- Norbert Bolz/Friedrich Kittler/Raímar Zons (Hg.):
Weltbürgertum und Globalisierung.(Weimarer Editionen) München:
Wilhelm Fink Verlag 2000. 215 S. Kart. DM 48,-
ISBN 3-7705-3510-3.
Weltbürgerlichkeit und worldwideweb-Ökumene
Wenn nach Sonnenuntergang der Chef eigenhändig seinem
Team junger Workaholics und Inhabern an Stock Options die Pizza bringt...
dann ist das entweder ein Werbespot oder schon schöne neue
zukünftige Teilhaberwelt?
Über nicht unähnliche, den Globalisierungstrends
angepaßte Arbeitsplatzstrukturen jenseits von Flächentarifpolitik
und klassischen Erwerbsbiographien räsoniert in dem vorgestellten Band
der baden-württembergische Wirtschaftsfachmann Lothar Späth in
einem Statement über Fiktion und Vision einer vernetzten Arbeitswelt von
morgen (S. 157-159), die den Führungstypus des traditionellen Chefs mit
dem des "modernen Coach" eintauschen bzw. wenigstens mitbedacht
sehen möchte. "Ist der eine ein Auslaufmodell und der andere der
Manager der Zukunft? Ganz so einfach ist es wohl nicht." (S. 157)
Ist so könnte mit Blick auf den vorzustellenden Band
über Weltbürgertum und Globalisierung analog gefragt
werden die traditionelle Weltbürgeridee ein Auslaufmodell, an deren
Stelle die Globalisierung und Hyperkommunikationen als Trends der Gegenwart
treten? Ganz so einfach ist die Antwort wohl auch hier nicht.
Diverse Globalisierungstrends und die säkulare
worldwideweb-Ökumene des Computerzeitalters geben sie unverhofft eine
neuerliche Chance zu einer "Zweiten Moderne" (Ulrich Beck), in der
die durch Nationalinteressen und Chauvinismen immer wieder verdrängte
und unterbrochene Idee der Weltbürgerlichkeit neu zu füllen
wäre jetzt erst recht? Oder wie das Herausgeberteam Norbert Bolz,
Friedrich Kittler und Raimar Zons einleitend im obigen Band nachhakt:
"Ließen sich also weltbürgerliche Gedanken für die
gegenwärtige Globalisierungsdebatte nutzbar machen?" (S. 7)
In vier eigenständigen Abschnitten (1.
Weltbürgertum, 2. Weltkommunikation, 3. Medien der Künste, 4.
Arbeit und Märkte) versuchen dreizehn Beiträger aus ganz
verschiedenen Sparten erste Teilantworten darauf zu geben. Am Beginn stehen
erwartungsgemäß Betrachtungen zur Ära des klassischen
Weltbürgertums in diachroner Sicht. Eine Bestandsaufnahme und
Einschätzung, die das kosmopolitische Erbe untersucht und die eingehende
Klärung der historischen Befunde des Weltbürgertums vornimmt, die
im zweiten Teil mit der ubiquitären Situation gegenwärtiger
Weltkommunikationen konfrontiert wird. Die Vokabel von der Weltgesellschaft
gewinnt ihre Konturen neben den verstärkt hinzugetretenen Komponenten
von lifestyle, leisure und Lust als Inbegriff von informationstechnisch
möglich gewordenen und spaßgesellschaftlich akzeptierten
Kommunikationen. Die Ein-Welt einer synchronen Wissens- und
Entertainmentgesellschaft, allezeit bereit in und am Netz, fordert jedenfalls
auf zum "unendliche[n] Gespräch" (S. 8).
Medienperformanz: Netzrahmen, Fenstervisionen,
Saitenklänge
Der lange Übergang, der sich von den Künsten zu den
Medien von den Gutenbergschen Lettern-Setzkästen zu den heutigen aus
lauter Nullen und Einsen vollzogen hat, wird im dritten Teil an Beispielen
aus der europäischen Literatur, Malerei und Musik ausgeschritten. Da
erinnert Samuel Y. Edgertons scharfsinniger und witziger Beitrag
(übersetzt von Hartmut Stückel) über
"Fenstervisionen" (S. 128) an das Kopistenglück des
florentischen Gelehrten Leon Battista Alberti von 1435, dessen Erfindung
eines fensterartigen "Netzrahmens" als Anleitungshilfe den Malern
der Renaissance einen "bequemen Zugang zum virtuellen Raum eines Bildes
zu verschaffen" vermochte. Edgerton bringt dieses mit dem anderen
Fenster, mit Microsofts Erfolgsmodell "Windows 95" in Zusammenhang
ein nicht nur persiflierendes Kulturäquivalent, wie dies etwa das
ansonsten dezent silbriggraue Buchcover im flotten Denkmalsscherz mit jener
steingewordenen Schulterschluß-Version der Dioskuren aus Weimar
verballhornt, bei dem eines der würdigen Klassikerantlitze nun durch
Bill Gates weiches Kindergesicht mit Kassenbrillen-Charme ersetzt wurde.
Warum entstand und etablierte sich die zentralperspektivische
"Kunst des Bildermachens", wie sie der amerikanische
Kunsthistoriker Edgerton darlegt, ausgerechnet und unerwartet im christlichen
Westen? Markierte, ja forcierte sie einerseits unrühmlich in politischen
Kulturkämpfen ein eurozentristisches Blickdiktat, das wo es sich (wie
im dubiosen Hudson-Test) als Lesekonvention partout nicht einstellen mochte
das Verdikt vermeintlicher >Unterentwicklung< nach sich zog, so erklärte
sich die "Entstehung der geometrischen Perspektive" nicht allein
wie Edgerton lange Zeit annahm dem "Erwachen der westlichen
Naturwissenschaften". Vielmehr gewann Edgerton die Überzeugung,
daß die "Zentralperspektive und alle ihre am Ende ja fensterartige
Nachkommenschaft" (S. 130) nicht allein wissenschaftlichem
Erkenntnisgewinn, sondern wie Edgerton am Beispiel
spätmittelalterlicher Mirakelspiele zeigt insbesondere zu Zeiten
Albertis einem Bedürfnis nach Optimierung geschuldet seien, nämlich
"wirkungsvoller mit verschiedenen anderen Medien mitzuhalten, denen es
gelang, ein Gefühl von der göttlichen Gegenwart zu vermitteln"
(S.131). Medienkonkurrenz beflügelte und steigerte demnach die
Mediationsleistung, versah sie zugleich mit einer gewissen Noblesse und
didaktisch verstärkt nutzbaren Potenzialen. Ob und inwieweit sich ein
meliorativer Status auch mit Gates'schen >Fenstern< verbunden denken
läßt, ist längst ein virulenter Streitfall aktueller
Mediendidaktik geworden.
Der Auszug der Zeichen und Zahlen aus den Büchern, ihr
Umzug in die Computer, in Verklanglichungen und Visualisierungen, ist der das
musiktechnologisch und -mathematische Thema quasi durchexerzerzierende,
borstige Soundtrack Friedrich Kittlers (S. 145-155) von Simon Stevins
mathematischer Formel aller wohltemperierten Klaviere zu Jimi Hendrix'
unmöglichst schwingenden E-Gitarren-Saitenklängen bis zu den
akustischen medientechnischen Simulationen unserer Ansagemaschinen und
Sprechautomaten. Und Weltbürgers Sang und Sphärenklänge einst?
Transnationale Produktion und vaterlandsloses Kapital
Der vierte, so ganz anders akzentuierte Teil, Arbeit und
Märkte überschrieben, nimmt die Perspektiven von
Beschäftigungslage und Direktinvestitionen im globalen Markt in den
Blick. So weist der Beitrag von Heinz-Peter Spahn (S. 181-191) darauf hin,
daß, mißt man den Grad von Globalisierung an gängigen
ökonomischen Parametern, sich "das heutige Ausmaß an
Globalisierung keineswegs [als] ein historisch neues Faktum [erweist].
Handelsanteile am BSP [Bruttosozialprodukt] oder Leistungsbilanzsalden waren
vor hundert Jahren in einigen Ländern sogar größer als heute.
Und die meisten Nationalstaaten mußten sich mit ihrer
Wirtschaftspolitik genauso an der Zinspolitik finanziell führender
Länder orientieren, wie das heute der Fall ist." (S. 181)
Hans-Michael Trautwein zeigt am Beispiel der Stuttgarter
Metall- und Elektroindustrie "Speerspitze des
Späth-Kapitalismus" (S. 194) die Folgen der Transnationalisierung
der Produktion auf, die die vormalige Identität der Exportnation
auflöst, indem sie "die Unterscheidung zwischen in- und
ausländischem Kapital in weiten Teilen der Welt für die Betrachtung
der Beschäftigungsentwicklung unwichtig" erscheinen läßt
und Marx' Diktum vom Kapital, das eben immer und überall ein
"vaterlandsloser Geselle" (S. 210) sei, in Erinnerung ruft. Die
Angst, die Globalisierungspolitik könne anstatt eine leisure class
situation für alle herbeizuführen, rasch zur Tragödie der
Wegrationalisierung, also zur Beschäftigungsfalle sich entpuppen, weil
überkommene Parameter industrieller Erwerbsarbeit im globalen
Arbeitsfeld nicht mehr greifen, wird eher zurückgewiesen.
Der veränderte Zustand der Globalisierung
läßt, so ergänzt auch das Statement Lothar Späths,
demnach zwischen beflügelnden Mega-Möglichkeiten einerseits und
gravierenden Verlust- und Einbuße-Ängsten andererseits schwanken,
um so mehr scheint es essentiell wichtig, seine janusköpfigen Szenarien
zu beleuchten, was dieser Band vielgestaltig und unaporetisch tut.
Kaufmannsweisheit und Bestialität der EinWelt
Ob ein Konstrukt wie "Welt-Bürgerlichkeit"
mehr als nur einen immer umstrittenen, eurozentrischen Maßstab, eine
ererbte Traditionsgröße mit oder ohne Zukunft noch oder wieder
bezeichnen darf, oder ob er nur die kaum verhüllte Kehrseite der ihm
stets immanenten Bestialität bezeichnet, die den aufklärerischen
Programmweg zur Weltbürgerlichkeit am Tor von Auschwitz abschneidet und
endgültig verabschiedet, auch das ist Teil der Untersuchungen zum
Verhältnis von Weltbürgertum einerseits und den Herausforderungen
der Globalisierung andererseits.
Von grundlegender, in philosophiegeschichtliche und
phänomenologische Dimensionen des Themas einführender Bedeutung ist
Raimar Zons' Beitrag "Weltbürgertum als Kampfbegriff" (S.
9-28), der neben den wichtigsten Entwicklungslinien des Kosmopolitismus
(idealistischer Universalismus, politischer Liberalismus, eschatologischer
Messianismus) auf den bislang verdeckten, eigentlichen Differenzbegriff des
Weltmarktes schon seit dem 19. Jahrhundert hinweist. ("Der
Differenzbegriff zu Weltbürgertum ist also noch einmal und deutlicher
gesagt, mitnichten Nationalismus.", S. 28) Der Differenzbegriff des
Weltmarktes wird hier weniger mit der Optik seiner inhärenten
Standardisierungstendenzen betrachtet als vielmehr als eine womöglich
strukturell stets Vernichtungswahrheiten schaffende Instanz. Unter
materialistischen Gegebenheiten scheint kosmopolitische Güte, in welch
idealisierter Verfaßtheit auch immer sie auftauchen mochte, vor dem
Hintergrund der widerstreitenden Phänomene des Händlertums, der
Geschäftswelt, des world business überhoben. Selbst bei jenem
Lessingschen >Herrn der Ringe< ist die kosmopolitische Botschaft zwar zur
morgenländischen Kaufmannsweisheit geronnen, doch bleibt
gewissermaßen folgerichtig, ihr Verkünder Nathan am Ende aller
Schlichtungsoffensive zum Trotz aus der neugestifteten Völkerfamilie
ausgeschlossen.
Historische Hintergründigkeit verfolgt im
Weltbürgerthema immer auch zwangsläufig Spuren hinüber zur
"[v]erteufelten Humanität". Zunehmend besetzt und
geglättet zum "Weltbürger und Weimaraner in gutmeinender
Absicht", liefert der Beitrag von Gert Theile (S. 29-41) die Geschichte
einer Verkehrung und schändlichen Inanspruchnahme. Die normative
Verkoppelung der sankrosankten Weltbürgeridee eines Johann Wolfgang von
Goethe drohte schon bald zur "Utopie des schönen Scheins" (S.
29) zu verkommen, mit ihr und an Goethes Intentionen vorbei, wurde die
Andachtsstätte Weimar zum "steingewordene[n] Gedächtnis der
deutschen Kultur-Nation, die ihre politische Nullität und den mit Jean
Paul zu sprechen >vollendeten Verlust des Himmels< mit deutsch
verdolmetschter Welt und Dichterideologie zu kompensieren versuchte" (S.
30) Goethes Ideal einer Weltbürgerlichkeit, einer "ort- und
zeitentbundenen Humanität" (S. 31), hatte schon während der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen beachtlichen
geisteskonjunkturellen Aufschwung genommen; es blieb dann jedoch am fatalen
Goethe-Kult kleben, wurde historisch und sozial dekontextualisiert und durch
die Akzentverschiebungen in der inflationär verbrauchten Begriffspaarung
von "Weltbürger und Weimaraner" ad libitum provinzialisiert,
um schließlich wie Theile anschaulich zeigt zur wohlfeilen
Worthülse umpräpariert, "die in ihr enthaltenen Abstrakta der
Geistlosigkeit und Bequemlichkeit" (S. 33) zu opfern.
Die darin unverbindlich und zugleich konsumierbar gewordene
Stilisierung zum >guten Menschen< versprach dem >Produkt< zwar globale Voll-
und Vielmundigkeit, aber eben auch jene immanente Aushöhlung und
Pervertierung durch inflationäre Schemenhaftigkeit zugleich: "Sie
merken: die Verwandlung von der liberalen kosmopolitischen Idee für eine
intellektuelle Elite zum Weltbürgertum als massenideologischer Begriff
führt unweigerlich zu jener Metamorphose, an deren Beginn ein waches
Interesse am Fremden und an deren Ende ein befremdend selbstgenügsames
>Erwachet!< steht." (S. 33)
Weltwanderer und Kontemplateure
Auch der Beitrag von Mihran Dabag (S. 43-70) hält den
Konnex von Genozid und weltbürgerlicher Absicht im Blick, wobei
"die Begriffe Weltgesellschaft, Weltkultur und Weltbürgertum
nebeneinander gebraucht und problematisiert" (S. 44) werden. Der
Weltbürger-Begriff umfaßt für Dabag drei nichtkongruente
Vorstellungen übergreifender Phänomene, die so heterogene Aspekte
wie die weltweite Informationsvernetzung, das Konstrukt ethischer und
zivilisatorischer Reife mit universeller Gültigkeit und das Faktum des
ortspolygamen, transnationalen Wanderers, dem "Offenheit für das
Allgemeine" (S. 43) attestiert wird, miteinander verknüpft. Nicht
der verbindliche übergreifende Wertekonsens, wie es das vorgängig
idealistische Weltbürger-Postulat nahegelegt hätte, sondern das
schlichte Faktum technologischer Vernetzung und Nutzungskompetenz verbindet
die Weltgesellschaft, in der "der Weltbürger einerseits
diskutierbar [ist] als Bürger dieser Weltgesellschaft, wie er
andererseits als ein von der Gesellschaft gelöster >Bürger<, der in
der Welt sein Zuhause findet, eben als Vertreter der Weltkultur entworfen
werden kann" (S. 44).
Steffen Dietzschs Beitrag versucht den Gelehrtentraum von
Europa am Beispiel des weltweisen Spaniers José Ortega y Gasset (S. 71-79)
aufzuzeigen. Die Formel vom >europäischen Haus< ist in der Tat nicht
erst Kohlsches Kanzlerwort, sie wird noch während des Ersten Weltkriegs
gefunden, wiewohl dieser, wie es zunächst den Anschein hatte, doch
gerade eine kosmopolitische Ära zu beenden schien. Ein Aperçu der
frühen Weimarer Republik brachte diese Skepsis lakonisch auf den Punkt:
"Im August 1789 beschlossen die Menschen Weltbürger zu werden. Im
August 1914 beschlossen sie das Gegenteil." (Theodor Lessing) Nicht nur
Ortegas Freund Julia Camba macht von der Formel europäischer Behaustheit
erstmals Gebrauch; auch einer der größten Vordenker Europas, der
Schriftsteller Heinrich Mann, hat sie um dieselbe Zeit, 1916 nämlich,
bereits geprägt und verwendet. In Dietzschs Darstellung seines
"Heranführen[s] an Europa" fehlt bedauerlicherweise nahezu
ganz die Physiognomie des Geistesaristokraten Ortega y Gasset in ihrem
bemerkenswerten Solipsismus, wenn er 1924 in einem elitären
Glaubensbekenntnis ("Cosmopolitismo") gegen den politischen
Internationalismus der Massen die "neue Solidarität der
>Asketen<", kurz: jene Noblesse eines "Kosmopolitismus der
Besten" anführt, womit er wiederum an einst Wielandsche
Logenbrüderschaft anschließbar wäre.
>Recutting the World< und Rauschen der Handys
Dem Thema der "Weltkommunikation unter neuen
Medienbedingungen" widmet sich Norbert Bolz' Beitrag (S. 81-88) im
Anschluß an Luhmanns Definition der Gesellschaft als
"Weltgesellschaft", deren Kennzeichen markiert scheint, durch
"das, was sich ergibt, wenn die Welt durch Kommunikation verletzt wird
und über Differenzen rekonstruiert werden muß. [...] Die
Kommunikation teilt die Welt nicht mit, sie teilt sie ein in das, was sie
mitteilt, und das, was sie nicht mitteilt." (Luhmann) Diese Einteilung
der Welt und ihr ständiges recutting the world (Richard N. Adams) durch
Unterscheidung in Mitgeteiltes und Nichtmitgeteiltes (er)schafft virtual
reality, der Gesellschaft genüge so entgegen Organisation und
Bürgergesellschaft allein "kommunikative Erreichbarkeit",
genauer "die Eine Gesellschaft der Weltkommunikation", ohne
länger noch des klarbegrenzten Schmittschen Staatenpluralismus', der
Erfahrung von Raum und Territorialität zur "Symbolisierung der
Grenze von Gesellschaft" (S. 83) bemüht, zu bedürfen. Die
entterritorialisierte, auf die Sinngrenze verzichtende Weltgesellschaft
verfüge infolgedessen über "kein Kollektivsubjekt und kein
geschichtsphilosophisches Projekt" (S. 84), politischer Vorstellungen
von den >Dimensionen größerer Einheit< sei sie mithin
überhoben. Sämtliche "Identitätsdiskurse kursieren als
Kompensation für den Universalismus der Weltkommunikation" (S. 86).
>Glokalisierung< wird hier schließlich als Ausweg angesichts immer
großräumigerer Präsenz durch >Ortspolygamie< bewertet, zumal
Kommunikationswahrnehmung die Weltwahrnehmung der Menschen selbst aus dem
Rennen wirft und der verunsichernden, allein mediengestützt
versichernden "Fernoptik in der Ethik" (S. 86)
überläßt. Die Welt ist, was Medienkonzerne wie CNN, Kirch
u.a. sie uns übermitteln macht.
Damit gerät in der Tat der überkommene, aber
beerbbare Weltbürger zunehmend aus dem Blickfeld, wenn alles sich nur
mehr um die "Lust an der Fortsetzung, um das Glück der
Anschließbarkeit" (S. 87) schert. Der allein existente
Netzbürger wird nicht zwangsläufiger als alle Prototypen vor ihm
zum Weltbürger, dazu rüstet ihn weder das "Ich bin drin"
einer "sociopleasure" (S. 87) noch der zu ertragende Ansturm von
Infotainment aus. Um den Weltbürger zu profilieren, bedarf es eben doch
"sozialer Medialität", die technische Medienkompetenz allein
nicht besitzt, die ihr abgeht? Jene Freiheit, die Bolz meint, als
"Inbegriff von Kommunikationschancen" (S. 87) und ständiger
Erreichbarkeit, ausweislich durch das ubiquitäre "Handlich" (=
"cellulare phone") gewährleistet, ist keine Bürgersache
mehr, aber auch längst nicht egalitäre Requisite, eher schon
ubiquitäre Teilhabe am Technoschrott in der Ära der
Weltkommunikationen, der die Verschrottungsvision der vorletzten Version
schon eingeschrieben scheint. (Pokémon-Weisheit!)
Ergo gilt: Die Welt zumal technisch gewinnen (oder gewonnen
haben), die Welt-Bürgerlichkeit indes verabschieden? Die längst
vollzogene "Exkommunikation des Bürgers" macht denn auch
Manfred Faßlers Beitrag (S. 89-107) in seiner Eröffnungsepistel
deutlich: "Bürgerliches ist in den Einflußbereich
medientechnologischer Fluchtgeschwindigkeiten geraten, in den Bereich
binärer Schaltungen und globaler Netzwerke. Welt entzieht sich
überlieferten Herkunftskulturen, auch der bürgerlichen. Sie
übernimmt jede Kultur ins Rauschen, in das Multiversum immer neu
gemachter und verteilter Räume und Zeiten. Vollendung, schon
deslängeren eine esoterische Floskel, wie Vollständigkeit eine
ideologische ist, wird zur Seite gewischt. Mediamorphosis,
allenthalben." (S 89) Das Todesurteil über die Welt-Bürger
wird verkündet: "Computervermittelte Kommunikation bricht den
langlebigen Megatrend des Bürgertums / des Weltbürgertums - auf dem
eigenen Gebiet. Denn Wissen, Information, Kommunikation, die ehedem satten
Bildungsqualitäten des Bürgers, sind medientechnologisch
ökonomisiert." (S. 90)
Der Alternative, die neben dem gebannten Blick auf die
Weltkommunikation auch das "Weltschweigen" kennt und
zuläßt, widmet sich der von Karl-Heinz Maurer übersetzte
Beitrag des Amerikaners William Rasch (S. 109-120), der den
universalistischen paulinischen Römerbrief als "Modell für ein
ähnliches rhetorisches Taktieren" der Aufklärer des 17. und
18. Jahrhunderts liest und auswertet, die nunmehr das europäische
Programm der Erziehung an die Stelle des einstigen universalen
Erlösungswillen einrückt. "Wie wir jetzt gerade im Begriff
sind, die Welt zu amerikanisieren Verzeihung , wie wir jetzt im Begriff
sind, den Segen universaler Menschenrechte, die in einem universell
gültigen Verfahren vernunftmäßiger Kommunikation entdeckt
werden, über den Globus zu verbreiten, sollten wir uns vielleicht dessen
bewußt sein, welche Unterschiede wir stillschweigend vertilgen, und
vielleicht sollten wir uns erinnern, daß die Universalität einer
kosmopolitischen Sprache notwendig auch von der Universalität eines
Weltschweigens begleitet wird." (S. 119f.)
Konkurrenzen und Kooperationen
Der Beitrag des Ökonomen Birger P. Priddats (S. 161-179)
benennt die sich im Zuge der Globalisierung ändernde Ordnung einer
"Raum-Zeit-Matrix" (S. 161). Der "Dynamik der
Weltwirtschaft" und deren Auswirkungen auf die
"Politikkoordination" gilt sein epistemologisches Interesse. Dazu
klärt er darüber auf, was Globalisierung in wirtschaftlicher
Perspektive meint und umfaßt. Ihre Koordinaten sind neben der
"Herausbildung weltweit standardisierter Konsumpräferenzen"
(S.161), die Bereitschaft zur Verkoppelung eigener vorhandener Ressourcen mit
wettbewerbsentscheidenden, innovativen Wissensressourcen und
übernehmbaren Systemlösungen anderer kompatibler Unternehmen, der
Ausbau und die Nutzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien,
die Installation und Akzeptanz eines globalen Kapitalmarktes als
Wirtschaftsmaßstab.
Die kulturelle Identität als >Wirtschaftsmacht
Deutschland< sei seinerzeit als ein "Schattenprodukt der
>Exportmacht<" gewonnen worden, deren Definitionsmacht aber in dem
Maße geschwunden, in dem das Kapital international geworden sei und
keine globale Firma mehr "eindeutig noch einem >Mutterland< zugeordnet
werden" (S. 162) könne. Globale Wertschöpfungsketten bildeten
ein neues Ordnungsmuster aus, "das nicht mehr mit den
nationalstaatlichen Konzeptionen vergleichbar ist, aber auch nicht mit reiner
marktwirtschaftlicher Konkurrenz", kurz es ergebe sich: "ein
Paralellprozeß von Wettbewerb und Kooperation: co-opetition" (S.
163). Die Beschleunigungsanforderung nach globaler Mobilität ziehe
unweigerlich die "Frage der Gestaltung globaler Ordnungspolitik oder
Politikordnungen" (S. 164) nach sich, sei es nun als supranationale
Baupläne bis hin zur Idee einer Weltregierung (Habermas) oder eine
Übernahme bislang nationalstaatlicher Segmente durch
Nicht-Regierungs-Organisationen oder auch private oder
privat-teilöffentliche Unternehmungen.
Mit anderen Worten: es besteht gerade angesichts der
stockend-langsamen Reaktionsgeschwindigkeit nationalstaatlicher Politik die
genuine Notwendigkeit zu Politik-Fusionen, analog zu den aus der Wirtschaft
bekannten Unternehmenszusammengängen ("political mergers and
networks", S. 163ff.). Die >Corporate identity< lasse sich nicht
länger aus nationalen Kulturressourcen beziehen, vielmehr und hier
scheint diese Konzeption an weltbürgerliche Toleranzideale und durch sie
erweiterte Performanzstile anschließbar gehe es nicht nur "um
die Respektierung ethnischer, religiöser und kultureller Differenz,
sondern vor allem um die Nutzung dieser Differenzen in Hinblick auf die
Integration und Nutzung der differenten Wissenspotentiale. [...] Neue
Werteordnungen werden innerhalb der großen Unternehmen eingeübt
werden. Hier bilden sich im >heimatlosen< Raum der großen
Organisationen, die überall auf der Welt >zuhause< sind, also
>staatenlos< neue Kulturformen heraus, die nirgendwo anders herausgebildet
werden. (S. 167) Die global enträumlichte und inkorporierte
Wirtschaftseinheit als kultureller Trainingsplatz für Eine
(Business)Welt nach dem Miniaturmuster des uns als Spielplatz Internet
zugänglichen Modells und transparenten Modus'?
Fazit
Der Sammelband Weltbürgertum und
Globalisierung markiert neue, faszinierende Denkrichtungen und
bezeichnet zudem noch immer eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten.
Neudimensionierte, wenngleich auch noch recht heterogen erscheinende
Überlegungen und Einsichten lassen sich aus dem fulminanten Repertoire
dieser ersten Sondierungen von Beziehungen, naheliegenden und neugedachten,
schon jetzt erkennen und ableiten. Und wo ließe sich ein Nachdenken und
Kompilieren besser und authentischer in Szene setzen und produktiver
fortführen als in Weimar?
Neben dem Service eines Personenregisters hätte sich
freilich zudem eine knappe biobibliographische Übersicht zur
Orientierung über die Beiträger optimierend ausgewirkt.
PD Dr. Sigrid Thielking
Universität Essen
FB 3: Literatur- und Sprachwissenschaften
Universitätsstr. 12
45117 Essen
Ins Netz gestellt am 12.06.2001
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