Tommek über Link / Loer / Neuendorff: Normalismusforschung und Soziologie

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Heribert Tommek

Normalismusforschung und Soziologie

  • Jürgen Link / Thomas Loer / Hartmut Neuendorff (Hg.): >Normalität< im Diskursnetz soziologischer Begriffe (Diskursivitäten 3) Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren 2003. 231 S. Kart. EUR (D) 34,80.
    ISBN 3-935025-27-0.

Inhalt

Der Gestus: Großtheorie der Moderne | Die Extension des Begriffs "Normalismus" | Der Gestus der Großtheorie der Moderne und das Ärgernis Bourdieu | Die Trennung zwischen "Systemdifferenzierung" und "Arbeitsteilungslehre" und die Herausforderung ihrer Vermittlung



Der vorliegende Band ist ein weiterer Niederschlag der Normalismusforschung, die vor allem auf die von Jürgen Link ins Leben gerufene und geleitete interdisziplinäre Forschungsgruppe "Leben in Kurvenlandschaften. Flexibler Normalismus in Arbeitsleben und Alltag, Medien, elementarer und belletristischer Literatur" an der Universität Dortmund zurückgeht. Widmete sich ein erster Band den symbolischen Repräsentationen der Regulierung der Dynamik moderner Gesellschaften insbesondere durch Kurvenverläufe der >Normalität< über- und unterhalb deren sich die kritischen und interventionsbedürftigen Bereiche des Anormalen abzeichnen, 1 so ist es nun das Anliegen, die Ansätze der Normalismusforschung mit soziologischen Theorien zu konfrontieren und deren Anschließbarkeit zu prüfen.

Damit wird ein Versuch unternommen, aus der Nische einer vermeintlichen Spezialforschung herauszutreten und sich innerhalb des Gefüges zeitgenössischer sozialer Großtheorien zu positionieren. Dieses Gefüge verschiedener theoretischer Ansätze, die – so die Ausgangsüberlegung – im Grunde schon das Problem des (protonormalistischen und flexiblen) Normalismus beinhalten oder umkreisen, dieses aber nicht oder nicht im ausreichenden Maße reflektieren, erstreckt sich von Foucaults Diskursanalyse, über Luhmanns Systemtheorie, Goffmans Stigma- und Rahmenanalyse, Elias Zivilisationstheorie bis schließlich Bourdieus Habitus-Theorie.

Auffällig ist, daß die elf Beiträger nicht der Dortmunder Normalismusforschung angehören. Es handelt sich um Soziologen (Hannelore Bublitz, Paderborn; Alois Hahn, Trier; Christine Leuenberger, Cornell University / USA; Ulrich Oevermann, Frankfurt / M.; Karl-Siegbert Rehberg, Dresden; Johannes Weiß, Kassel; Herbert Willems, Kassel / Gießen), Kultur- und Kommunikationswissenschaftler (Friedrich Balke, Köln; Cornelia Bohn, Trier), Romanisten (Joseph Jurt, Freiburg i. Br.) und Historiker (John Carson, Michigan).

Der Gestus: Großtheorie der Moderne

Ein Gestus des Bandes, der sich in der Einleitung und in vielen Beiträgen niederschlägt, deutet auf den Anspruch, Grundzüge einer Großtheorie der (westlich-kapitalistischen) Moderne vorzulegen. Die weitaus vorsichtigere Formulierung Links in der Vorbemerkung seines grundlegenden Buches "Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird", 2 daß der "normalistische Archipel" zwar "gigantisch", jedoch "keineswegs deckungsgleich mit so etwas wie der >Moderne< (er >nimmt viel weniger Platz ein<)" sei (Link, Anm. 2, S. 13), wird in diesem Band mehrfach über Bord geworfen. 3 Die Erweiterung des einstigen Ausgangspunktes, daß es sich bei dem Problem der "Normalität" vor allem um ein diskursives Ereignis handle (im Sinne Foucaults) und in diesem bestimmten Sinne soziale Realität habe, die Link insbesondere in Deutschland nach 1968 und 1989 diskursanalytisch untersuchte (vgl. ebd., S. 15ff.), wurde durch den ebenfalls von Foucault ausgehenden Begriff eines normalistischen "Dispositiv-Netzes", das nicht nur diskursive, sondern auch operationale Kategorien beinhaltet (vgl. ebd., S. 185), vorbereitet.

Mit der Suche nach Anschlüssen an andere Großtheorien wird nun der (inter-)diskursive Ausgangspunkt mit seiner klaren Verortung verlassen. Die Theorie des (flexiblen) Normalismus – so darf man das Anliegen der Herausgeber unterstellen – soll Anerkennung, ihren Platz und ihr Profil nicht in der Philosophie oder in einer diffusen, ahistorischen Kulturtheorie erhalten, sondern in der aktuellen Soziologie. Inwiefern dieser Schritt von der (Inter-)Diskursanalyse zu einer Großtheorie produktiv ist, die ">Normalismus< als post-normatives Ordnungsprinzip der Moderne" (so Rehberg, allerdings mit kritischen Einwänden, 163), als flexible Form der sozialen Regulierung und – damit verbunden – als Subjektformierung in der Neuzeit versteht (S. 164), wird im folgenden zu prüfen sein.

Der Gestus, mit der Theorie des "Normalismus" über ein adäquates Instrument zur Analyse der "modernen Gesellschaft" (dieser Begriff fällt sehr oft) zu verfügen, schlägt sich in den Beiträgen vor allem in einer Wertschätzung und Weiterführung der Foucaultschen Dispositiv- und der Luhmannschen Systemtheorie 4 als theoretische Grundlagen nieder. Zwar wird auffälligerweise selten auf Giddens' und Becks 5 Theorien der sozialen Dynamik und Mobilität zurückgegriffen, jedoch mobilisiert man vor allem Theorieelemente der flexiblen Reflexivität, sei es des Subjekts (vgl. Hahns Beitrag: "Aufmerksamkeit und Normalität"), sei es der Systeme und ihrer Kontexte (vgl. Bohn: "Mediatisierte Normalität. Normalität und Abweichung systemtheoretisch betrachtet"), der Individualisierung, der Selbststeuerung bzw. -disziplinierung, schließlich der interaktionistischen und ritualisierten Handlung (vgl. Willems Aufsatz "Normalität, Normalisierung, Normalismus", der sich vor allem auf Goffman und Elias bezieht).

Obwohl ein Ahnherr des Nachdenkens über das Problem des "Normalen" und des "Pathologischen" in der Gesellschaft, fällt tendenziell der von Arbeits- und Klassenteilung ausgehende Durkheim, 6 schließlich auch der Elias der "Höfischen Gesellschaft", der situativ- und interaktionistisch argumentierende Goffmann und – in weiten Teilen – der einen Schwerpunkt auf Reproduktion und Trägheit sozialer Verteilungsverhältnisse legende Bourdieu durch das Raster des maßgeblichen Theorienetzes des >modernen<, flexiblen Normalismus. 7

Die Extension des Begriffs
"Normalismus"

Mit dem Willen der Herausgeber, den Ansatz des (flexiblen) Normalismus zur soziologischen Diskussion zu stellen, geht eine Extension des Gegenstandes und der zentralen Begriffe einher. Die damit entstehende Problematik wird jedoch durch die gewählte Einteilung des Bandes in zwei Teile noch nicht ausreichend deutlich: "Das Normale, Normalitäten, Normen" und "Zum Verhältnis von Handeln und Struktur", wobei sich insbesondere im zweiten Teil das Thema der im Februar 1999 organisierten Tagung: "Normalität und Habitualität: Das >Normale< im Netz soziologischer Grundbegriffe" widerzuspiegeln scheint. Hier schlägt sich – darauf wird noch zurückzukommen sein – vor allem eine Auseinandersetzung mit Bourdieus Habitus-Theorie nieder.

In der Einleitung schlagen die Herausgeber jedoch entgegen dieser Zweiteilung eine systematische Differenzierung vor "zwischen einer allgemein epistemologischen Fassung (jede erfolgreiche Konstruktion bzw. Wahrnehmung von Wirklichkeit heißt als solche >normal<), über eine >mittlere< Spielart, die >Normalität< in die Nähe von >Gewohnheit<, >Habitus< und >Alltagsritual< rückt, bis zu einer historisch-spezifizierten, engen Fassung, wie sie das in einem Teil der Dortmunder Forschungsgruppe explorierte Konzept des Normalismus (im Sinne eines spezifisch modernen, europäisch-nordamerikanischen Dispositivs, als dessen historisches Apriori die Verdatung der Gesellschaft, im Sinne der Erfassung und Verbreitung von Massendaten, bestimmt wird) voraussetzt" (S. 8).

Mit der Erweiterung des letztgenannten, eng gefaßten Normalismus gehen Infragestellungen und Ergänzungen, aber auch z. T. >Verwässerungen< grundlegender Prämissen und Unterscheidungen Links einher:

  • Zunächst läßt sich die Grundlage der "massenhaften Verdatung" bzw. des statistischen Dispositivs problematisieren. Rehberg stellt zu Recht die Evidenz des statistischen Durchschnitts und der normalisierenden Effekte, die sich aus ihm ableiten, in Frage. Dagegen führt er zum einen mit Bourdieu die konfliktuellen Geltungsbestrebungen und Anerkennungsbereitschaften, zum anderen die normative Vermittlung, die institutionelle Verpflichtungen, die "sekundären Ethisierungen" (die stillschweigende Anerkennung des "Normalen" in den Teilbereichen) an (S. 174f. u. 177). Darüber hinaus läßt sich kritisch anmerken, daß die relative Evidenz der statistischen Prämisse (moderne Selbstnormalisierung hat etwas zu tun mit der zunehmenden Datenerhebung und -verfügbarkeit) die Gefahr birgt, sich zu verselbständigen und leicht unter >Fetichismusverdacht< zu geraten.

    Nicht, daß die Normalismusforscher nun zu überzeugten Statistikern geworden seien – daß es um die Analyse der Aufbereitung, d. h. um die Repräsentation beziehungsweise Symbolisierung von statistischem Wissen für breite Massendiskurse geht, zeichnet ja Untersuchung des normalistischen Interdiskurses aus (vgl. den oben, Anm. 1, erwähnten ersten Diskursivitäten-Band) – , sondern daß das >statistische Argument< zu einer Art Blackbox wird, die der Analyse per se das Gültigkeitssiegel der >Modernität< verleiht, ist die Gefahr. So schreibt denn auch Balke, der als Kultur- und Kommunikationstheoretiker vermutlich selten mit Statistik arbeitet, mit einer großen, letztendlich aber leeren bzw. desinformativen Modernitätsgeste:

    Obwohl Bourdieu in einem für Kultursoziologen ungewöhnlichen Maße mit Statistik arbeitet, sind Emergenz und Realität moderner Massengesellschaften für ihn kein Thema" (S. 139).

    Ein anderes Beispiel ist die Hervorhebung der Herausgeber, daß Bohn Maurice Halbwachs' Bemerkung zur Beziehung von Häufigkeit und Normalität erwähne: Was "normal" sei, stelle sich im statistischen Durchschnitt dar, könne aber nicht von ihm abgeleitet werden (S. 12, 45). Halbwachs wird also als ein Zeuge für die Verbindung zwischen Soziologie, statistischer Analyse und gesellschaftlicher Normalitätsgenese herangezogen, wobei man den >Fetisch< statistischer Durchschnitte, der Gaußkurve etc. mit den Soziologien von Halbwachs oder Bourdieu nicht weiter hinterfragt. Beide betonten stets den historischen und positionsabhängigen Konstruktionscharakter von Statistiken 8 und die soziologische Aufgabe der Auslegung des Sinnes statistischer Diskontinuitäten, die auf gesellschaftliche Ungleichheit weisen. 9

  • Normalitäten bzw. Normalismus als deskriptiv-statistische und dem Handeln postexistente Kategorien sind streng zu unterscheiden von der präskriptiven, dem Handeln kulturell präexistenten Normativität, Rechtsnorm oder Normgeltung; innerhalb des Normalismus gilt es ferner zu unterscheiden, zwischen der Strategie eines "Protonormalismus", der sich durch Außenlenkung und fixe Normal- und Grenzwerte auszeichnet, wofür Link insbesondere Goffmans Stigma-Begriff heranzieht, 10 und der eines "flexiblen Normalismus", der über den Trend zur allgemeinen "Therapierung der Normalen" (Castel) 11 für die Selbst-Normalisierungen des Subjekts sowie für flexible Normal- und Grenzwerte steht. Link selbst betonte dabei stets, daß beide Strategien nicht strikt alternativ auftreten, sondern in einer aporetisch unlösbaren Interdependenz stehen. Entsprechend wird die theoretische Trennung von mehreren Autoren relativiert, so von Hahn (S. 29) und vor allem von Rehberg ("Normalitätsfiktion als institutioneller Mechanismus") und Oevermann ("Regelgeleitetes Handeln, Normativität und Lebenspraxis. Zur Konstitutionstheorie der Sozialwissenschaften").

    Letzterer argumentiert aus der Sicht der Sequenzanalyse der objektiven Hermeneutik und sein komplexer Beitrag steht fundamental quer zu Links Unterscheidung zwischen Normalität und Normativität. Oevermann führt eine konstitutionslogische Differenz zwischen Regeln und Normen an: Regeln (im spezifischen Sinne Searles, vgl. 203) seien konstitutionslogisch der Normierung und der Beurteilung der Abweichung sozialen Handelns vorrangig. Anhand eines Exkurses zu Freuds Totem und Tabu und Lévi-Strauss' Kritik daran versucht Oevermann die konstituierenden, universalen Regeln als Bedingung der Möglichkeit von sozialer Kooperation überhaupt zu verdeutlichen (S. 198–200). Diese universalen Regeln, die vor allem im Inzestverbot als Bedingung der Möglichkeit des Übergangs von der Natur zur kulturellen Praxis und damit auch zur Sittlichkeit gründen, stellen für Oevermann "konstituierende[...] Prinzipien der Moral als Regeln einer universalen Methode der sozialen Kooperation" dar (S. 202).

    Diese Fundamentalbegründung eines regelgerechten, Sittlichkeit und Sozialität generierenden Handelns, die – wie auch die kommunikative Handlungstheorie – der normalistischen These von der subjektiv-flexiblen Übertretung von Normalitätsgrenzen grundsätzlich widerspricht, läßt sich in gewisser Weise an Durkheims Begriff der "sozialen Tatsache" kritisch anschließen: Denn Oevermann hält Durkheim vor, daß er über eine empiristische Festlegung der Geltung von Normen nicht hinausgelangt sei, und argumentiert aus der Sicht der objektiven Hermeneutik, daß objektiver Sinn und regelgeleitetes Handeln sich wechselseitig konstituierten, wodurch ein objektiver Begriff "sozialer Tatsachen" gewonnen sei. Die regelgeleitete (Lebens-)Praxis verfüge dabei über einen generativen Spielraum (in Anlehnung an Chomskys generative Grammatik) im Gegensatz zu soziologischen Handlungstheorien wie etwa diejenige von Habermas, die sich mit ihrer "Geltungsüberprüfungsoperation der Ja / Nein-Stellungnahme" auf die Ebene der sozialen Normierung beschränke (S. 188, 190f.).

    Einen anderen Einwand gegen die strikte Trennung von Normalität und Normativität formuliert Rehberg. Er akzeptiert die grundsätzliche These, daß die statistischen Durchschnittszahlen zunehmend an die Stelle wertgeleiteter Orientierungen getreten seien (S. 168), verweist aber auf die Einseitigkeit der Theorie des flexiblen Normalismus, wenn diese von der Institutionenanalyse, d. h. von der Analyse "Regel- und Verpflichtungssysteme mit rituellen Wiederholungshandlungen" absieht, da ihr – laut Rehberg zu Unrecht – die "Analyse institutioneller Wandlungspotentiale (samt Blockierungen und Beschleunigungen von Veränderungen)" abgesprochen werde (S. 163).

    Den vor allem von Foucault aufgezeigten und schließlich von Link als Grundlage übernommenen und weiter ausgearbeiteten Prozeß von der relativ eindeutig und fix markierten, äußeren Repression (= Protonormalismus) hin zur dynamischen, inneren Kontrolle und Selbstnormalisierung (flexibler Normalismus, >normalisierendes floating<) relativiert Rehberg. Er stellt die These von der "Versachlichung und Abstraktion von Herrschaft" eines Foucault, Luhmann und in der Folge auch Link in Frage, die alle davon ausgehen, wir hätten es "durchgängig mit anonymen und dezentralen Vorgängen zu tun, die sich in Familie, Schule, Gefängnis oder Fabrik als wirksam erwiesen und die Individuen zu immer umfassenderen Dispositiven zusammenschweißten" (S. 169, Anm. 21: Rehberg beruft sich hier auf eine Kritik des Sozialdisziplinierungs-Ansatzes aus der Forschung).

    Gegen den diffusen Totalitätsanspruch der Machtdispositive (Foucault, vgl. Rehberg S. 175) bzw. der systemischen Normalisierung von Unwahrscheinlichkeit (Luhmann, vgl. Bohn, S. 46) wendet Rehberg überzeugend ein, daß "auch Normalisierungsordnungen [...] sich im begrenzten Rahmen und in Differenzsetzung zu anderen gesellschaftlichen Einheiten [vollziehen]. Und auch das wiederum vollzieht sich nicht selbsttätig und unmittelbar, sondern durch institutionelle Vermittlungen" (S. 170). Wie für Bourdieu ist für Rehberg jede "durchgesetzte Leitidee [...] ein Kampfprodukt", dessen "Geltung nie unbestritten und von unterschiedlichen Situationen, Interessen und Trägerschichten abhängig" ist (S. 171). Zwischen den Geltungsbehauptungen und den Durchsetzungsansprüchen einerseits und den je zur Verfügung stehenden Legitimationsreserven andererseits treffe man auf institutionelle Mechanismen (S. 172). Rehbergs These lautet nun, daß die (statistisch) beschreibbaren

    Regelmäßigkeiten über Normierungsprozesse institutionell verstärkt werden müssen, wenn sie verhaltensleitend werden sollen. So kommt es zu Übersetzungsleistungen zwischen einem entdramatisierten Normalismus mit seinen hohen Flexibilitätserwartungen auf der einen und den jeweiligen institutionellen Normierungen auf der anderen Seite. (S. 171)

  • Flexible Normalisierung meint eine flexible Selbstadjustierung des modernen Individuums vermittels eines verinnerlichten, normalistisch-symbolischen Kurven-Dispositivs ("innerer Bildschirm", vgl. Link, Anm. 2, S. 25): Eine Erweiterung und aus der Perspektive des engeren Normalismus-Begriffs >Verwässerung< dieses Konzepts bietet der Beitrag von Hahn, der die "normale Aufmerksamkeit" innerhalb eines allgemeinen wahrnehmungstheoretischen Rahmen, d. h. innerhalb der Husserlschen Phänomenologie, der Gehlenschen Theorie der Entlastung und der Systemtheorie Luhmans skizziert (S. 23). Innerhalb der Fülle der Reize und angesichts der >Knappheit< des >Gutes Aufmerksamkeit< ereigne sich Sinn als temporäre Festlegung der Aufmerksamkeit auf ein Zentrum und die zu ihm gehörenden Horizonte, wobei Horizont und Zentrum wechseln können. Was mit Gleichgültigkeit (Entlastung) und was mit Aufmerksamkeit wahrgenommen wird, hänge von einer Kombination zwischen dem Differenzcharakter sozialer Phänomene, einer sozialen Normierung (die für Hahn wie für Bohn, s. u., subsystemspezifische und -immanente Erwartungen bedeutet), Gewohnheitsbildungen und individueller Erfahrung ab (S. 25f.).

    Hahn übernimmt einerseits Castels und Links These von der >unendlichen Therapie<, von der immerwährenden Aufgabe der Selbstbeobachtung, der Selbstkontrolle und Sorge um die eigene Normalität (S. 32). Andererseits betont er die systemische Ebene, auf der die jeweiligen Subsysteme als Konkurrenten legitimer Aufmerksamkeit auftreten (S.27). Eine wichtige Ergänzung stellt der Hinweis auf die zentrale Rolle der Öffentlichkeit für die Aufmerksamkeit dar: Sie gilt ihm als Pendant zu den subsystemspezifischen Formen der Erwartungsbildung und generiert gesamtgesellschaftliche Aufmerksamkeit. Dabei stehe eine öffentliche Meinung nicht für einen Konsensbestand, sondern für eine allgemeine Themenressource (S. 32).

    Im Anschluß an Hahn betont Claudia Bohn aus systemtheoretischer Sicht, daß die Linksche Prämisse des permanenten, individuellen "Abweichungsmanagements" zu ergänzen sei durch die Eigendynamik der Reproduktion sozialer Strukturen, d.h. durch "Prozesse zirkulärer Abweichungsverstärkung von Systemzuständen", in der die "Abweichung Normalität" geworden sei (S. 44f.). Die Adjustierungsdynamik dieser "Normalität des Sozialen" führt sie auf die jeweilige Differenzziehung zurück, wodurch ganz unterschiedliche "Bedeutungskontexte" entstünden (S. 39f.; vgl. Tabelle, 40, die die verschiedenen Differenzen des Normalitäts-Begriffs und die entsprechenden Kontexte oder Subsysteme auflistet: z. B. Normalität in der Differenz zur Abweichung, zum Pathologischen = Kontext der Medizin, der Kriminalistik; Normalität im Sinne von Stabilität in Differenz zur Revolution, Krise, zum Ausnahmezustand = Kontext der Politik, der Ökonomie).

    Mit ihrem Beitrag reagiert also Bohn auf Links Kritik an Luhmanns Systemtheorie, sie kenne "Normalität" nur als unbestimmte Größe der Anschließbarkeit der (Teil-) Systeme (vgl. Link, Anm. 2, S. 175). Bohn will sozusagen mit Luhmann über Link hinaus und behauptet ein permanentes "Abweichungsmanagment", das sich nicht auf Individuen bei deren sozialer Selbstdarstellung beschränke, sondern auch die "Prozesse zirkulärer Abweichungsverstärkung von Systemzuständen" charakterisiere (S. 45).

    Gegen die Systemtheorie und ihrer (problematischen) Prämisse einer Autopoiesis der Systeme läßt sich jedoch die Produktivität des Ansatzes von Link verteidigen, der mit dem Ansatz einer Verinnerlichung gesellschaftlicher Dynamik wichtige anthropologische Fragen stellt und Subjektivierungseffekte untersuchbar macht (vgl. Balke, S. 144). Schließlich bleibt der berechtigte Einwand Links, daß die Systemtheorie grundsätzlich von der Ausdifferenzierung ausgehe, bei einem quasi-dogmatischen Entweder-Oder-Binärismus stehenbleibe (dem er kontinuierlich-skalierbare Normalfelder entgegensetzt) und überhaupt Probleme habe, "entdifferenzierende Tatsachen", wie es das normalistische "Archipel" darstelle, analytisch in den Blick zu bekommen (vgl. Anm. 4). Denn gerade hierin liegt die Produktivität des Ansatzes des "Normalismus" als interdiskursives Ereignis innerhalb einer ausdifferenzierten Gesellschaft.

  • Der Gestus der Großtheorie der Moderne
    und das Ärgernis Bourdieu

    Mit dem oben erwähnten Gestus einer Großtheorie der dynamischen Moderne geht ein Anstoß-Nehmen an der Soziologie Bourdieus einher, die den ganzen Band durchzieht. Link selbst hatte sich in seinem "Normalismus"-Buch von 1996 erstaunlicherweise gar nicht mit Bourdieu, so auch nicht mit seinem Habitus-Begriff, auseinandergesetzt. Daß dieses stillschweigende Übergehen nicht normalismustheoretisch begründet ist, belegen die vielfältigen und z. T. grundlegenden Bezugnahmen auf Bourdieu in dem vorliegenden Band. Die Diskurstheorie Foucaults, die in manchen Beiträgen des vorliegenden Bandes mit Luhmanns Systemtheorie amalgamiert wird, gilt als angemessene Theorie der Moderne, die ihren exponentiellen Dynamiken gerecht wird, während Bourdieus Soziologie als "ahistorisch" und statisch gilt.

    Diese simple Opposition nimmt zum Teil einen polemischen Charakter an, der nicht mehr wissenschaftlich begründet ist, jedoch sich ergänzende Züge aufweist: So spielt Willems lapidar in einem Nebensatz Elias' Figurationsanalyse gegen "Bourdieus unhistorischem Ansatz" aus (S. 53), ohne sich verpflichtet zu fühlen, diesen Vorwurf auszuführen gegenüber jemandem, der wie kaum ein anderer die reflektierte Historisierung des Gegenstandes und seiner wissenschaftlichen Konstruktion einforderte. Einen Schritt weiter gingen schon die Herausgeber in ihrem Vorwort mit der erstaunlichen Behauptung, Bourdieu habe "nach seinen frühen Studien über Algerien keine detaillierten Analysen bzw. Rekonstruktionen von Habitusformationen mehr durchgeführt [...]" (S. 15). Die Stoßrichtung ist klar: Bourdieu soll der Analyse vormoderner Gesellschaften (Algerien), der flexible Normalismus aber >hochmoderner< Gesellschaften zugeordnet werden.

    Diese einfache Opposition läßt sich auf eine wissenschaftlich-mythologische starre Oppositionsbildung zwischen Raum und Zeit zurückführen. Am deutlichsten zeichnet sich diese in dem Beitrag von Balke ab: In dessen Zentrum steht weniger eine Auseinandersetzung mit dem Normalismus-Problem, als eine Desavouierung der Tauglichkeit der Soziologie Bourdieus angesichts "moderner Gesellschaften". Wie der Titel deutlich macht, sieht Balke bei Bourdieu einen "Zwang des >Habitus<" und eine "Festschreibung des >subjektiven Faktors<". Wieso "Habitus" und "subjektiver Faktor" in Anführungszeichen gesetzt wurden, ist nicht recht klar – vermutlich, um einen >eigentlichen<, flexibelnormalistischen Habitus-Begriff zu retten, der von der permanenten Frage, ob ein bestimmtes Verhalten noch normal ist oder nicht, bzw. von kontinuierlichen Graden der jeweiligen Selbstzumutung von "Risiko" geprägt ist (S. 145; Balke tritt in dem Band am deutlichsten als Verfechter der These eines >haltlosen< Subjekts inmitten einer modernen >Risikogesellschaft< auf).

    Balkes These ist, daß Bourdieus Konzeption von Gesellschaft letztlich auf eine höfische, standes- und distinktionsbewußte Gesellschaft (Elias) zurückgehe (S. 136). Kritisiert wird Bourdieus Raum- und Feld-Metaphorik, von der auf einen "als ultrastabil vorgestellten sozialen Raum" geschlossen wird (S. 138), dem ein "hochmobile[s] soziale[s] Feld" der modernen Gesellschaft entgegengesetzt wird (S. 139). Entsprechend wird den "Repräsentationen eines Seins" innerhalb einer stratifizierten Gesellschaft die "Präsentation eines Selbst" (Luhmann) entgegengesetzt. (S. 137) Die Apotheose des "subjektiven Faktors" führt über die Bezugnahme auf Nietzsches >tollem Menschen<, der auf die modernen Gefahren der sozialen und psychischen >Zerstreuung< und >Nomadisierung< verweise, schließlich zur Entgegensetzung von Zitaten zweier, wie Balke selbst betont, "Nichtsoziologen": Zitate von Deleuze und Guattari aus deren "Anti-Ödipus", die einer korporativen Beschreibung des Kapitalismus eine der Entgrenzung und Beschleunigung entgegenhalten (S. 142).

    So ist denn unterschwellig auch ein in Richtung Bourdieu adressierter Marxismusvorwurf vernehmbar, dem er vorhält, "das Prinzip der klassenmäßigen Gliederung und seiner Dominanz über alle übrigen sozialen Formbildungen" nicht anzutasten (S. 138). Durch die Kursivierung dieser Aussage ist jedoch noch nicht der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn erwiesen, denn die soziologische Frage nach der Strukturierung und Regulierung sozialer Verhältnisse ist sicherlich komplexer, als daß sie allein über den >subjektiven Faktor< beantwortet werden könnte (s. u.).

    Balke wirft Bourdieu schließlich vor, er könne die (systemtheoretische) Frage, wie soziale Ordnung möglich sei, nicht stellen, da für ihn die Ordnung im vorhinein prästabilisiert sei (S. 141; gemeint ist Bourdieus "Soziodizee", S. 143, der Übereinstimmung von Habitusformen und der Position im sozialen Raum). Tatsächlich geht Bourdieu von gegebenen sozialen Ordnungen aus – allerdings hat er sehr oft gesellschaftliche Praktiken in Krisenzeiten, d. h. in Zeiten, in denen verinnerlichte Habitusformen und ihre antizipierten Zeitformen (vgl. Jurts Beitrag unten) auf veränderte objektive Feldbedingungen und Zeitrhythmen stoßen, untersucht (so schon in seinen Studien zu Algerien, wo er zeigte, daß mit der französischen Besetzung und der plötzlichen, entgrenzten Macht des kapitalistischen Marktes die traditionelle symbolische Ordnung und Zeitökonomie, wie auch das Verhältnis zur Arbeit umgestürzt wurde, 12 welche Umwandlungen, Brüche und Persistenzen Habitusformen in Zeiten der Inflation, d. h. der Entwertung kultureller Kapitalien ab den 1970er Jahren und der mit ihnen verbundenen Erwartungshaltungen erfahren, untersuchen "Die feinen Unterschiede", vgl. Anm. 9).

    Der einfachen Oppositionsbildung (statisch-flexibel, räumlich-zeitlich) tritt der Beitrag von Joseph Jurt entgegen ("Habitus und Normalismus"), der die Genese und die Komplexität des Habitus-Konzeptes von Bourdieu darlegt. Vor allem seine Ausführungen zur zeitlichen Dimension dieses Konzeptes sind angesichts der skizzierten Vorwürfe von Bedeutung: Jurt betont, daß "der gleiche Habitus [...] je nach Stimulus und Feldstruktur ganz unterschiedliche, ja gegensätzliche Praktiken hervorbringen" könne (S. 128). Da Bourdieu den Habitus als Generierungsprinzip verstehe, liege die wissenschaftliche Herausforderung im Verstehen der Logik der Veränderung. Jurt präzisiert, daß die "Dialektik von subjektiven Erwartungen und objektiven Chancen" überall in der sozialen Welt wirksam sei und tendenziell für eine "Anpassung der Erwartungen an die Chancen" sorge (ebd.), was freilich Verkennung und Verschleierung sozialer Tatsachen nicht ausschließt. Damit aber wird ein Ansatz zur Beantwortung der Frage von Balke, wie soziale Ordnung möglich sei, und zugleich die Skizze einer Theorie der Zeitlichkeit gegeben:

    Weil die Praxis das Produkt eines Habitus ist, der selber das Produkt der Inkorporierung der immanenten Regularitäten und Tendenzen der Welt ist, enthält sie in sich selber eine Antizipation dieser Tendenzen und Regularitäten, das heißt einen nicht-thetischen Bezug auf eine in der Unmittelbarkeit der Gegenwart angelegten Zukunft [...]" (S. 129, Anm. 28; Zitat von Bourdieu).

    Das Gelingen der dialektischen Adaption des Habitus an das Feld erscheint als der statistisch häufigste Fall. Die Nicht-Adaption versteht Jurt als das "Produkt einer diachronen Diskrepanz" zwischen den Strukturen des Habitus und denen des Feldes, d. h. in einem Aufeinanderprallen zweier Verzeitlichungen, der verinnerlichten und der äußeren der objektiven sozialen Strukturen (S. 130). Normalität wäre in dieser Perspektive eine soziale Identität, ein in der Art und Weise des Wandels wiedererkennbares, generatives Sich-gleich-Bleiben der Akteure innerhalb einer individuellen wie auch kollektiven Laufbahn (S. 131). Flexibel-normalistische Verhaltensweisen (Überschreiten von Normalitätsgrenzen und deren Neuerrichtung) sind in dieser Hinsicht auch möglich, allerdings mit der entscheidenden Einschränkung, daß die Logik dieser flexiblen Über- und Einschreitungshandlungen auf in der Zeit erworbene Dispositionen und auf die in einem spezifischen Positionsgefüge angelegte Dynamik zurückgeführt wird.

    Diese Konzeption der generativen Reproduktion der sozialen Welt und ihrer (Macht-)Verhältnisse, die keineswegs Brüche und radikale Veränderungen ausschließt, unterscheidet Bourdieus Soziologie von der Konzeption einer permanent, grundlegend und voraussetzungslos veränderbaren, tendenziell klassenlosen Gesellschaftskonzeption einer individuellen Selbstadjustierung des flexiblen Normalismus.

    Die Trennung zwischen "Systemdifferenzierung"
    und "Arbeitsteilungslehre" und die
    Herausforderung ihrer Vermittlung

    Der vorliegende Band, der Ausdruck dafür ist, daß die Kategorie der (flexiblen) "Normalität" an viele Theorien anschließbar, aber auch von ihnen bis zur Einebnung vieler Abgrenzungen, die Link in seinem Buch vornahm, vereinnehmbar ist, birgt in sich eine Problematik, auf die Herausgeber in ihrem Vorwort nicht eigens eingehen. Diese Problematik deutet sich in dem folgenden Zitat aus dem Beitrag von Willems an, der wiederum Hahn zitiert: "Die Theorie der Systemdifferenzierung, die Dilthey inauguriert und die sich bei Luhmann wiederfindet, ist grundsätzlich anders gebaut als etwa die Arbeitsteilungslehre Durkheims" (S. 51). Willems versäumt es, diese Opposition weiter zu verfolgen, da er schon eine Seite später Durkheim indirekt fallen läßt, indem er behauptet, daß das "Normale stets das Normale eines bestimmten und bestimmenden Kontextes, nämlich des Sinnzusammenhangs des jeweiligen sozialen Systems bzw., wie es bei Dilthey heißt, des >Kultursystems<" sei (S. 52, meine Hervorhebung).

    Daraufhin verfolgt er die Normalitäten der Moderne, die sich durch eine fortgeschrittene soziokulturelle Differenzierung auszeichne, indem er die "kommunikative >Anschlußfähigkeit<" etwa in "spezifischen Sinnsphären" (gemeint ist Goffmans Rahmen-Begriff) untersucht (S. 56). Über die Ebene der Kommunikation und der Herstellung von Sinnzusammenhängen angesichts zunehmender Systemdifferenzierung lassen sich also gleitende Ergänzungen zwischen den Theorien von Dilthey, Luhmann, Foucault und Link (vgl. Willems Unterkapitel "Allgemeiner Diskurs und Spezialdiskurse", 53–56) einerseits ausmachen.

    Andererseits wird bei Willems, Hahn, Bohn, Balke und anderen die zweite >Schiene< oder Ebene der sozialen Wirklichkeit in der oben zitierten Opposition Hahns stillschweigend fallen gelassen, nämlich die Analyse der zunehmenden Arbeitsteilung (im Gegensatz zum allgemeineren Begriff der Ausdifferenzierung) und der Frage nach der "Solidarität" bzw. "Integration" einer Gesellschaft im Sinne Durkheims (Frage nach dem >sozialen Band<) – dies, obwohl die systemtheoretischen Soziologien dessen Konzept der "Arbeitsteilung", d. h. der funktionalen Ausdifferenzierung und damit seiner Vorstellung von organisch-funktionaler Normalität verpflichtet sind. 13 Mit der Totalisierung der sprachlichen, kulturellen und kommunikativen Fragestellung, die wesentlich auf Saussures Konzeption eines einheitlichen, generellen Sprachsystems zurückgehen dürfte, das von äußeren, sozialen Einflüssen absieht und >gleitende Übergänge< postuliert (die sich zum >floating< der Semiotik, Semantik, der Diskurse, der >kulturellen Kommunikation<, etc. entwickeln), werden schließlich allgemein "Systemgrenzen" als "Bedeutungsgrenzen" bestimmt (Hahn, S. 51).

    Damit trennt man aber die Ebene der Bedeutungsgrenzen und Sinndifferenzierungen von einer soziologischen Problemstellung ab, die sich von der Frage nach der Arbeitsteilung (Durkheim), über die nach dem Verhältnis von Klassenstruktur und kollektiver Psychologie (Halbwachs) bis hin zur Frage nach dem jeweiligen Verteilungsstand äußerer und innerer Kapitalien (Bourdieu) zieht. Die Herausforderung für die interdiskursive Normalismusforschung angesichts ihrer Konfrontation mit der Soziologie – so lautet ein Fazit dieser Besprechung – bestände in einer systematischen Reflexion über ihr Verhältnis zur Arbeitsteilung, Sozialstruktur und sozialen Ungleichheiten.

    Dabei bietet Links (Inter-)Diskurstheorie selbst hinreichende Ansätze zur Annahme dieser Herausforderung, da ihr Begriff der Spezialdiskurse auf die Arbeitsteilung (und weniger auf den umfassenden Allgemeinbegriff der Ausdifferenzierung) referiert. Das Interdiskurs-Konzept steht wiederum für eine Verbindung der in der horizontalen Achse des sozialen Raums sich auffächernden Arbeitsteilung. In dieser Hinsicht sind alle Passagen im vorliegenden Band von Interesse, die den Zusammenhang zwischen objektiver sozialer Teilung und Kohäsion einerseits und semantischer, diskursiver, kommunikatorischer Teilung und Verbindung andererseits reflektieren.

    Einen produktiven Anstoß in diese Richtung gibt etwa Rehberg in seinem Plädoyer für eine Verschränkung der Normalismusforschung mit der Institutionenanalyse: "Die Institutionenanalyse geht davon aus, daß die Symbolisierung sozialer Ordnungsprinzipien ein wichtiges Medium der Durchsetzung von Geltungsansprüchen ist. Das Außeralltägliche wird dabei in die Normalität der Alltagsvollzüge übersetzt und diese umgekehrt mit übergreifenden Normierungen und Wertpräferenzen verbunden" (S. 171). Und in einer Anmerkung präzisiert er, daß das Verhältnis von institutionell stabilisierten Sozialbeziehungen und Interdiskurs im Sinne Links weiter zu bestimmen sei (S. 171, Anm. 28).

    Der Beitrag von Bublitz führt partiell diese Perspektive einer Vermittlung von Diskursanalyse und Sozialstrukturanalyse weiter. Ähnlich wie Durkheim und andere Denker der Ausdifferenzierung geht sie davon aus, daß zunehmende Differenzierung zunehmende Homogenisierung über Vergleichbarkeit, Interaktion und Interdiskurse mit sich führe (S. 157). Dabei betont sie aber die – oftmals nicht beachtete – "Differenz von Diskursformationen und sozialer Wirklichkeit", wobei jedoch Diskurse als "Kulturfaktoren" wirkten, da sie im Sinne Durkheims als überindividuelle, kollektive symbolische Prozesse soziale Tatsachen seien (S. 157). "Sowohl die Homogenisierung des Gesellschaftskörpers als auch die Fragmentierung des Bevölkerungssubjekts geschehen diskursiv" (ebd.). Ihr geht es im folgenden um den normalisierenden und sozialintegrativen Aspekt diskursiver Praktiken, die zugleich die Funktion der Verschiebung und der Veränderung von Normalitäts-Zonen und -Grenzen hätten, dabei sich aber als umkämpfte Praktiken zeigten (S. 159).

    Bublitz greift schließlich auf Foucaults "Bio-Macht"-Theorem zurück, wodurch "Gesellschaftskörper" und individuelle Körperdisziplinierung bzw. Individualisierung in ein Verhältnis gebracht werden: Die diskursiven "Normalisierungspraktiken [...] errichten soziale Ordnung durch Unterwerfung des Individuums unter die Einheit eines Bevölkerungskörpers, der gleichwohl in sich geteilt ist und Individualisierung gewährleistet" (S. 160). Wenn sie im folgenden mit Foucault von kontrollierter "Einschaltung der Körper in die Produktionsapparate" und von "Anpassung der Bevölkerungsphänomene an die ökonomischen Prozesse" spricht, so greift sie indirekt die These Links auf, flexibler Normalismus reagiere auf die expotentielle Reproduktion bzw. Wachstumskurven eines erweiterten Kapitalismus. 14

    Der bei Bublitz nun folgende konfuse Machtbegriff, der ein tendenziell totales, alle sozialen Bereiche durchziehendes Changieren der Macht zwischen dem "Gesellschaftskörper", "gesellschaftliche Normen" und den "Dispositionen" postuliert (vgl. S. 160f.), dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, daß mit Foucault und Link einzelne soziale Akteure und ihre Position im Sozialraum ab-, hingegen Diskurse und Dispositive struktural verkoppelt werden (S. 154). Link hatte eine "strukturelle Selbständigkeit normalistische Dispositive gegenüber kapitalistischen" postuliert, obwohl er zugleich von einer >engen Koppelung< zwischen der "erweiterten Reproduktion" des Kapitalismus (Marx) und den flexibel-normalistischen Dispositionen und Diskursen spricht. 15 Die Koppelung sieht er vor allem in einer >kompensatorischen Funktion< der >chaotischen< Wachstumsraten des >entfesselten Kapitalismus< begründet, womit jedoch keineswegs das Problem, geschweige denn die Antwort erschöpft ist.

    Der vorliegende Band bezeugt den relativ problemlosen (>gleitenden<) Anschluß der Normalismusforschung an die verschiedenen soziologischen Theorien der Systemdifferenzierung, die ihr über die Schiene: Sinn, Diskurs, Kommunikation etc. sehr verwandt ist. Dieser Anschluß wird verschiedentlich mit begrifflichen Erweiterungen erreicht, die den (inter-)diskursiven Ansatz, von dem Link ausging, verlassen und in z. T. unproduktiver Weise die Kategorie "Normalität" als Schlüssel für die Moderne schlechthin totalisieren. Solche theoretischen Anschlüsse zu Großtheorien machen mißtrauisch.

    Den Anschluß des Normalismus an die traditionellen Fragestellungen der Soziologie der Arbeitsteilung, der Sozialstruktur und der sozialen Ungleichheit wird in den Aufsätzen, wie auch bei Link selbst, zwar zum Teil berührt, jedoch nicht ausreichend verfolgt. Eine Hypothese, die es weiter zu entwickeln gälte, sei abschließend formuliert: Normalistische Interdiskurse werfen sowohl in der horizontalen Achse der Arbeitsteilung (Produktivkräfte), als auch in der vertikalen Achse der Machverhältnisse (Produktivverhältnisse) breite >Netze sozialer Kohäsion< aus. Diese Netze sind extrem flexibel, und es muß geprüft werden, ob hier die Unterscheidungen "Oberfläche – Tiefe", "kurzweilig – longue durée" produktiv sind. Die sozialen Bedingungen der Möglichkeit der Produktion (Chiffrierung) wie auch Rezeption (Dechiffrierung) normalistischer Interdiskurse müßten weiter anhand von Fallstudien herausgearbeitet werden. Inwieweit lassen sich >Fronten< normalistischer Interdiskurse ausmachen und wie sind sie (lage- und geschlechtsspezifisch) verteilt im sozialen Raum? Inwiefern variieren in dieser Perspektive der sozialen Verteilung und Ungleichheit die Mechanismen und der Grad ihrer symbolischen Herrschaft, ferner ihrer Verinnerlichung (d. h. der >zweiten Natur< normalistischer Dispositive)?


    Dr. Heribert Tommek
    Anton-Saefkow-Str. 62
    D-10407 Berlin

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    Anmerkungen

    1 Ute Gerhard, Jürgen Link und Ernst Schulte-Holtey (Hg.): Infografiken, Medien, Normalisierung. Zur Kartografie politisch-sozialer Landschaften (Diskursivitäten 1) Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren 2001.   zurück

    2 Jürgen Link: Wie Normalität produziert wird. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996.   zurück

    3 Vgl. dagegen Link, Anm. 2, S. 26: "Es geht im folgenden ausdrücklich nicht um die Konstruktion einer neuen Globalformel in Konkurrenz zu den bekannten Formeln >Moderne< / >Modernisierung<, >Industrialismus<, >Kapitalismus<, >Bürokratie<, [...]". Ferner betont er, daß "Normalismus" nicht >flächendeckend< über die "Moderne" verbreitet sei.   zurück

    4 Zur kritischen Abgrenzung gegenüber der Systemtheorie, die ein >Problem< mit der Entdifferenzierung (etwa im Sinne des interdiskursiven Ansatzes) habe, s. Jürgen Link (Anm. 2), S. 172–184.   zurück

    5 Vgl. Links Auseinandersetzung mit Becks Ansatz einer "Risikogesellschaft", die signifikanterweise dessen Begriff einer (post-)industrialistischen Katastrophengesellschaft nicht kritisiert (etwa hinsichtlich der Negation einer Klassenstruktur), da er doch in vieler Hinsicht mit dem Normalismusansatz kompatibel ist (etwa hinsichtlich extrem flexibler Ordnungsumkehrungen). Kritisiert wird dagegen eine mangelnde Reflexion auf den flexiblen Normalismus (vgl. Hürgen Link [Anm. 2], S. 168–172; eine Kritik übrigens, der in Links Normalismusbuch kaum jemand entgeht, selbst Foucault nicht, dem auch eine nicht ausreichende Unterscheidung zwischen protonormalistischen und flexibel-normalistischen Strategien vorgehalten wird).   zurück

    6 Vgl. Links Auseinandersetzung mit Durkheims Soziologie, insbesondere mit dessen Studie über den Selbstmord, in dem Durkheim eine empirische Größe sah, anhand derer man den Intensitätsgrad der "Solidarität" und "Integration" (im Sinne eines >sozialen Bandes<, d. h. einer relationalen Beziehungsgröße) einer Gesellschaft messen könne. Auch Durkheim, der im Anschluß an Broussais und Comte an der Kontinuität von Normalem und "Pathologischem" ansetzt, weist Link "zwei Normalitäten" bzw. die Vermischung eines flexibel-normalistisches und eines protonormalistisches Begriffs (Durkheims normative Grenzziehung hinsichtlich "pathologischer" Formen und Wirkungen der Arbeitsteilung) nach (vgl. Jürgen Link [Anm. 2], S. 258–267).   zurück

    7 Zu Durkheim, der im vorliegenden Band weitgehend übergangen wird, s. u.; zur Kritik Goffmans Ausgangspunkt sozialer Ausnahmesituationen vgl. Willems: "Goffmans Rahmen-Analyse negativer Erfahrungen hat es also >fast ausschließlich mit Begebenheiten zu tun, wo zwei oder mehr Menschen unmittelbar anwesend sind: kurz mit >sozialen Situationen<<. Auf dieser Ebene liefert Goffman in der Tradition Durkheims eine Anomietheorie, die von dem Faktor der gesellschaftlichen Modernität weitgehend abstrahiert" (S. 60). Zur Kritik Elias' "Höfischer Gesellschaft" und Bourdieus Soziologie, die von ihr ausgehe, vgl. den Beitrag von Balke ("Der Zwang zum >Habitus<. Bourdieus Festschreibung des >subjektiven Faktors<", bes. 136) und weiter unten.   zurück

    8 Historische Blicke auf die wissenschaftliche Konstruktion des "Normalen" werfen im vorliegenden Band die Beiträge von Carson ("Abnormal Minds and Ordinary People. American Psychologists Discover the Normal") und Leuenberger ("The Social Construction of the Normal. A Study of the East German Psychotherapeutic Community in Transition"). Zu einer Darstellung, die die soziohistorischen Bedingungen und (wissenschaftspolitischen) Strategien der Erstellung von Intelligenz-Skalen von Alfred Binet aufzeigt, vgl. z. B. Patrice Pinell: "L'invention de l'échelle métrique de l'intelligence". In: Actes de la Recherche en Sciences Sociales, 108 (1995), S. 19–35.   zurück

    9 So verwarf Halbwachs in "La théorie de l'homme moyen. Essai sur Quetelet et la statistique morale" (Paris 1913) das mechanistische Bild, dessen epistemologischer Hintergrund ein letztlich physikalisches Verständnis des Gegenstandes bildet, und ging von der grundsätzlichen Heterogenität "natürlicher" (d. h. physikalisch-mathematischer) gegenüber gesellschaftlichen Tatbeständen aus: Dort bleibt der statistische "Durchschnitt" eines der wirksamsten Mittel zur Erkenntnis von Regelmäßigkeiten, hier aber ist es gerade die Diskontinuität statistischer Reihen, an deren Bruchstellen sich der "praktische Sinn" (Bourdieu) einer "kollektiven Psychologie" (Halbwachs) verschiedenster sozialer Gruppen zeigt.

    Für Halbwachs ging es also stets darum, den "Sinn" jener phänomenalen Zusammenhänge zu "verstehen", den die Statistik und ihr Durchschnittsmensch verbirgt, also jene unabhängigen soziologischen Einheiten, in denen sich die Realität einer "kollektiven Psychologie" ausdrückt (vgl. auch François Simiand: "Statistique et expérience, remarques de méthode", Paris 1922). Was Bourdieu angeht, so hat er insbesondere für die umfangreiche Analyse der französischen Gesellschaft in "La distinction" (dt. "Die feinen Unterschiede", Suhrkamp: Frankfurt / M. 1982) mit dem INSEE, dem Statistischen Amt Frankreichs (Alain Darbel, Jean-Paul Rivet u. Claude Seibel) zusammengearbeitet. Für Bourdieu war die Statistik wichtig, um die mit Anzeichen der Inkohärenz behafteten Wirklichkeit zu verstehen. Andererseits ging es ihm darum, den Fetichismus der Statistik zu bekämpfen, die den Forscher allzu oft in Versuchung führt, der >blinden Evidenz< der Zahlen und Symbole (Leibniz) zu erliegen.

    Daher sind kulturelle Modelle notwendig, um den Sinn bestimmter statistisch erfaßbarer Verhaltensweisen zu verstehen, denn diese können auch – entgegen dem von Link angeführten Beispiel des katalysatorischen Effekts des Kinsey-Reports über das Sexualverhalten einer Bevölkerung (vgl. Link, Anm. 2, S. 94–100) – Ausdruck von Ungleichzeitigkeiten, d. h. von persistenten (Wahrnehmungs- und Handlungs-)Ordnungen unterhalb der sich gewandelten Oberfläche sozialen Verhaltens sein. Schließlich kann man mit Bourdieu die Normalismusforschung daran erinnern, daß Meinungsumfragen, Datenerhebungen etc. u. U. den jeweiligen Akteuren bestimmte Problematiken, die nicht die ihrigen sind, aufdrängen (vgl. P. Bourdieu: "L'opinion publique n'existe pas". In: Questions de sociologie, Paris: Les Éditions De Minuit 1984, S. 222–235). So läßt sich auch behaupten, daß (Normalisierungs-) Fragen, selbst die allgemeinsten (die oft mit dem Körper zu tun haben: "Ist mein Gewicht normal?", "Ist unsere Sexualität normal?") nicht für alle und nicht in gleicher Weise relevant sind – von ihrem Grad der Verinnerlichung und des Einflusses auf tatsächliche Handlungen ganz zu schweigen (vgl. ähnliche Überlegungen der Herausgeber auf S. 15).   zurück

    10 Vgl. Jürgen Link (Anm. 2), S. 100–102.   zurück

    11 Vgl. Jürgen Link (Anm. 2), S. 148–155. Der Begriff der "Therapie für die Normalen" entstammt Robert Castels Buch: "La gestion des risques. De l'anti-psychiatrie à l'après-psychanalyse" (Paris 1981).   zurück

    12 Auf deutsch liegt nun vor: P. Bourdieu: "Die zwei Gesichter der Arbeit. Interdependenzen von Zeit- und Wirtschaftsstrukturen am Beispiel einer Ethnologie der algerischen Übergangsgesellschaft" (édition discours. Klassische und zeitgenössische Texte der französischsprachigen Humanwissenschaften 25) Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 2000.   zurück

    13 Vgl. Jürgen Link (Anm. 2), S. 259. Die Einleitung zur deutschen Ausgabe von Durkheims Studie "Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften" im Suhrkamp-Verlag (Frankfurt / M., 1992) schrieb bekanntlich Niklas Luhmann.   zurück

    14 Vgl. Links Anmerkung in Jürgen Link (Anm. 2), S. 224–235 (Auseinandersetzung mit Marx) und dem (zu) kurzen "Insert: Normalismus und Kapitalismus" (ebd., S. 235f.).    zurück

    15 ebd.   zurück