Tommek über Wolf / Sella-Sheffy: Anwendungen der Feldanalyse in der Literaturwissenschaft

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Heribert Tommek

Anwendungen der Feldanalyse
in der Literaturwissenschaft

  • Norbert Christian Wolf: Streitbare Ästhetik. Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771—1789. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 81) Tübingen: Niemeyer 2001. 566 S. Kart. DM 216,-.
    ISBN 3-484-35081-4.
  • Rakefet Sela-Sheffy (Raqqefet Sela'-Šefî): Literarische Dynamik und Kulturbildung. Zur Konstruktion des Repertoires deutscher Literatur im ausgehenden 18. Jahrhundert. (Schriftenreihe des Instituts für deutsche Geschichte, Universität Tel-Aviv 21) Gerlingen: Bleicher 1999. 223 S. Kart. DM 50,-.
    ISBN 3-88350-467-X.


Vor fast zehn Jahren legte Pierre Bourdieu sein umfangreiches Werk "Les règles de l'art. Genèse et structure du champ littéraire" (Paris 1992, deutsch: 1999) vor, das auf zahlreichen Vorarbeiten zur Analyse des kulturellen und literarischen Feldes aufbaut. Seitdem wurde der feldanalytische Ansatz in der Literaturwissenschaft zunehmend aufgenommen, so daß es nun Zeit ist, das Augenmerk nicht nur auf die theoretische Erörterung der Bourdieuschen Hauptbegriffe "Habitus" und "Feld", sondern auch auf die praktische Anwendung zu richten, wie sie u.a. die Arbeiten von Wolf und Sela-Sheffy unternehmen.

Sturm und Drang, die Entwicklung
der Nationalliteraturen und die Feldanalyse

Daß die Literatur des Sturm und Drang ein besonders geeigneter Gegenstand für die Feldanalyse ist, deren Interesse auf flexible Grenzziehungen (relative Öffnung und Schließung von sozialen Möglichkeitsräumen) und relationale Beziehungen (statt Substanzen) gerichtet ist, läßt sich zunächst mit dem Hinweis erklären, daß ab den späten 60er Jahren des 18. Jahrhunderts das literarische Leben in Deutschland eine zuvor nicht bekannte Eigendynamik erlangt: Ein konfliktträchtiger und neue Grenzen ziehender Umbruch findet statt, ausgelöst und getragen durch eine neue, junge Schriftstellergeneration, die sich regional und temporär gruppiert, wobei erstmals verschiedene literarische Fraktionen außerhalb des akademischen Bereichs mit ihren z.T. heftigen Debatten und Fehden, bei denen es um die Durchsetzung von neuen literarischen Ordnungsvorstellungen geht, aufkommen.

Diese sich in temporären Koalitionen niederschlagende horizontale Differenzierung und Dynamisierung des deutschsprachigen literarischen Feldes, das dadurch überhaupt erst als relativ-autonomes erkennbar und bestimmbar wird, ist wiederum innerhalb eines internationalen literarischen Kräftefeldes zu sehen, worauf Pascale Casanova in ihrer Arbeit "La rèpublique mondiale des lettres" aufmerksam gemacht hat. 1 Die Entwicklung der Nationalliteraturen, d.h. der verschiedenen nationalen Entwicklungspfade des literarischen Feldes, wird hier in einem dynamischen Verhältnis zur lang anhaltenden Dominanz des >universalen< literarischen Zentrums Paris gesehen. Das von Casanova eingeführte Modell einer "révolution herderienne" steht für die Grundlegung eines neuen Selbstbewußtseins der "eigenen" (hier: deutschsprachigen) Kulturleistung in Ablehnung einer (hier: französischen) Fremdbestimmung und kann zur Untersuchung von >literarischen Revolten oder Revolutionen< der kleinen, peripheren Literaturen gegenüber dominanten, zentralen Literaturen herangezogen werden.

Die beiden vorliegenden Arbeiten haben in diesem Zusammenhang jeweils ein markantes Anliegen: Wolf möchte Goethe als signifikante Figur, als >Gesetzgeber< und >Gründervater< der Autonomisierung des deutschen literarischen Feldes darstellen (in Analogie zu Bourdieus Interpretation der Stellung Baudelaires im französischen Feld, S.529); Sela-Sheffy geht es darum zu zeigen, daß die spezifische kulturelle Dynamik des späten 18. Jahrhunderts maßgeblich für die Entstehung einer deutschen Nationalkultur bzw. -literatur im 19. Jahrhundert gewesen sei.

Gestus und Stoßrichtung der Arbeiten

Wolfs Arbeit ist von philologischer und geistesgeschichtlicher Gründlichkeit geprägt bei gleichzeitiger literatursoziologischer Zurückhaltung und Bescheidenheit, auf die noch einzugehen sein wird. Diese Disproportion zwischen philologischem Arbeitsaufwand und literatursoziologischen Befunden ist aus dem Selbstverständnis und aus der Stoßrichtung der Arbeit zu verstehen. Anhand der Gründlichkeit der Arbeit ließen sich die unterschwelligen Kräfte und Voraussetzungen (das Universum von bestehenden Sehweisen, Urteilen etc.) aufzeigen, denen eine literaturwissenschaftliche Qualifikationsarbeit heutzutage unterliegt, zumal wenn sie sich einem der prominentesten Dichter deutscher Sprache widmet (davon zeugt allein schon der aufgeblähte Fußnotenapparat, der oft mehr Platz als der Fließtext einnimmt). Wolfs Arbeit ist in diesem Universum der vorhandenen Äußerungen zu Hause, sie nimmt ausgiebig Stimmen aus der Geistesgeschichte und der Goethe-Forschung auf und formuliert eine weitere unter ihnen. Andererseits hat diese Arbeit auch ein genuin eigenes Anliegen: Sie will eine neue Sichtweise anhand des Rückgriffs auf Bourdieus feldanalytische Fragestellungen vorstellen. Es ist diese Grundspannung zwischen Geistesgeschichte und Feldanalyse, die Wolfs Untersuchung (nicht nur unterschwellig) prägt.

Die Untersuchung von Sela-Sheffy ist dagegen deutlich vom Theorieinteresse und Gestus der amerikanischen Literaturwissenschaft geprägt: Charakteristisch ist der offene Umgang mit ihren Untersuchungsgegenständen. Die Verfasserin arbeitet an einem kultursoziologischen Problem, setzt sich mit verschiedenen Ansätzen auseinander, polemisiert teilweise gegen herkömmliche literaturwissenschaftliche Herangehensweisen, greift auf Bourdieu zurück, kritisiert und erweitert ihn aber auch durch Rückgriff auf den russischen Formalismus (Tynjanov, Jakobson) und vor allem auf Elias, der in der Arbeit stets als maßgebliche Instanz angerufen wird. Die Schreibweise ist teilweise essayistisch, mit ausgeprägtem Mut zum Risiko. Insgesamt hat das Buch den Charakter eines Arbeitsberichts, der an vorausgehende "Untersuchungen zur Funktion neuer kultureller Repertoires" 2, zum Beispiel "in der Ausgestaltung der modernen >deutschen Nationalkultur<" anschließt und auf anderen Gebieten wie der "Bildung und Verhandlung repräsentationaler Identitätskonstruktionen in der israelischen Kultur" (Klappentext) weitergeführt werden kann.

Wolfs Ansatz:
Goethe und die Autonomisierung
des deutschen literarischen Feldes

Die Hauptthese von Wolfs Arbeit lautet, daß die Entwicklung der kunst- und literaturtheoretischen Schriften von Goethe signifikant für den Autonomisierungsprozeß des literarischen Feldes in Deutschland sei. Da diese Bedeutung im Vergleich zu den Werken von Kant, Moritz und Schiller in der Literaturwissenschaft bislang zu wenig gewürdigt sei (S.5), gelte es, Goethes allmähliche Wende "vom Revolutionär in aestheticis [...] zum unzeitgemäßen Kritiker dieser Moderne", d.h. vom radikalen Angriff auf den Objektivismus des Schönen hin zum >Prediger< dieses Objektivismus differenzierter zu untersuchen und zu verstehen (S.8).

Die Autonomisierung des literarischen Feldes will der Vf. aber nicht als Geschichte der Auseinandersetzungen auf den >äußeren<, heteronomen Spannungs- und Konfliktlinien (Verhältnis zum Ökonomischen, zur politischen Macht [Hof], sozialstrukturelle Konflikte [z.B. aufstrebendes Bildungsbürgertum vs. ungebildetes Volk], etc.) thematisieren, sondern — wie auch der Titel der Arbeit nahelegt — als konfliktäre Entwicklung der immanenten, ästhetischen Dynamik des Feldes. Methodologische Rückendeckung erhält dieser Ansatz von Bourdieus Konzept der relativen Autonomie der Handlungs- bzw. Praxislogik der einzelnen Felder, so auch des literarischen Feldes. Bourdieu hatte mit diesem Konzept einerseits der auf eine Vulgärsoziologie abzielenden Kritik, daß die Soziologie dem Wesen und der Form eines Kunstwerks nicht gerecht würde, wenn sie von einem direkten Einfluß heteronomer, außerliterarischer Kräfte ausginge, Recht gegeben, andererseits aber der literarischen doxa widersprochen, daß die ästhetische, >innere Wahrheit< soziologischer Objektivierung per se entgehe. 3

Das Konzept der relativen Autonomie beinhaltet jedoch grundsätzlich die Bestimmung des jeweiligen Grades des Verhältnisses zwischen Autonomie und Heteronomie der im und auf das Feld wirkenden sozialen Kräfte: Bourdieus differenziertes Verständnis vom spezifischen, historischen "Übersetzungs- oder Brechungseffekt" der Felder, aus dem der jeweilige (Verteilungs-)Stand ihrer Autonomie innerhalb einer beständigen Auseinandersetzung mit heteronomen Einwirkungen zu analysieren sei, wird zwar vom Vf. zitiert (S.13), jedoch zugleich übergangen, wenn im Verlauf der Arbeit die >äußeren< Kräfte völlig abgekoppelt werden: So erscheint die Autonomie des literarischen Feldes weniger als Errungenschaft im Zeitmodus der longue durée, als gleichsam von Anfang an gegeben: Die Konfliktgeschichte, die die Untersuchung im Folgenden vorstellt, ist also eine rein immanente, d.h. sie spielt sich für den Vf. nur im Raum der ästhetischen Differenzierung bzw. Potenzierung durch zunehmende Selbstreflexivität ab.

Ausgehend von einem "von immanenten Kräften quasi beherrschte[n] System" (Vf. zitiert Bourdieu, S.4) wird so die Hypothese aufgestellt, allerdings nicht weiter belegt, daß einerseits in Deutschland eine wirksame Zurückdrängung des direkten Einflusses feldexterner sozialer Bedingungen stattgefunden habe (kursorischer Verweis auf die abgeschwächte Wirkung der Zensur aufgrund konfessioneller und territorialer Zersplitterung, auf den Wandel im Buchmarkt und die >Leserevolution< und auf die innere Differenzierung des Feldes in die Subfelder der >eingeschränkten< und der >Massenproduktion< spätestens ab 1790 [vgl. S.5]), andererseits daß die Entstehung differenzierter Theorien der ästhetischen Autonomie "auf einen fortgeschrittenen Grad des Autonomisierungsprozesses in Deutschland" verweise. Daher komme den ästhetischen Reflexionen eines Moritz, Kant, Goethe und Schiller in Deutschland "gegenüber dem zeitgenössischen westeuropäischen Diskussionsstand eine deutliche Vorreiterrolle" zu (S.4f.).

Daß dieser Ansatz nur eine Ebene des literarischen Feldes abdeckt und es daher problematisch ist, allein vom Stand der ästhetischen Reflexion auf den Stand der Autonomie des literarischen Feldes zu schließen, zeigt sich in dem implizierten Umkehrschluß, den der Vf. allerdings nirgends expliziert (obwohl er für die historische Feldanalyse von großer Bedeutung ist): Die Autonomie des deutschen literarischen Feldes sei am Ende des 18. Jahrhunderts fortgeschrittener als etwa die der englischen oder französischen Pfade. 4

Goethe schließlich komme bei dieser Vorreiterrolle eine entscheidende Bedeutung zu: Er "befindet sich von Anbeginn am Pol der größten Autonomie, ja konstituiert diesen erst durch seine am unmittelbaren Publikumserfolg ausdrücklich uninteressierte literarische Praxis" (S.5). Die spezifische Position Goethes sei durch eine relative Loslösung von und >Immunisierung< gegen die >Fremdeinwirkungen< zum ersten der religiösen Bestimmungen geprägt, die der Vf. zu Recht betont, zum zweiten der ökonomischen Verhältnisse, die der Vf. zu Unrecht mit nur ein bis zwei Sätzen thematisiert, schließlich von einer moralischen Indifferenz in dramaturgischen Belangen als "Kampfansage gegen dominante Traditionen der europäischen Ästhetik" (vgl. S.119).

Entsprechend dieser Prämissen möchte sich der Vf. auf epistemologische und theorie- bzw. diskursgeschichtliche Rekonstruktionen in Form von "breite[n] Kontextualisierungen" (S.124) konzentrieren, wobei er ausdrücklich "die >klassische< Autonomieästhetik von den lichten Höhen geschichtsphilosophischer Spekulation auf den Boden historisch-philologischer Konkretion" führen möchte (S.14). Obwohl die Abgrenzung von geistes- bzw. ideengeschichtlichen Ansätzen einer >Einflußphilologie< (vgl. S.23 u. S.173) nicht immer überzeugt, liegen die Stärken dieser Arbeit tatsächlich in der relationalen, differenzierten und philologisch umsichtigen Erörterung der Genese und Logik der ästhetischen Positionen, die das falsche Bild eines radikalen, auf individuelle >Erlebnisse< zurückgeführten Bruchs zwischen dem jungen, >rebellischen< und dem alten, >klassischen< Goethe ersetzt durch eine Darstellung der Kontinuität bzw. graduellen Umstellung ästhetischer Einstellungen (vgl. S.9), wodurch auch analog der deutsche Sturm und Drang als eigenständige Epoche >einzigartiger Genies< verabschiedet und innerhalb eines (europäischen) Geistes-Kontinuums gesehen wird (S.23).

Methodologische Überlegungen und Einwände

Aus feldanalytischer Sicht wird mit der philologisch konkret situierten epistemologischen Rekonstruktion jedoch nur ein erster und notwendiger Schritt vollzogen, der auf halbem Wege steckenbleibt, wenn er nicht durch einen zweiten Schritt des soziologischen Verstehens ergänzt wird. 5 Oder anders beschrieben: Das Verdienst von Wolf liegt darin, daß er mit philologischen Mitteln die für die angeführte Fragestellung richtigen Stellen freilegt und >anbohrt<. Der (nicht chronologisch, sondern methodologisch verstandene) zweite Schritt des soziologischen Verstehens basiert m.E. notwendig auf diesem ersten, er >durchbohrt< aber gleichsam die Werke, indem er Metabegriffe einführt und Erkenntnisse auf einer Metaebene der sozialen oder praktischen Logik anstrebt. Dieses Bestreben ist auch beim Vf. zu vernehmen (z.B. wenn er die Felddynamik mit Bourdieu innerhalb der strukturell verstandenen Kräftepole der Priester und Propheten versteht und den nachitalienischen Goethe zum Typ einer >etablierten Avantgarde< zählt [vgl. S. 9, S.75, S.316ff.]), es wird aber nicht systematisch durchgehalten (was allerdings auch nicht sein erklärtes Anliegen ist).

Die Illusio (im Sinne Bourdieus) 6 des Philologen zeigt sich etwa in der Vorstellung und in dem Befund eines "genauen kompositorischen Kalküls" Goethes (S.139): Dieser folge "streng den epistemologischen Prämissen" (S.46), Theorie werde vom Dichter in Literatur "verwandelt" (S.232, Fn. S.573). Es gibt also einen inneren Zusammenhang, ein unterschwelliges floating, das der Vf. nicht reflektiert und darüber hinaus selbst reproduziert: Eine für das Funktionieren des literarischen Feldes, zu dem ja auch der Literaturwissenschaftler gehört, zentrale Illusio besteht hier in der Homologie zwischen der Illusio eines genauen kompositionellen Kalküls des Dichters, deren genauen Rekonstruktion durch den Philologen und dem ästhetischen Theorem des "klassischen", in sich notwendigen Werkes (S.141, S.479ff.).

Dieses floating läßt sich durch Bourdieus, auf Wittgenstein zurückgehende, Unterscheidung von Regeln und Regelmäßigkeiten durchbrechen: 7 Selbstverständlich sind ästhetische Werke kalkuliert und komponiert, und selbstverständlich versuchen Dichter, ästhetische und epistemologische >Regeln< umzusetzen. Die Sozioanalyse, die in ihrer Rekonstruktion des sozialen Kräftefeldes nach den spezifisch-dynamischen Regelmäßigkeiten der literarischen Positionsnahme fragt, zielt aber auf eine andere, praktische Ordnung, die sowohl das sich im Text äußernde Anliegen, das mehr oder weniger bewußte >Begehren< umfaßt, als auch die Verschleierungsarbeit, das >Zudecken< anderer, objektiver Kräfte, die die literarische Produktion mitgeprägt haben. Dazu gehört auch, daß der literarischen Laufbahn, dem relativen Auf- und Absteigen in der vertikalen (Machtverhältnisse aufgrund des Volumens kulturellen und ökonomischen Kapitals), wie auch in der horizontalen Dimension (Ausdifferenzierung aufgrund des Mischungsverhältnisses ökonomischen und kulturellen Kapitals, das sich in einem Bereich der eingeschränkten und der Massenproduktion ausdrückt) eine eigene Logik zukommt. 8

Man hat es also mit einer doppelten Verzeitlichung zu tun: einerseits den individuellen (Lebens-)Zeithorizonten (die sich in der Entwicklung des literarischen Habitus niederschlagen), andererseits der historischen, objektiven Zeitachse des literarischen Feldes, eben dem relativen Prozeß der Autonomisierung, für den sich der Vf. ja gerade interessiert. Daß Wolf tendenziell von einer Deckungsgleichheit ausgeht (die Autonomisierung, d.h. zunehmende Selbstreflexivität der Dichtung Goethes, entspricht dem Autonomiesierungsgrad des literarischen Feldes) läßt sich z.B. daran erkennen, daß er als Zeitordnung für seine Analyse die Werkchronologie der Münchener Ausgabe "nach Epochen seines Schaffens" (S.14, Fn. 71) heranzieht und zumindest gelegentlich einen bestimmten zeitlichen Einfluß ausschließt (S.37).

Die Problematik der unterschwellig postulierten Deckungsgleichheit der Ordnungskategorien, der sich der Vf. aussetzt, obwohl er Barthes Warnung vor der "Verwechslung von zeitlicher Folge und logischer Folgerung" zitiert (S.15, Fn.76 ) 9, zeigt sich auch in anderer Hinsicht, wenn etwa zur Charakterisierung des historischen Möglichkeitsraumes literarischer Werke tendenziell die ästhetischen Klassifikationen Goethes ("einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl") herangezogen aber nicht übersetzt werden (vgl. S.323f.). Es ist nicht strittig, daß es hier Zusammenhänge gibt, jedoch sollte die Analyse des je spezifischen Verhältnisses von Habitus und Feld, dessen Ausdruck das literarische Produkt ist, darum bemüht sein, die verschiedenen Bewältigungsstrategien des Dichters, die in einem Wechselverhältnis mit der Autonomisierung oder Modernisierung des Feldes stehen, in allen ihren Brüchen, Umformungen, Verschleierungen, Ungleichzeitigkeiten wie auch Entsprechungen etc. zu verstehen, kurz: die widersprüchlichen und widerstreitenden Vektoren sozialer Praxis, die sich in der Literatur als spezifische Brennpunkte zeigen. Strategien der Polemik, der Distinktion und der konkurrierenden Überbietung (s.u.) sind erste Befunde, die aber noch relativ an der Oberfläche des sozioliterarischen Kräftefeldes verbleiben.

Die Entwicklung der ästhetischen Positionen Goethes

1. Sturm und Drang-Ästhetik

Die diachronen Querschnitte, die Wolf für seine Untersuchung der literarischen Autonomisierung vornimmt, sind gut gewählt:

  • 1771 / 72 (= Teil 1) steht für einen markanten Punkt der Sturm und Drang-Ästhetik. Hier konzentriert sich die Analyse auf Goethes "Rede zum Schäkespears Tag" (I.) und auf den Essay "Von deutscher Baukunst" (II.), mit dessen Veröffentlichung in Herders Sammlung 1773 der Vf. den eigentlichen Eintritt Goethes ins literarische Feld durch eindeutige Positionierung und Polemik sieht (S.129).

  • 1788 / 89 (= Teil 2) widmet sich der Genese der Ästhetik der deutschen Klassik. Hier steht im Mittelpunkt der Textanalyse der für die Einführung einer objektivistischen Ästhetik programmatische Text "Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl" (III.) und die Grundlegung der klassischen Ästhetik im Horizont der (spinozistischen) Naturwissenschaft und Kunstautonomie (Winckelmann, Moritz) (IV.).

Der erste Schnittpunkt korrespondiert mit einer gesamteuropäischen Wende, mit einer Modernisierung, die Foucault auf den Begriff der Epochenwende gebracht hat: Spätestens ab 1775 entwickelte sich aus der Krise der höfischen Repräsentation (>klassische< Episteme) ein geschichtliches Zeitalter und damit eine neue Dynamik der geistigen Auseinandersetzungen (vgl. S.39). Michel Delon hatte diese >Wende der Aufklärung< am Begriff der >énergie< festgemacht, der in Frankreich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine ungeahnte Konjunktur erfahren habe (vgl. S.38f.). 10

Dieser Begriff ist auch für die sogenannte >Genie-Bewegung< in Deutschland zentral — leider jedoch arbeitet Wolf nicht mit ihm. Man hätte ihn sozioanalytisch übersetzen, einen Begriff der >sozialen Energie<, die in der Zeit zu einem bestimmten sozialen Kapital akkumuliert und verausgabt (investiert) wird 11, einführen und damit den Blick analytischer auf die historische Öffnung eines Möglichkeitsraumes literarischer Autonomie wie auch auf die inneren Antriebe der >neuen< Dichter richten können, die diesen Freiraum den herrschenden Kräften abzuringen und zu verteidigen (Vf. spricht an einer Stelle von einem >ödipalen Aufbegehren< Goethes gegenüber Wieland, S.76). 12

Die Entstehung des literarischen Feldes läßt sich am Aufkommen von Wortführern einer neuen, selbstbestimmten literarischen Ordnung in Abgrenzung zur höfischen Repräsentation, zur moralisch-didaktischen Erbauung wie auch zur akademisch-humanistischen Poetik der standesbewußten >Kenner< (Magister) festmachen. Die "Inszenierung charakteristischer Subjektivität" in Goethes Shakespear-Rede (Kapitel I) ist gleichsam der erste Schritt auf dem Weg der Autonomisierung durch zunehmende "selbstreferentielle formale Verfaßtheit" (bis hin zum reflexiven Objektivismus), die als Hauptmerkmal der historischen Leistung Goethes gesehen wird (S.55).

Im Folgenden werden die historischen Kontexte des stark kodifizierten und Anfang der 70er Jahre bereits strukturell verfestigten Genie- und Originalitätsdiskurses (vor allem im europäischen Sensualismus, vgl. S:23ff. und passim, z.B. S.168) und die Abgrenzungen und Emanzipationsbestrebungen dieser neuen, am Subjekt orientierten Diskurse aufgezeigt (gegenüber der Disziplin und dem Systemzwang aus der Tradition der humanistischen Rhetorik und Regelpoetik [S.11, S.64], der rationalistischen und klassizistischen Aufklärungsliteratur [S.43, S.80] und ihrem internationalen [Voltaire] und nationalen [Wieland] Hauptvertreter [I, 4.2.f.], gegenüber der Religion [S.55ff.]).

Schließlich werden die neuen ästhetischen Textstrategien charakterisiert: Sie liegen allgemein in einer emphatischen Autorschaft (vgl. S.6), konkret in einer inszenierten Spontaneität (vgl. S.49ff.), einer auratischen Originalität bzw. Einbildungskraft verbunden mit einer starken Polemik (Kap. I, 4), ferner im ostentativen Anspruch auf >unmittelbare Erfahrung und Durchdringung der Wirklichkeit<, also auf >Natürlichkeit< und >Geschichtlichkeit< (vgl. Kap. I, 5).

Die neuen Strategien der >jungen Wilden< entstehen wiederum selbst in einer Konkurrenzsituation der symbolischen Produktion und unterliegen dadurch einer Eigendynamik der Überbietung und Radikalisierung (vgl. S.51, S.165). Die Absetzung bzw. >historische< Leistung Goethes im Verhältnis zu anderen Stürmern und Drängern sieht Wolf — ohne analytischen Nachweis! — in seiner "soziale[n] Herkunft und seine[r] daraus resultierende[n] dispositionelle[n] Selbstsicherheit" begründet (S.14). So emanzipierte er sich in seinem Schreiben radikaler einerseits von der Religion (als etwa Hamann, Herder oder Lenz), andererseits von den Vorgaben eines humanistisch-akademischen Legitimationsrituals (als etwa Young und Herder): In der Shakespear-Rede habe er daher die distinktive Stilisierung von Ursprünglichkeit und Authentizität, die Selbstreferentialität und die Vergötterung des kreativen Geistes als Instrument der Autonomisierung am weitesten getrieben (vgl. S.178ff.).

Die >Absetzung< der >Priester< durch die >Propheten< (S.74f.), d.h. die "Revolution im Feld der Ästhetik" manifestiert sich poetologisch in der Ersetzung der >fremden< (klassizistischen) Regeln des Schönen durch das charakteristische Verhältnis des Dichters zu seiner Schöpfung (vgl. Kap. II, 4). Die Verabschiedung der (aufklärerischen) Wirkungsästhetik durch die Produktionsästhetik des Sturm und Drang (188—195) läßt sich an den Stichworten der erörterten Hauptstrategien aufzeigen: Geschichtlichkeit, Natur, Kunst (Form). Die ins Feld angeführte Geschichtlichkeit und der organisch-charakteristische Ausdruck der Kunst (vgl. S.96—101), wodurch jeder normative, systematische Regelkanon abgelehnt wird — wie übrigens auch die "charakteristische" der "polierten Nation" entgegengesetzt wird (S.251ff.) — wandeln sich über die Bestimmung des >wahren Schönen< als sich prozessual bildende Wahrheit (S.230) zur Notwendigkeit der >inneren Form< als Übereinstimmung der >Natur< des Künstlers und der seiner Schöpfung, die schon auf den >intrinsischen Wert< des klassischen Werks vorausweist (vgl. S.255—260, 474—478).

Das komplementäre Verhältnis zwischen dem Dichter als Schöpfer und der Schönheit des Kunstwerkes durch den >inneren, organischen Zusammenhang< wird besonders in Goethes Baukunst-Aufsatz aufgezeigt (Kap. II). Hier beansprucht der Dichter eine >unmittelbare Erfahrung< oder sinnlich-erkennende >Durchdringung< des auratisierten Gegenstandes: Das Straßburger Münster wird nicht mehr als Kirchenraum, sondern als Kunstwerk wahrgenommen, dessen organische Schönheit auch das Häßliche als Ausdruck einer höheren Wahrheit umfaßt und den Betrachter in einen Zustand der Erhabenheit versetzt. Die "Andacht des Schreibers" deutet Wolf als soziale Strategie der Auratisierung in einem noch stark religiös disponierten kulturellen Umfeld (Kap. II, 3.3, hier: S.205).

Die bildende Kunst kann hier als Leitmedium für die Autonomisierung der Literatur dienen, da das >bildende<, produktive und innovative Kunstverständnis dem imitativen programmatisch entgegengesetzt wird (Kap. II, 4.1). Mit dieser Strategie wird nicht nur Ursprünglichkeit (>Natürlichkeit<, S.95, S.208) und eigenmächtige Kreativität des erhabenen Subjekts als selbst schaffende Natur (S.212, 245) beansprucht, sondern auch an der Umformung eines religiösen Glaubens hin zu einem kulturellen, d.h. zum immanenten Glauben an eine spezifisch ästhetische Kompetenz innerhalb eines eigenen Kunstraumes gearbeitet (S.188f.). Mit der Anlehnung an die bildende Kunst (hier der Baukunst) wird schließlich die für die spätere objektivistische Ästhetik wichtige Vorstellung der >inneren Form< des Kunstwerkes vorbereitet (vgl. die Überleitung zwischen Teil 1 und 2 zu "Aus Goethes Brieftasche", 1776), aus der sich die entscheidende Akzentverschiebung "vom Schöpfer zum Werk" entwickeln kann (S.242).

Diese Rekonstruktionen der Emanzipation der tradierten Ästhetik sind alle berechtigt und notwendig, nur hätten sie in ihrer sozialen Funktion und Logik noch weiter interpretiert werden können. Denn die Funktion des Traditionsbruches und der Inszenierung und Stilisierung von charakteristischer Subjektivität ist mit dem Hinweis auf Distinktion und Konkurrenz nur oberflächlich benannt. Darunter liegt eine Ordnung, die Bourdieu mit dem Konzept des >Epoche-Machens< (vgl. Regeln, S.249—257) zu fassen versucht hat: Alle Strategien der Avantgarde (hier: der Stürmer und Dränger) sind insofern an das Erbe der bislang herrschenden (poetologischen, religiösen, sozialen etc.) Ordnungen gebunden, als sie versuchen, für sie "Ersatz" zu geben 13: Der Anspruch auf die charakteristische "Natur" und "Wahrheit" ist eine zentrale Strategie derjenigen, die als >Novizen< nicht über das anerkannte (Bildungs-)Kapital der gelehrten Magister, des >ständischen< Dichters etc. verfügen und aus ihrer Not die Tugend der >Reinigung< des literarischen Ausdrucks durch einen vermeintlichen Rückgang auf die Ursprünge (Ossian, Volkslieder etc.) machen. Die beanspruchte >Totalität der menschlichen Natur< (etwa bei Shakespeare) erfüllt diese Funktion einer Ersatzordnung zur tradierten und ständisch-humanistisch reglementierten antiken Kunsttotalität.

Der Anschluß an die Untersuchung der klassischen, objektivistischen Ästhetik Goethes hätte also auch über die Frage verlaufen können, was es heißt, erfolgreich "Epoche" machen zu können im Horizont der longue durée, der relativen Persistenz einer Habitus- und Feldmetamorphose, die als Verzweigung und Verästelung des Stammbaums des Handlungsrepertoires des >ständischen Dichters< hin zu dem des >romantisch-freien Dichters< zu fassen wäre. Wolf konzentriert sich dagegen — der Anlage seiner Arbeit gemäß — auf die immanente Entwicklung der ästhetischen Positionen Goethes und kann im zweiten Hauptteil wichtige Kontinuitäten vom Ideal der charakteristischen und subjektivistischen Schöpfung des Sturm und Drang hin zum relbstreferentiellen, objektivistischen Werk der Weimarer Klassik aufzeigen.

2. Klassische Ästhetik

Kapitel III widmet sich dem programmatischen Text "Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl" (1789) als Kernstück "Goethes italienische[r] Ästhetik als Fanal des kallistischen Objektivismus" (Kap. III). Ausführlich werden die konzeptuellen Bestandteile der klassischen Ästhetik auf ihre Einflüsse und Differenzierungen hin durchleuchtet: Goethes Ideal sprachlicher Transparenz, Prägnanz und Strenge, die ihre Mühe der Überarbeitung nicht zeigen darf, kurz: seine Hinwendung zu einer neuen Art >geistigen Adels<, stand unter dem Einfluß Adelungs (Kap. 1.1), Wielands (1.2) und Winkelmanns (1.3). Wolf sieht in dieser Konzeption des klassischen Stils ein Medium >etablierter Avantgarde< (zu der er nun Goethe zählt), die sich "einerseits gegen den konventionellen Klassizismus mit seinem priesterlichen Gebaren, andererseits gegen den mittlerweile abgelehnten prophetisch-revolutionären Gestus der bürgerlichen Stürmer und Dränger" abgrenzte (S.326).

Die ausführliche Rekonstruktion der >Begriffsarchitektur< von "Einfache Nachahmung der Natur, Manier und Styl" (Kap. 2) erlaubt schließlich die "historische Leistung von Goethes Stil-Begriff" in der Substitution des herkömmlichen Idea-Konzepts durch eine neue Konzeption des >Styls< als Phänomen der Säkularisierung, Autonomisierung und auch Verwissenschaftlichung zu deuten. Der >Styl< steht für einen absoluten Begriff und für die höchste Steigerung der Erkenntnis innerhalb einer ahistorischen typologischen Grundlegung der Kunst (>einfache Nachahmung< als unreflektierte Subjektivität, >Manier< als reflektierte Subjektivität, >Styl< als reflektierte Objektivität, S.376). Dadurch erhalte die Kunst ein qualitativ neues Begründungsverhältnis, daß alle äußerlichen Legitimationsstrategien durch intrinsische Wertzuschreibungen verdränge (Kap. 3.3, hier S.408).

Auch diese Rekonstruktionen zeigen akribisch und überzeugend die innere Entwicklung von Konzepten, den geistigen Austausch und dessen Grenzen in jener Zeit auf, eben die "streibare Ästhetik" im Entstehungsprozeß der >klassischen< Position. Das Streitbare verbleibt aber in dieser Perspektive solange ein vergleichbar harmloses geistiges Spiel auf dem Weg der Autonomisierung, als nicht die Gegenprobe an den Konflikträndern der vermeintlich rein autonomen Tradierung und Auseinandersetzung gemacht wird.

Diese Möglichkeit einer Gegenprobe wird bei Wolf nur in unscheinbaren Nebensätzen oder in Fußnoten angedeutet, die da abbrechen, wo es hätte spannend werden können: So würde der Leser gern erfahren, wieso Goethe während und nach seinen Italienreisen die Disposition zu einer enormen Verschleierungsarbeit der (Sprach-)Arbeit, der Empfindung und überhaupt der Antriebe des Individuums ausprägt, wieso er sich das Ideal der höfischen Repräsentation nun aneignet und in eine spezifische Ästhetik umformt und wieso diese Dispositionen mit der Entwicklung des deutschen literarischen Feldes, also mit Positionen und Positionsnahmen eines Wieland, Moritz oder Winkelmann korrespondieren konnten.

Zur Beantwortung dieser Verstehensdefizite reicht es nicht aus, Goethes Einsicht in die ins Leere laufende Überbietungsstrategie der Sturm und Drang-Ästhetik anzuführen (vgl. S.324). Mehr Aufschluß über die Wandlung der ästhetischen Dispositionen hätte man erlangen können, wenn man Goethes sich wandelnde >Investitionen< bzw. Einstellungen zur eigenen Subjektivität (progammatische Verleugnung seiner selbst, vgl. S.358, S.477 14), zur Arbeit bzw. zum Ideal einer adligen Mühelosigkeit der Ästhetik (vgl. S.317f.; Verschleierung der Mühe hinter dem Ideal der "Grazie der höchsten Leichtigkeit" [Wieland, S.297] und Wertschätzung der Selbstdisziplin, der >Reinheit< der Erkenntnis [S.377] und des Aufschubs von Affektäußerung durch >Entsagung<), zum politischen Amt (Bitte um Befreiung von administrativen Verpflichtungen, was nicht weiter erörtert wird, S.321), zu den Anforderungen des literarischen Marktes und der Rezipienten (vgl. S.487f., Fn S.394, S.488, Fn. S.400: Problemstellung wird vom Vf. benannt, aber abgebrochen), zur ökonomischen Lage (einerseits "prekäre Finanzlage nach den hohen Ausgaben für die kostspielige Italienreise" [S.267], andererseits "ökonomisch auf den Publikumserfolg nicht angewiesen", S.323) in eine Beziehung gesetzt hätte, wobei dem spezifischen Brechungseffekt des relativ-autonomen Raumes des literarischen Feldes Rechnung zu tragen wäre.

So muß Wolf selbst als Defizit eingestehen:

Für die soziologische Motivierung der Entstehung des klassischen Goetheschen Stilideals (wie auch seiner klassischen Ästhetik insgesamt) wäre also eine eingehende Analyse der Konstellation des deutschen literarischen Feldes im Übergang vom Sturm und Drang bis zur Erscheinungszeit der Auszüge aus einem Reise-Journal erforderlich. Eine solche Rekonstruktion vermag diese Arbeit nicht zu leisten. (S.319f.)

Entsprechend stellt die Arbeit die Entwicklung der Autonomie des Feldes auf einer anderen Ebene als einen genau lokalisierbaren und eindimensionalen, d.h. ideengeschichtlichen Entwicklungsstrang dar: Der "spezifische[] Subtext seiner italienischen und nachitalienischen Ästhetik verweist [...] [auf den] Weimarer Spinozismus mit seiner eigentümlichen Adaption einzelner Sätze des niederländischen Philosophen" (S.512). Die Bestimmungen der inneren Vollkommenheit des Kunstwerks ohne Beziehung auf das Subjekt, der Uneigennützigkeit des Rezipienten und des Künstlers, d.h. die "völlige Entäusserung von aller Prätention" (Zitat Goethe, S.479), wird auf die Tradition der uneigennützigen Liebe des Quietismus und den spezifischen Einfluß von Spinozsas Ethik zurückgeführt (S.482).

Ebenso wird die "Analogie zwischen Spinozas schöpfungstheologischer Lehre des allein aus sich selbst existierenden, in sich vollkommenen (pantheistischen) Gottes [...] und dem säkularen ästhetischen Konzept des >in sich selbst vollendeten<, >sich selbst ganz aussprechenden< Kunstwerks", sowie die "affektdämpfende Wirkung, welche die Spinoza-Lektüre auf ihn hatte", in ihrer Vorbereitung der für das Spätwerk so zentralen Lehre vom Entsagen festgestellt (S.484). Feldanalytisch interessant ist die Beobachtung, daß in dem Ideal des >interesselosen<, >uneigennützigen< Künstlers bereits (und nicht erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts) "die >anti-ökonomische< Ökonomie der reinen Kunst" zum Tragen komme (S.487, Fn. S.392, Zitat von Bourdieu). Das >Interesse an der Interesselosigkeit< wird so zur Strategie der Immunisierung gegen ausbleibende Wirkung (etwa der >gereinigten< Iphigenie, S.488) beim Publikum. Der Mystifikation der literarischen Kompetenz (etwa in ihrer zweckfreien Bestimmung, in der Verschleierung des Objektbereichs des >Styls< und seines Verfahrensprozesses) stellt Wolf zwar fest, er destruiert sie aber nicht, sondern ist um deren Rekonstruktion durch Zuhilfenahme anderer Texte bemüht (Kap. IV).

Sela-Sheffys Ansatz:
Repertoire-Entwicklung und Strukturwandel
des deutschen literarischen Feldes
im ausgehenden 18. Jahrhundert

Der Rahmen, in dem sich Sela-Sheffys Arbeit bewegt, liegt in der Problematik der Evolution von Handlungsfeldern und der Konstruktion kultureller Repertoires. Für den ersten Bereich, der auf den Sozialraum und den sozialen Wandel abzielt, greift sie auf den Feldansatz Bourdieus zurück, korrigiert ihn aber zuweilen mit Elias' Zivilisationstheorie, insbesondere unter Rückgriff auf dessen Begriff der Formation. Bei der Analyse kultureller Repertoires, der auf den spezifischen literarischen Raum weist, geht die Vf.in über Bourdieu hinaus und bietet im Rückgriff auf den Formalismus und die Semiologie Tynjanovs, Jakobsons, Uspenskys und Lotmans Ansätze und Instrumente für die (sprachliche) Mikroanalyse.

Die Arbeit macht Ernst mit der beziehungs- und konfliktanalytischen Destruktion des Denkens in Substanzen. Gleich zu Beginn wird die Fluchtlinie der Untersuchung genannt, an deren Ende ein Produkt steht, das für das Denken in Substanzen, Identitäten und begrifflichen Entitäten par excellence zu stehen scheint: Die mit der Romantik aufkommende und im Verlauf des 19. Jahrhunderts sich ausprägende deutsche Nationalideologie sei weniger die Ursache eines deutschen Kanonisierungsprozesses, als seine Folge. Indem also das Begründungsverhältnis umgekehrt wird, richtet sich die Aufmerksamkeit auf eine konstitutive Vorgeschichte: Die literarischen Aktivitäten am Ende des 18. Jahrhunderts zielten nicht zielstrebig darauf, einen Begriff des >Deutschen< zu umreißen. Dieser sei umgekehrt das Produkt einer dynamischen Strukturierung eines neuen Feldes kultureller Aktivität und der Konstruktion eines neuen Repertoires an Praktiken durch junge deutsche Intellektuelle des Sturm und Drang und der Frühromantik, die sich dadurch eine elitäre Distinktion verschaffen wollten. (S.10f.)

Mit diesem Ansatz zeichnen sich zwei Problembereiche ab. Zum einen die soziokulturelle Figuration, die diese Evolution auf dem literarischen Feld ermöglichte, und ihre zentrale Rolle bei der Organisation der deutschen Kultur; zum anderen die Prozesse der Repertoirebildung, mit deren Hilfe literarische Transformationen bewerkstelligt wurden (S. 11). Die Analyse der literarischen Dynamik Deutschlands im 18. Jh. versteht die Vf.in also als Fallstudie zur Dynamik kultureller Felder, ihrer Repertoirebildung und Kanonisierungsprozesse, soweit sie die Evolution und Reorganisation solcher Felder betreffen (Teil II).

Zentrale Gegenstände der zu untersuchenden Dynamik sind von daher die Konstruktion eines neuen Elitemodells der Literaturproduktion, die Naturschilderung in der Kunstprosa und die Nobilitierung der Produktion literarischer Prosa im (Kunst-)Roman zum Idealfall kanonisierter Literatur (Teil III).

Methodenfragen

Die Arbeit ist durch ein ausgeprägtes Methodenbewußtsein geprägt. Ihr erster Teil widmet sich intensiv und engagiert den theoretischen Voraussetzungen und Abgrenzungen innerhalb der Literaturwissenschaft, hin und wieder am Rande der Polemik. Eine wichtige Abgrenzung betrifft die Ideengeschichte, die im Gegensatz zu Wolfs Arbeit deutlich konturiert wird, indem zum einen die Frage nach den habituellen Ressourcen, dem Ethos und der Lebensweise gestellt wird, die zur erfolgreichen Durchsetzung des Repertoires führen. Zum anderen sollen die (mehr oder weniger geschätzten) Werke in Beziehung zur spezifischen, lebensweltlich verstandenen Sozialstruktur und zum Institutionswandel im Zeitalter der (Früh-)Romantik in den Blick genommen werden (S.12f.).

Das Verhältnis von (lebensweltlicher) Sozialstruktur (hier wäre die Einführung des Milieu-Begriffs von Durkheim oder der Begriff der Vergemeinschaftung von Weber sinnvoll gewesen) und Repertoire kultureller Zeichen und Handlungen wird mit einer sogenannten >soziosemiotischen< Perspektive beleuchtet, die auf Bourdieu, aber auch auf Paul Di Maggio, sowie auf das Theorem des semiotischen Mechanismus der Kultur von Lotman und Uspensky zurückgreift (S.12f.).15

Sela-Sheffy unterscheidet zwischen dem sozialen "Rang" und den sozialen "Haltungen" (Habitus) bzw. "Ideologien" literarischer Akteure. Dazwischen vermittelt das Feld des kulturellen Repertoires, das ein Eigenleben führt (S.15; vergleichbar mit Bourdieus Raum des Möglichen kultureller Werke). Literatur wird als Aktivität verstanden und die Evolution der literarischen Praxis als Aneignung einer Repertoirekompetenz, die sich in einer bestimmten Wahl ausdrückt (wobei nicht ganz deutlich wird, ob die semiotische Wahl voluntaristisch oder strukturalistisch verstanden wird; von beiden Bestimmungen unterscheidet sich Bourdieus Konzept des praktischen oder sozialen Sinns und der inkorporierten Wahlverwandtschaften 16). Diese Repertoirekompetenz wiederum steht in einem sich gegenseitig regulierenden Wechselverhältnis zur Konstruktion einer neuen soziokulturellen Figuration (hier konkret am Ende des 18. Jahrhunderts: "die der deutschsprachigen Intelligenz der Mittelschicht." S.16)

Anders als Wolf spricht sich Sela-Sheffy ausdrücklich für die Analyse literarischer Dynamik anhand von Modellen der Lebensweisen und -entwürfe, Persönlichkeitstypen etc. aus (S.17). Es geht ihr um Modelle, die die sozioliterarische Energie der Akteure innerhalb eines Kräftefeldes analytisch zu fassen bekommen, wobei sie sich von denjenigen Literaturgeschichten abgrenzt, die in ihrer Darstellung der Werke und ihrer Schöpfer unter dem Zeichen der >naturgegebenen Einzigartigkeit< den Prozeß der Kanonbildung, d.h. die zugrunde liegende immense Kulturarbeit, verschleiern (S.19).

Im Rückgriff auf die russischen Formalisten und Prager Strukturalisten wird die Kontingenz, die Relativität und die Konstruktion des "literarischen Faktums" (Tynjanov) und seiner Wert-Besetzung betont (S.27). Im Zentrum dieses Ansatzes stehen die Begriffe "Repertoire-" und "Kanonbildung". Der Modell-Begriff der Repertoiretheorie versteht die menschliche Handlungsgenerierung als Konstruktion eines imaginären Regelkatalogs, "der für eine gegebene Situation eine bestimmte Anzahl Elemente (Praktiken oder Artefakte) generieren kann". (S.54)

Diese Bestimmung geht wohl nicht nur auf Chomskys generative Grammatik zurück, sondern korrespondiert auch mit den Konzepten Bourdieus zur Analyse kultureller Dynamik: mit dem "Raum des Möglichen [kultureller Produktion]" 17 und mit dem Konzept der doxa (als zugrunde liegendes System des Glaubens, der den Kulturgegenständen und dem legitimen Umgang mit ihnen gemeinhin entgegengebracht wird), die sich in einem sich durch ständige Definitionskämpfe zwischen >Priestern< und >Häretikern< um Grenzziehungen modifizierenden nomos äußert, in einem allgemein durchgesetzten Prinzip der Vision und Division des kulturellen Feldes, damit es als solches erkennbar wird (vgl. Bourdieu, Regeln, S.353—360).

Am Ende ihrer Arbeit deutet Sela-Sheffy an, wie sich das Konzept des Repertoires als Raum des Möglichen und das der Kanon-Bildung als besondere Wahl und Konstruktion operationalisieren lassen, indem sie u.a. "Repertoreme", das "Sujetinventar" und "Kompositionsmuster" in Natur- und Landschaftsschilderungen in deutschen Texten aus der Zeit des Überganges zum 19. Jahrhundert herausarbeitet (S.162f.).

Die Vf.in führt nun eine methodologische Abgrenzung und einen grundlegenden Problemkomplex im Zusammenhang mit dem "Kanon"-Begriff an: zum einen die Abgrenzung ihrer Prozeßanalyse von der >ideologischen< Herangehensweise derjenigen Positionen innerhalb der Kanon-Debatte, die versuchen, einen alternativen Kanoninhalt einzuführen (Teil I, Kap. 1). Dieses Bestreben halte weiterhin daran fest, daß es Artefakte gebe, die Hervorhebung verdienten (vgl. S.30). Unterstellt wird hier ein Streben nach kultureller Autorität durch die Inauguration eines alternativen Kanons (vgl. S.33). Diese Ideologie eines Gegenkanons stelle nicht mehr als eine Option des kulturellen Repertoires unter anderen dar. Der inhaltliche Kanon-Begriff verhindere schließlich, daß ein Begriff des Kanons als allgemeiner Mechanismus zur Regelung von Kultursystemen und gesellschaftlicher Evolution entwickelt werde (vgl. S. 30).

Der andere Problembereich betrifft das Verhältnis des hier verwendeten Begriffs der kulturellen Modelle (Repertoire, Kanon) und Bourdieus Habitus-Konzept (Teil I, Kap.2). Die Vf.in erläutert zunächst die vom russischen Formalismus erarbeiteten Grundlagen der Theorie kultureller Repertoires, deren Modellbegriff elementare semiotisch-funktionale Aussagen über Zeichensysteme im allgemeinen impliziert:

  1. Menschliches Handeln ist regelgeleitet, organisiert.

  2. Die Regelorientierung ist kulturell determiniert.

  3. Die Logik kulturellen Handelns auf der Ebene funktionaler Beziehungen ist durch abstrakte Begriffe (Modelle) erfaßbar (S.47).

Der in der Arbeit verwendete Modellbegriff referiert also allgemein auf Zeichensysteme und konkret auf Saussures Systemkonzept als verborgener Ordnung sowie Tynjanovs Konzept vielschichtiger und vieldimensionaler Systeme, und zwar zusammengefaßt auf ein dynamisches Relationssystem hin, das Wahlmöglichkeiten innerhalb eines Repertoires beinhaltet (S.48).

Das Repertoire-Handeln versteht die Vf.in als Systemwissen des Menschen als kompetentem Akteur. An dieser Stelle wird die soziale Kompetenz auf eine (formale) Zeichenkompetenz eingeschränkt, die hinter Bourdieus Begriff des sozialen Sinns und des Habitus insofern zurückfällt, als dadurch der breite Aspekt der inneren und äußeren Haltung semiotisch dominiert, d.h. letztlich die soziale Dynamik auf die Saussureschen abstrakten Merkmale der Identität und der Differenz reduziert und das komplexe Syndrom körperlicher und mentaler Einstellungen vernachlässigt wird.

Bourdieu, der selbst von den russischen Formalisten beeinflußt ist, hatte diese insofern kritisiert, als sie die literarische Dynamik letztlich allein im System der Werke bzw. der literarischen Fakten sehen und quasi von einem "Naturgesetz" der "Automatisierung" und "Entautomatisierung" ausgehen, in dem die Zeit dazwischen keine Bedeutung habe (Bourdieu, Regeln, S.321f.). Diese Kritik trifft allerdings auf die vorliegende Arbeit zur literarischen Dynamik und Kulturbildung nicht vollständig zu, da hier der textsemiotische Ansatz durch Elias' Zivilisationstheorie und insbesondere durch den dynamischen Begriff der sozialen Formation ergänzt wird.

Dem Habitus-Konzept als Transformationsprinzip zwischen sozialen Lagen und kulturellen Mustern (Lebenstile, Geschmack) wird grundsätzlich zugestimmt. Vorbehalte hat die Vf.in insofern, als Bourdieus Konzept "als verinnerlichter Komplex von Dispositionen [...] oft monolineare, invariable Effekte des sozialen Rangs auf menschliche Handlungen" impliziere (S.52). Dagegen hält sie einen mit Elias erweiterten Begriff, nach dem sich der Akteur gemäß verschiedener Figurationen seines Habitus verschiedener Repertoires bedienen kann, und geht also von einer relativen Autonomie der Repertoireoptionen aus.

Dieses Anliegen ist richtig, fällt aber wiederum hinter Bourdieu zurück, da dieser die habituellen Klassifikationsschemata der sozialen Wahrnehmung als inkorporierte soziale Strukturen einerseits in ihrer spezifischen Verzeitlichung (als Akkumulationsarbeit oder Aneignung von [z.B. Bildungs-]Kapital) versteht, die von der Verzeitlichung des Feldes selbst zu unterscheiden ist. Andererseits — seinem Konzept der Klasse entsprechend — bestimmt er den Habitus in bezug auf die Achsen der vertikalen Herrschaftsverhältnisse und der horizontalen Ausdifferenzierung der Kompetenzen und sieht diese dreidimensionale Differenzierung (vertikal, horizontal und zeitlich) für jedes relativ autonome Feld der sozialen Praxis vor. Daher fällt der Verdacht der Monokausalität und Einseitigkeit eher auf Sela-Sheffys (auf Elias zurückgreifenden) Ansatz zurück, insofern als bei ihr die vertikale Achse der Herrschaft in der Analyse des kulturellen Prozesses dominiert.

Dies zeigt sich schon an ihrem bevorzugten Gebrauch des Begriffs des "sozialen Rangs" und des "Elite-Masse"-Schemas, worin sich eine (keineswegs selbstverständliche) intellektuelle Sichtweise äußert. Konkret zeigt sich diese verkürzte Sicht darin, daß bei ihr das Aufstiegsstreben einer jungen Generation (Sturm und Dränger, Frühromantiker) als zentrale Motivation des kulturellen Wandels dominiert. Dabei wird nicht unterschieden, daß soziale Mobilität hin zu mehr Chancen der >Selbstverwirklichung< nicht unbedingt mit einem vertikalen Aufstiegsstreben (z.B. Goethes Karriere in Weimar), sondern auch mit einer horizontalen Mobilität in Richtung intellektueller Autonomie verbunden sein kann (z.B. Lenz, der kein Amt übernehmen wollte und das Aufstiegsmodell des >kreativen Verdienstes< innerhalb der von Klopstock konzipierten Gelehrtenrepublik favorisierte).

Ein weiterer Vorbehalt gegenüber Bourdieus Habitus-Begriff wird aus der Bestimmung des Repertoire-Begriffs im Verhältnis zu ähnlichen Konzepten kultureller Modelle entwickelt: Grundsätzlich geht es weniger um Erkenntnis, d.h. um inhaltliche Kulturinterpretation, als um Handlungsstrategien. Daher geht die Vf.in sowohl zu dem thematisch-modellierten Zeichensystemen Lotmans, als auch den Modellen der kognitiven Anthropologie als Organisationsprinzipien menschlichen Weltwissens und seinen Praktiken auf Distanz, weil sie sich noch zu sehr auf zugeschriebene Bedeutungen und nicht auf Handlungen konzentrieren (vgl. S.53). Vor dem Hintergrund dieser Distanz stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von epistemologischen Wissens- und Verstehensmodellen (denen sich tendenziell Wolf widmet) und dem Repertoire-Modell, dem es um die soziohistorische Erklärung der Werke (als Produkte von Handlungen) >im Prinzip< (funktional) und >in der Zeit< (dynamisch) geht (vgl. S.54).

Die bei Sela-Sheffy folgende (heuristische) Unterscheidung zwischen einer Generierungs- und einer (intellektuellen) Klassifizierungs- bzw. Interpretationskompetenz, die sich gegen eine Vermischung dieser Unterschiede in Bourdieus Habitus-Konzept richtet, ist sicherlich ein berechtigtes Anliegen. Heuristisch ist es sinnvoll einerseits zwischen unbewußten, inkorporierten Dispositionsschemata und Handlungsmodellen, die zur praktischen Nachahmung in der sozialen Zeit anregen, und andererseits ausdrücklichen Kodifizierungen, Interpretationsmodellen, Ideologien in einer akademisch-gelehrten Zeit, die nicht den direkten Anforderungen der sozialen Zeit unterliegen, zu unterscheiden.

Einerseits befindet man sich auf der Ebene der Aspiration und des praktischen Vollzugs oder der praktischen Verkörperung und Umsetzung von Normen und Regeln — andererseits auf der Ebene der Replikation (was bei den russischen Formalisten als >automatisierte Wiederholung< bezeichnet wurde), der Kodifizierung, der Legitimation und der Institution (vgl. S.173). 18 So läßt sich die These, daß sich aus klassifikatorischen Modellen keine generative Instruktionen ableiten lassen, etwa kritisch gegen die bei Wolf zu beobachtende Tendenz anführen, aus Goethes Klassifikation "Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl" Aufschluß über die Handlungspraxis im literarischen Feld zu erhalten.

Praktische Modelle können sich also verfestigen (relative Persistenz), obgleich ihre Interpretation einem ständigem Wandel unterworfen ist (und umgekehrt). Diese Einsicht geht auf Elias' These zurück, daß kulturelle Figurationen durch ständige Modellkonstruktionen stabilisiert werden, die auf Kombinationen generativer und klassifikatorischer Muster verschiedener Provenienz beruhen (vgl. S.62). Aber in diesen Kombinationen liegt gerade die Crux: So besteht auch die literarische Produktion aus klassifizierten Klassifizierungen, d.h. aus bewußten poetischen Ideologemen einerseits und unterschwelligen sozialen Kräften andererseits, die für ganz andere Ordnungen stehen (vor allem die spezifische Ordnung des Raums des Möglichen literarischer Werke und seiner Dynamik). Die von Sela-Sheffy verfochtene methodologische Trennung von >Handlungsgenerierung< und >Sinnkonstruktion< kann daher bei der Analyse von Literatur nur in einer ständigen Überprüfung ihres (Misch-)Verhältnisses zueinander bestehen, da ja die >Handlung Literatur< wesentlich aus zugeschriebenen Bedeutungen besteht (vgl. den Selbsteinwand, S.54, Fn. 37).

Die Entwicklung des literarischen Feldes
und das Aufstiegsstreben neuer literarischer Eliten

Sela-Sheffy legt in ihrer Arbeit das Augenmerk auf das literarische Feld in der deutschen Kultur des 18. Jahrhunderts (Teil 2) und schließlich auf das Verhältnis des Feldes zum literarischen Repertoire, hier insbesondere auf den Aufstieg des Romans im Übergang zum 19. Jahrhundert (Teil 3).

Sie benennt zunächst klar den Rahmen des literarischen Feldes um 1770, also die zwei grundlegenden sozialen Konfliktachsen: zum einen die Abgrenzung nach außen, gegen das "Welsche", das sich weniger auf die Franzosen, als auf das soziokulturelle Monopol der Oberschichten in Deutschland richtete; zum anderen die Abgrenzung untereinander, die Rivalitäten zwischen den verschiedenen Gruppierungen und einzelnen Individuen, "die in das literarische Feld investiert hatten, [...] um sich von einander zu unterscheiden:

Die Unterscheidung der Konfliktlinien erlaubt also, gleichzeitig von Kohäsion und Rivalität bzw. Dissens zu sprechen. "Das Streben nach >Deutschtum<, das in der Abgrenzung nach außen den gemeinsamen Nenner einer Gesellschaftsgruppe bildete, war in Wirklichkeit eine Form des Kapitals, das in literarischen Fehden auf dem Spiel stand. Die >patriotische< Revolution des Sturm und Drang opponierte in erster Linie nicht gegen die höfisch geprägte gute Gesellschaft, sondern konkrete literarische Autoritäten [...] wie Gottsched oder Nicolai. (S.20)

Anschließbar an die von Wolf aufgezeigte Kontinuität innerhalb der Entwicklung der ästhetischen Positionen Goethes erkennt auch Sela-Sheffy eine Kontinuität zwischen dem Streben nach >deutscher Authentizität< (1770er und 80er Jahre) und der, wie sie es nennt, >l'art pour l'art< der Klassik, die eine zunehmende Anerkennung der Eigengesetzlichkeit des Möglichkeitsraums literarischer Werke (Repertoire) impliziert, dessen wichtigste Erneuerung die Vf.in in der Konzeption des Romans als Kunstform sieht (S.21).

Die Dynamik der Ausdifferenzierung des literarischen Feldes im Verhältnis zur allgemeinen soziokulturellen Gesellschaftsstruktur wird vor allem am Aufstieg einer neuen intellektuellen Elite der Mittelschicht und in der Förderung eines neuen kulturellen Ethos festgemacht (Teil 2, Kap. 3). "Zur Formierung dieser sozialen Gruppen kam es in Konkurrenz zum Reichtum und Stolz anderer soziokultureller Gruppen, die denselben Raum beanspruchten — das ländliche, französierte Großbürgertum und der Hofadel", die bislang die sozialen Aufstiegschancen der neuen bürgerlichen Gruppen blockiert hatten (S.16). So sei die Gruppenbindung des Sturm und Drang (vgl. Nicolais Sekten-Vorwurf) relational als gemeinsames Gefühl kultureller Minderwertigkeit bzw. Abwertung gegenüber dem Adel und gegenüber der zeitgenössischen bürgerlichen Figuration zu verstehen (S.78).

Die Dichter gelten also in der vorliegenden Studie als Hauptakteure bei der Neuformierung der sozialen Machtverhältnisse in jener Zeit (vgl. S.71), ohne jedoch die Frage nach der Repräsentations- und Integrationskraft dieser >neuen Elite< im zersplitterten Deutschland zu stellen. Die (chronologischen) Brennpunkte der Geschichte des Feldes zwischen 1770 und 1800 werden an den Stürmern und Drängern als Initiatoren des "romantischen Trends" und an den darauf folgenden Frühromantikern als subversive Jugendbewegung gegenüber der literarischen Autorität der "Weimarer Schule" festgemacht, die — aufgrund der >Vorarbeit< der Stürmer und Dränger — schon als Mitglieder einer selbstbewußten Elite agieren konnten (vgl. S.71). Die Ursachen für diese selbstbewußte Bewegung liegen in der neuen Faszination (Dichtung als Verheißung eines neuen gesellschaftlichen Aufstiegsfeldes) und im Strukturwandel der literarischen Tätigkeit und seinen Folgen für die Reorganisation der Lokalkultur (vgl. ebd.).

Die "Charakteristika und spezifische Position des literarischen Feldes in der Lokalkultur" (Kap. 3.1.) sieht die Vf.in in den Ambitionen der temporär sich gruppierenden bürgerlichen Elitefraktionen auf sozioliterarische Mobilität (S.72). So sei z.B. der Werther weniger von einer Adelskritik, als von einer "Ernüchterung bürgerlicher Kulturkonfiguration" geprägt (S.73). Das literarische Feld mit seiner spezifischen Balance zwischen ökonomischen Profiten und kultureller Gratifikation erscheine am Ende des Jahrhunderts den jungen gebildeten Akteuren als Feld der Aufstiegschancen.

Diese These der sozialen Mobilität der Stürmer und Dränger und mehr noch der Frühromantiker vermittels literarischer Produktion hätte man differenzierter begründen und nachweisen können mit der These einer Öffnung des kulturellen (literarischen) Möglichkeitsraumes durch einen Generations- bzw. (kulturellen) Elitewechsel, der sich nicht nur als Krise der Repräsentation des Höfischen, sondern auch als neuer, lokal fragmentarisierter Freiraum (innerhalb des insgesamt noch wenig institutionalisierten kulturellen Raums) für neue Entwürfe der kulturellen Repräsentation des Bürgerlichen äußert. Die relative Schließung dieses Möglichkeitsraums wäre dann als neue Aneignung bzw. Umdeutung der höfischen Repräsentation zum (autoritär-normativen) Ideal einer klassischen Dichtung zu bestimmen gewesen (wozu Wolfs Arbeit ausreichend Material liefert).

Neue >Investitionen< und die Veränderung
des literarischen Repertoires

Die Ausgangssituation vor dem Strukturwandel der >Institution Literatur< im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ist zum einen von einem klassizistischen Kanon, zum anderen von der Entwicklung der Marktkräfte und der beginnenden literarischen Massenproduktion bestimmt (S.80). Die Kohäsion der Stürmer und Dränger schließt nicht ihre ambivalente Positionen sowohl im sozialen Raum als auch im literarischen Feld aus, sondern gründet sich vor allem auf der Ausgangsbestimmung der relativen Marginalität im Literarischen (S.82) und auf das oben schon angeführte Gefühl der kulturellen Minderwertigkeit und Abstufung.

Diese >Not< der >Novizen< im ständisch dominierten literarischen Feld (hier wäre die Einführung der Begriffe des >ständischen< und des >freien< Schriftstellers von Haferkorn und die Untersuchung der Verflechtung bzw. des Nebeneinanders dieser Formationen sinnvoll gewesen) wurde umgewertet und erfolgreich durchgesetzt als >Tugend< des Lokalen und des >leibhaft< Anwesenden. Die Stürmer und Dränger >investierten< also in ein scheinbar >äußerliches< Kapital als ernstzunehmende Alternative zu den bisherigen (ständisch-magistralen) Macht- und Hierarchiestrukturen innerhalb des literarischen Feldes. Sie präsentierten sich selbst (emphatische Autorschaft, Apotheose des literarisch-prophetischen Berufs, S.84) und ein neues kulturelles Ethos des Authentischen, Wahren, Natürlichen, das sich in einer Emphase lokaler Identität und Handelns äußerte (S.83).

In diesem Zusammenhang erklärt sich auch, daß das Streben nach einer charakteristischen >deutschen< Kultur bzw. Literatur keinem >ursprünglichen Nationalismus<, sondern — im Gegenteil — einem Kosmopolitismus entsprang: einer internationalen Konkurrenz (wie sie Casanova untersuchte), die schon ab dem 17. Jahrhundert dazu führte, daß die in den kanonischen Sprachen und Literaturen versierten Gelehrten bestrebt waren,

zu Europas vornehmer Kultur zu zählen und [...] eine eigenständige Version desselben klassizistischen literarischen Repertoires auszubilden, wie es in dieser Kultur vorhanden war, und es an Renommee und Finesse mit ihm aufzunehmen. (S.86)

Hier wird also die von Wolf rein epistemologisch nachgewiesene Kontinuität des europäischen Diskurses von Sela-Sheffy sozioanalytisch weitergeführt. So sieht sie die neu eingeführten Werte und Klassifikationen (hier: des >charakteristisch Deutschen< oder der sich totalisierenden Selbstreflexion) nicht als radikalen Bruch, sondern als Kontinuität, als Ersatzgabe für eine geerbte Ordnung innerhalb eines spezifischen sozialen Tausches, die anerkannt wurde, also sich durchsetzen und Epoche machen konnte.

Die Strategie dieser Bewegung vom nicht in erster Linie geographisch, sondern hinsichtlich des Grades der Konzentration sozioliterarischer Chancen verstandenen Peripheren zum Zentrum des literarischen Feldes, die gerade das Außenseitertum als Aufstiegsvehikel anführt, liegt vor allem in einer sowohl bei den Stürmern und Drängern als auch bei den Frühromantikern erfolgreich angewendeten und durchgesetzten Mystifikation literarischer Kompetenz (S.84), die noch beim ständischen Dichter klar und distinktiv zu bestimmen war. Diese zunehmende Anerkennung der literarischen Kompetenz als einer spezifischen ist ein deutlicher Indikator für den Strukturwandel im literarischen Feld, der die Trennung von literarischem Prestige und sozialer Position, die noch beim ständischen Dichter unmöglich war, erlaubte. Dagegen trat eine neue Ausschlußlogik auf. Das neue, relativ-autonome symbolische Kapital als Ausdruck kultureller Macht behielt sich eine kleine Gruppe von >Auserwählten< vor (S.83).

Für die Auflösung der ersten Gruppe der >Auserwählten<, der sogenannten Straßburger Genie-Gruppe führt die Vf.in nur eine kurze Erklärung an. Die Mitglieder mußten sich ihren Platz in der Gesellschaft suchen und die >Spielregeln< in der noch herrschenden höfisch orientierten kulturellen Konfiguration akzeptieren. Allein Lenz' Scheitern, der dieses neue Modell >dichterischen Naturells< in seinem Leben radikal zu verwirklichen suchte, sei ein Beweis dafür, "daß ein solcher Lebensentwurf damals nur als literarisches, hoch hypothetisches Modell denkbar war. Es könnte sogar als Beispiel der Verkennung des kulturellen Repertoires und der damals verfügbaren Optionen herhalten. Heute kann man Lenz als Bohémien sehen, der seiner Zeit voraus war, als Vorboten eines Lebensstils, der später ein elitärer — und recht ergötzlicher — Habitus werden sollte. In den Augen seiner Zeitgenossen war er jedoch ein erbärmlicher, jämmerlicher Versager". (S.89)

Die Schlüsselfunktion der Kanonisierung des Romans

Im Folgenden wird die Entwicklung des Romans als Schlüsselinstanz im Kanonisierungsprozeß, als paradigmatische Illustration der neuen Institution einer >universalen< Dichtung im Horizont der Herausbildung einer modernen deutschen Intellektuellenkultur untersucht (Teil 3). Dabei vermißt man jedoch den Vergleich zur Bedeutung des Dramas und des Dramatischen für die vorausgehende literarische >Revolution< des Sturm und Drang.

An erster Stelle stellt sich das Problem des Populären bzw. die rigide, ahistorische Unterscheidung zwischen dem >Unterhaltungsroman< und dem >Kunstroman< als wichtiges Ordnungsprinzip für das literarische Feld (S.97). Analog zu ihrer These zur Entstehung des emphatischen Begriffs der >deutschen< Kultur sieht die Vf.in die Kategorie des Trivialromans am Ende des 18. Jahrhunderts weniger in der realen öffentlichen Nachfrage verwurzelt, als im intellektuellen Machtkampf um den literarischen Kanon bzw. um ein exklusives literarisches Feld (S.99). Denn die grundsätzliche Unterscheidung (Kunst- vs. Unterhaltungsroman) 19 sei bei den zwischen 1765 und 1790 erschienenen Romanen prinzipiell noch nicht berechtigt, vielmehr sei nach den verschiedenen Assoziationen und Verwendungsweisen des >Populären< im Roman (z.B. im Werther) zu fragen (S.119, S.133).

Schließlich müsse auch danach gefragt werden, wann, warum und wie der Trivialroman zu einem literarischen Faktum bzw. Problem wurde (S.133). Die Kontroverse um den um 1800 erstmals deutlich vom Kunstroman unterschiedenen Trivialroman habe schließlich direkte Auswirkungen auf die Umstrukturierung der zeitgenössischen literarischen Elite (Bewegung der Frühromantiker) gehabt (S.124), die sich auch als Legitimationsversuch einer exklusiven literarischen Produktion, der Kanonisierung des Romans als kunstliterarischem Genre par excellence bei gleichzeitigem Ausschluß des Trivialromans begreifen lasse. So wird das Aufkommen des Problems des Trivialromans nicht in erster Linie auf das Aufkommen von Massenproduktion oder Lesewut zurückgeführt, sondern auf eine Bedrohung der exklusiven Produzenten durch andere Produzenten der Öffentlichkeit (S.138).

Das Verhältnis der neuen, kleinen literarischen Elite der Frühromantiker zum Feld der Massenproduktion sei dialektisch zu bestimmen. Einerseits habe sie sich Distinktion verschafft, indem sie die Gesetze des Marktes bewußt mißachtet habe, andererseits ruhe ihre kulturelle Macht als exklusive Elite gerade auf einer breiten Basis, die sie als distinguiert akzeptiert habe. So führt Friedrich Schlegel etwa im Athenäums-Fragment 275 oder in der Eröffnung seines "Brief[s] über den Roman" (1800) die selbstbewußte Distinktion der Literarität gegenüber der Quantität und Eingängigkeit an (S.139f.).

"Am Ende des Jahrhunderts hatte sich die Vorstellung eines reziproken Verhältnisses von literarischer Qualität und öffentlichem Geschmack durchgesetzt und wurde von der Literaturtheorie rationalisiert." (S.141) Dabei bezogen die Sachwalter literarischer Autonomie ihre Legitimation immer noch aus dem klassischen Kanon allerdings unter neuen Vorzeichen: zum einen der Abweichung vom Marktprinzip, zum anderen der Unverständlichkeit für ein breites Publikum, die Schlegel zu den apriorischen Eigenarten echter, universaler Naturen bzw. Poesie erklärte.

Die Kanonisierung des Romans um 1800 beruhte wesentlich auf zwei korrespondierenden Strategien:

  1. auf der Konsolidierung des bestehenden Kanons, also auf der Bewahrung der (antiken) Tradition durch einen grundlegenden Appell an universale kanonische Formen (S.141—143 an Beispielen aus Schlegels Fragmenten zur Bestimmung des Romans);

  2. auf der Antizipation eines neuen Kanons, und zwar genau so, wie auch schon die Stürmer und Dränger für eine neue Ordnung der >charakteristischen deutschen< Dichtung eintraten. Im Kern setzte die von den Frühromantikern am Ende des 18. Jahrhunderts verfolgte Bestimmung der Dichtung auf eine >verborgene Eigenlogik< (Schlegels "progressive Universalpoesie"), auf die Vorstellung einer >Essenz der Poesie in Prosa< im Gegensatz zur >künstlichen Oberflächlichkeit< (S.145).

Ein weiteres Merkmal betrifft die Entreferentialisierung der Dichtung, wie sie sich etwa bei Blankenburg beobachten läßt, wenn er den Roman als Ausdrucksweise der Moderne dem Epos als >natürlicher< Ausdrucksweise der Antike gleichsetzte, wodurch er sich nicht mehr in erster Linie durch referentielle Gattungsqualitäten auszeichnen mußte (im Gegensatz zum Drama und der Lyrik in jener Zeit, S.146). In Schlegels und Novalis Vision wurde der Roman bzw. das Romantische zum kanonischen Paradigma der Poesie par excellence, aber nicht als spezifisches literarisches Modell, sondern als Leitidee oder Organisationsprinzip (S.147). Der romantische Theorieentwurf wertet die Vf.in folglich als letzte und extremste Phase im Auflösungsprozeß der Poesie als formaler und praktischer Einheit. Fortan diente sie nur noch als wirkungsmächtiges Konzept und Bild, als Manifestation >reines Wesens<, genau wie der romantische Kulturbegriff allgemein (S.149).

Als Beispiel für die produktive methodische Unterscheidung zwischen generativen und klassifikatorischen Modellen kann die Vf.in nun die Unbrauchbarkeit des Romanbegriffs für die generative Modellbildung (abstrakter Romanbegriff vs. faktische Romanproduktion) feststellen, woraus sich zeige, daß das Interesse der Theorie der Romantiker nicht auf das Feld der literarischen Massenproduktion gerichtet war, sondern ausschließlich auf dem intellektuellen Feld Gültigkeit beanspruchte, wo seine Zugänglichkeit durch Mystifikation auf die Mitglieder dieser Zirkel beschränkt wurde. "Regulierungscodes" waren also zum einen das "Rätsel der Poesie" als Ausschlußmittel und zum anderen die dezidierte Verachtung von Marktinteressen bzw. "Materialismus", wie in einer Fußnote ergänzt wird (S.150, Fn. 68), wobei dieser Aspekt in der Untersuchung leider zu kurz kommt. Dieser hermetische Literaturbegriff hatte bei der Umstrukturierung des deutschen intellektuellen Feldes Ende des 18. Jahrhunderts eine entscheidende Funktion, die die Bildung eines originär deutschen Kanons forcierte (S.151).

Im letzten Kapitel der Arbeit wird die Repertoirekonstruktion als Mittel der Umstrukturierung des literarischen Feldes im Gegensatz zum Vorhergehenden durch Mikroanalysen bestimmt. Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang das Aufkommen von Natur- und Landschaftsschilderungen als literarischen Verfahren bzw. faktischen literarischen Handlungsmodelle in jener Zeit genannt (im Gegensatz zur oben untersuchten Bildung des abstrakten Roman-Konzepts), die die Vf.in in ihrer distinktiven Funktion der Markierung von Literarität (>Kunstcharakter<, Raffinesse, geistreiche, schöpferische Tiefe) interessiert (S.156—161).

Um 1800 läßt sich in den avantgardistischen, romantischen Prosaerzählungen das Aufkommen eines neuen Typus' der Naturschilderung im Gegensatz zur tatsachenorientierten Landschaftsbeschreibung feststellen (dazu gibt es exemplarische Textausschnitte im Anhang). Die nachfolgende Analyse von >Repertoremen< ist weder auf Eigenschaften, noch auf abstrakte Optionen, sondern auf konkrete Textproduktionsnormen gerichtet, die den literarischen Status der Texte markiert, in denen diese >Normen< zur Anwendung kamen. So lassen sich bestimmte Naturbeschreibungen in Prosa als entreferentialisierte Textzonen beschreiben, die wiederum als Signifikanten der romantischen Kanonizität fungieren (S.162—167).

Nach der Beispielanalyse stellt sich die Frage: "Wie implementieren Autoren ihren Texten Signifikation nach Maßgabe ihrer jeweiligen Positionen auf einem gegebenen Feld? Anders gefragt: Wie wird Einverständnis über die Bedeutung solcher Texte erzeugt?" (S.167) Die Selbstverständlichkeit der Verarbeitung (lyrischer) Naturschilderungen besteht im >Stil< des Textes (nicht zu verwechseln mit Goethes >Styl<-Konzeption). Dieser Stil ist in der Naturschilderung durch eine strukturelle Linerarität, in einer Unterordnung unter die Figurenperspektive (Subjektivierung) und in entreferentialisierten Textzonen bestimmt. Mit Rückgriff auf Jakobsons Begriff der poetischen Funktion haben diese Stilelemente eine sekundäre Signalfunktion, die auf die Poetizität verweist (im Gegensatz zu Textzonen mit referentieller Funktion), so daß bestimmte Segmente lyrischer Naturschilderung die institutionelle Zugehörigkeit der Texte markieren (S.168).

Die Frage der Verfügbarkeit dieser funktionalen Repertoires führt zurück auf die Rolle der Naturlyrik in der deutschen Dichtung im 18. Jahrhundert und den langsamen Ausbildungsprozeß der Vorliebe für Natur- und Landschaftsschilderungen. Dabei waren insbesondere die kleinen, populären und zugleich klassischen lyrischen Formen in der — hinsichtlich ihres Renommees im literarischen Feld — Grauzone der Almanache für die Distinktion und die Wertschätzung der Prosa geeignet, die diese lyrischen Formen adaptierte (S.169—173). Diese >Naturalisierung< der lyrischen Konventionen in Prosa-Erzählungen läßt sich auch im Repertoire des Beschreibens der zeitgenössischen Reiseberichten beobachten (S.177—182).

Fazit

Die Arbeiten von Wolf und Sela-Sheffy zeigen, daß sich der feldanalytische Ansatz von Bourdieu sowohl für die Mikroanalyse literarischer Texte, als auch für die Makroanalyse kultureller Dynamik produktiv anwenden und modifizieren läßt. Beide Arbeiten leisten einen Beitrag für eine neu zu fassende Geschichte des literarischen Stils. Die Entwicklung des mehrdimensionalen literarischen Kräfte- und Spannungsfeldes und des Repertoires literarischer Verhaltensmuster durchläuft um 1800 eine entscheidende Phase, die sich am Begriff der Autonomisierung festmachen läßt. Wolf legt dabei den Schwerpunkt auf die paradigmatische epistemologische Emanzipation der ästhetischen Positionen Goethes, wobei er ihre Autonomie überschätzt. Sela-Sheffy verfolgt dagegen die soziokulturelle Emanzipation der Stürmer und Dränger sowie der Frühromantiker, wobei sie wiederum das Aufstiegsstreben junger, bürgerlicher Fraktionen als dominante Ursache sozialer und ästhetischer Mobilität mehr proklamiert als nachweist. Trotzdem bricht sie radikaler mit dem Denken in Substanzen als Wolf.

Künftige feldanalytische Arbeiten können an beiden Untersuchungen anschließen und die Konfliktgeschichte im Modus der longue durée weiterführen, die die Aufmerksamkeit auf die spezifische Herrschaftsfolge richtet. Dabei wären Verbindungen rückwärts zur ständischen und vorwärts zur modernen literarischen Produktion, sowie in bezug zu den anderen nationalen Ausprägungen des literarischen Feldes zu ziehen.


Dr. Heribert Tommek
Anton-Saefkow-Str. 62
D-10407 Berlin

Ins Netz gestellt am 11.12.2001
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Anmerkungen

1 Paris 1999, Rezension von Joseph Jurt. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 25 (2000), 1. Heft, S.148—158.   zurück

2 Vgl. z.B. Rakefet Sheffy: Canonization of a Non-Literary System: The Case of the Modern American Popular Song and its Contact with Poetry. In: Hans R. Runte / Roseanne Runte (Hg.): Orality and Literature. New York, Berlin u.a.: Peter Lang 1991, S.177—185.   zurück

3 Zur Warnung vor einer naiven Ableitungs- bzw. Widerspiegelungssoziologie vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1999, S.385. Zur falschen Alternative zwischen einer >internen< und >externen< Analyse von Kunstwerken und zu ihrer Überwindung durch die Feldanalyse vgl. ebd., Zweiter Teil, 1. "Methodenfragen": "Der Raum der Standpunkte"; "Die Überwindung der Alternativen", S.328: "Der Feldbegriff ermöglicht es, über den Gegensatz zwischen interner und externer Analyse hinauszugelangen, ohne irgend etwas von den Erkenntnissen und Anforderungen dieser traditionell als unvereinbar geltenden Methoden aufzugeben. Wenn man aufgreift, was der Begriff Intertextualität impliziert, die Tatsache nämlich, daß der Raum der Werke sich jederzeit als ein Feld der Positionierungen darstellt, die nur relational, und zwar als System differentieller Abstände, verstanden werden können, dann läßt sich die [...] Hypothese einer Homologie zwischen dem Raum der durch ihren symbolischen Gehalt und insbesondere durch ihre Form definierten Werke und dem Raum der Positionen innerhalb des Produktionsfelds aufstellen".   zurück

4 Einen Überblick über die Hauptlinien der Entwicklung des französischen literarischen Feldes von Racine bis "Tel quel" findet man bei Joseph Jurt: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, der sich auf verschiedene Arbeiten stützt, so vor allem für den französischen Klassizismus auf Alain Viala (Naissance de l'écrivain. Sociologie de la littérature à l'âge classique. Paris: Edition de Minuit 1985) und für die Konstitution der Autonomie ab der Mitte des 19. Jahrhunderts auf Bourdieus "Regeln der Kunst" (in Übereinstimmung mit Wolfs Hypothese). Zur Entwicklung des englischen Pfades siehe Derek Robbins: Pierre Bourdieu. London: Sage 2000, 4 Bde.   zurück

5 Siehe dazu Überlegungen von Bourdieu im Kapitel "Verstehen". In: Pierre Bourdieu et al.: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, 2. Aufl., Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 1998, S.779—802.   zurück

6 Siehe Pierre Bourdieu: Die historische Genese einer reinen Ästhetik. In: Gunter Gebauer / Christoph Wulf (Hg.): Praxis und Ästhetik. Neue Perspektiven im Denken Pierre Bourdieus. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1993, S.14—32.   zurück

7 Siehe z.B. Pierre Bourdieu: Von den Regeln zu den Strategien. In: P.B.: Rede und Antwort. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1992, S.79—98 und Jacques Bouveresse: Was ist eine Regel? In: G. Gebauer / Chr. Wulf: Praxis und Ästhetik (Anm. 6), S.41—56.   zurück

8 Vgl. Bourdieus schematische Darstellung des Feldes der kulturellen Produktion im Feld der Macht. In: P.B.: Die Regeln der Kunst (Anm. 3), S.203. Zur Unterscheidung der verschiedenen Zeitordnungen und Ökonomien des kulturellen Tausches siehe ebd., Teil 1, Kap. 3: "Der Markt der symbolischen Güter", S.227—282, zur Laufbahn des Autors siehe besonders Teil 2, Kap. 2, Unterkapitel: "Die konstruierte Laufbahn", S.409—412.   zurück

9 Vgl. dazu G. Gebauer / Chr. Wulf: Praxis und Ästhetik (Anm. 6), Einleitung, S.11f.: "Mit dem Begriff des praktischen Sinns macht Bourdieu darauf aufmerksam, daß rationalistische Handlungstheorien und idealisierende Modelle die Dimension der Zeit im menschlichen Handeln zum Verschwinden bringen." Ausführlich zu den zeitlichen Aspekten des Habitus und zu Zeitmodellen der Literatur: Gunter Gebauer / Christoph Wulf: Zeitmimesis. Über den alltäglichen und wissenschaftlichen Gebrauch von Zeit. In: G.G. / Chr.W. (Hg.).: Praxis und Ästhetik (Anm. 6), S.292—316.   zurück

10 Michel Delon: L'idée d'énergie au tournant des Lumières (1770—1820). Paris: Presses Universitaire de France 1988.   zurück

11 Vgl. dazu Pierre Bourdieu: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Reinhard Krekel (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Sonderheft 2 der Zeitschrift >Soziale Welt<, Göttingen 1983, S.183—198, hier S.183. Diese Verbindung von >Energie< und >Kapital< korrespondiert mit Freuds (psycho-) ökonomischem Konzept der freien und der gebundenen Energie.   zurück

12 Das methodische Problem, das hier im Hintergrund steht, ist die Begründung der Sozioanalyse als grenzüberschreitende Disziplin zwischen der Soziologie und der Psychoanalyse. Vgl. dazu folgende Überlegungen Bourdieus: "Eine Soziogenese der konstitutiven Dispositionen des Habitus müßte versuchen zu begreifen, wie die gesellschaftliche Ordnung psychologische Prozesse abfängt, kanalisiert und verstärkt oder ihnen entgegenwirkt, je nachdem, ob zwischen den beiden Logiken Homologie, Redundanz und Verstärkung herrscht oder im Gegenteil Widerspruch und Spannung. Selbstverständlich sind mentale Strukturen nicht einfach ein Spiegelbild gesellschaftlicher Strukturen. Der Habitus steht zum Feld in einem Verhältnis wechselseitigen Aufforderns, und die Illusio ist einerseits von innen her durch Triebe determiniert, die einen dazu bringen, sich für einen Gegenstand einzusetzen, andererseits aber auch von außen, durch ein besonderes Universum von gesellschaftlich für den Einsatz angebotenen Gegenständen. Der für jedes Feld [...] charakteristische Raum der Möglichkeiten funktioniert auf Grund des spezifischen Teilungsprinzips (nomos), durch das er charakterisiert ist, wie ein strukturiertes Bündel von Zulässigkeiten und Aufforderungen, aber auch Verboten. [...]. Über das System geregelter Befriedigung, das [das Feld] anbietet, unterwirft es das Verlangen, welches auf diese Weise in eine spezifische Illusio umgewandelt wird, einer besonderen Ordnung". (P.B.: Widersprüche des Erbes. In: P.B. et al.: Das Elend der Welt [Anm. 5], S.651—658, hier S.657)   zurück

13 Vgl. Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1974, S.107: "[...] Individuen, die mit den Maßstäben brechen wollen, denen ihre Beschäftigung gemeinhin unterliegt, und sich weigern, mit ihrer Tätigkeit und ihren Erzeugnissen den landläufigen Sinn und Aufgabenbereich zu verbinden, [sehen] sich gezwungen, den getreuen Anhängern der legitimierten Bildung einen genauen Ersatz dessen, was als sanktioniert gilt, zu verschaffen (der freilich nicht umhin kann, als Ersatz zu erscheinen), das Gefühl nämlich der kulturellen Legitimität ihres Tätigkeitsbereichs mitsamt den obligaten Rückversicherungen, von den technischen Modellen bis zu den ästhetischen Theorien".   zurück

14 Das folgende Zitat Goethes wird von Wolf nicht weiter interpretiert: "je mehr ich mich selbst verläugnen muß je mehr freut es mich" (Brief an Charlotte v. Stein, 29.12.1786).   zurück

15 Vgl. Paul Di Maggio: Market Structure, the Creative Process and Popular Culture. Toward an Organizational Reinterpretation of Mass-Culture Theory. In: Journal of Popular Culture 11 (1977), S.436—452 und Juri M. Lotman / Boris Uspensky: Zum semiotischen Mechanismus der Kultur (1971). In: Karl Eimermacher (Hg.): Semiotica Sovietica (Sowjetische Arbeiten der Moskauer und Tartuer Schule zu modellbildenden Zeichensystemen, 1962—1973). Aachen: Rader 1986, Bd. 2, S.853—880.   zurück

16 Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1999, S.373—378.   zurück

17 Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst (Anm. 3), Teil 2, Kap. 2: "Der Standpunkt des Autors. Einige allgemeine Merkmale der Felder kultureller Produktion", Unterkapitel: "Der Raum des Möglichen", S.372: "Das durch kollektive Arbeit angehäufte Erbe erscheint jedem Akteur somit als Raum des Möglichen, das heißt als eine Menge wahrscheinlicher Zwänge, zugleich Voraussetzung und Komplement einer endlichen Menge möglicher Nutzungen. [...] Es ist ein und dasselbe, durch den Erwerb im wesentlichen eines spezifischen Verhaltens- und Ausdruckscodes die Zulassung zu einem Feld kultureller Produktion zu erlangen und das von ihm gebotene, begrenzte Universum aus bedingten Freiheiten und objektiven Potentialitäten zu entdecken: die zu lösenden Probleme, die zu nutzenden stilistischen oder thematischen Möglichkeiten, die zu überwindenden Widersprüche, ja die zu vollziehenden revolutionären Brüche".   zurück

18 Bourdieu selbst betonte den Unterschied zwischen der sozialen und der >akademisch-theoretischen< Logik. So widmete er dem institutionellen und epistemologischen Bruch zwischen dem Feld der Alltagsmilieus und den ideologischen Fraktionen und theoretischen Diskursen des politischen Feldes besondere Aufmerksamkeit (in: P.B.: Die feinen Unterschiede [Anm. 16], S.620—726). Schließlich untersuchte er die spezifische soziale Ökonomie des akademischen Feldes (im Unterschied zur rein diskursiven oder institutionellen Logik) in: P.B.: Homo academicus. Übersetzt von Bernd Schwibs. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1992.   zurück

19 Es folgt hier eine z.T. polemische Abgrenzung einerseits von den kanonischen Literaturgeschichten, andererseits von den Geschichten des Trivialromans, die z.T. in ihrer Argumentation entgleitet und in eine spezifische Auseinandersetzung innerhalb der amerikanischen Literaturwissenschaft mündet (125f.). Grundsätzlich besteht dabei die Gefahr der Vermischung historischer und moderner Literaturgeschichten (vgl. 127).   zurück