kausalität, die so einfach kaum sein dürfte. Mindestens
wäre zu fragen, ob Stehr mehr zu einem "geistigen Klima" beiträgt
oder ob es eher zum Ausdruck bringt, und die anzunehmende wechselseitige Beziehung
zwischen beidem müßte analysiert werden.
Überhaupt mangelt es der Studie am Bemühen, die Quellen zu verstehen.
Daß solches Bemühen nicht notwendig zur Apologie führt, belegt die
Untersuchung von Kafitz. Während dieser wesentlich
begriffliche Arbeit leistet, letztlich den "Begriff der ‘Weltanschauung’ als zeittypische
Wahrnehmungs- und Erlebnisform" zu erfassen sucht, 8
verwendet Erdmann Termini, ohne die zugrundeliegenden Begriffe zu definieren oder sich
durch entsprechende Literaturhinweise einzuordnen. Das betrifft beispielsweise die Rede
von "biologistischem Vokabular" (S.137; vgl. S.156 u. 310) und das ganze Wortfeld um "irrational" (passim). 9 Die begriffliche Vagheit führt dazu, daß die konnotativen
Bedeutungskomponenten das Übergewicht erhalten und ein Pathos naiver Wertung
sich wie ein Schleier über das ganze Buch legt.
Bedauerlich ist auch, daß Erdmann sich der vorliegenden Forschungsliteratur nur
ansatzweise bedient; über Johannes Schlaf bringt er nichts bedeutend Neues, zitiert
aber nicht einmal die Argumente von Kafitz, die den scheinbaren Widerspruch in der
Entwicklung des Autors vom Naturalismus bis zum abschließenden Bekenntnis zu
Hitler auflösen. Das mehrfach erwähnte geozentrische Weltbild, das Schlaf
propagierte (S.20, 249, 263, 272, 335), wird nicht in einen Zusammenhang zu
Vorstellungen des Autors gebracht; in Erdmanns Darstellung scheint es nicht mehr als eine
fixe Idee Schlafs, die fast die Funktion eines stehenden Attributs erhält - wie
übrigens "Dichter des Mitleids" und "harmonieorientiert"
bzw. "-bedürftig" für Hauptmann, "sendungs-" bzw.
"missionsbewußt" für Schlaf und Stehr, "ehemaliger (bzw.
frühpensionierter) Pädagoge" für Stehr und dergleichen mehr.
Am Ende scheint der Verfasser bemerkt zu haben, daß seine aufdringlichen
Wertungen das Erkennen einiger vielleicht doch wichtiger Ergebnisse erschwert. Wie sonst
wäre seine relativierende Bemerkung zu verstehen, die Untersuchung "sollte
aber nicht als bloße moralisierende Anklage interpretiert werden" (S.337)? Dies
nicht zu tun, fällt jedenfalls schwer, wenn man endlich das Ende erreicht hat.
Bernhard Tempel
Wetzlarer Str. 23
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Ins Netz gestellt am 18.02.1999.
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