van Hoorn über Sonderegger: zu Herder

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Tanja van Hoorn

Auf der Suche nach Ideen
zu Herders Geschichtsphilosophie

  • Arno Sonderegger: Jenseits der rassistischen Grenze. Die Wahrnehmung Afrikas bei Johann Gottfried Herder im Spiegel seiner Philosophie der Geschichte (und der Geschichten anderer Philosophen) (Europäische Hochschulschriften 1 / 1840) Frankfurt / M. u.a.: Lang 2002. 217 S. Kart.
    EUR (D) 35,30.
    ISBN 3-631-39205-2.



Die anzuzeigende Studie setzt sich das Ziel, Herders in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit entwickelte Geschichtsphilosophie als wegweisenden Entwurf einer offenen, nicht der rationalistisch-eurozentrischen Fortschrittslogik gehorchenden Geschichtsschreibung vorzustellen. Der Verfasser geht davon aus, dass zwischen geschichtsphilosophischer Theorie und der konkreten Darstellung anderer Gesellschaften strukturale Parallelen bestehen. In diesem Sinne begreift er das spezifische Geschichtsverständnis Herders nicht nur als den übergeordneten Kontext, in dessen Rahmen die in den Ideen enthaltenen Passagen über Afrika und seine Bewohner zu lesen seien, sondern auch als eine Denkhaltung, die eine Ablehnung der zeitgenössischen Menschenrassen-Konzepte unmittelbar impliziere.

Forschungsdefizite

Sonderegger ist der Auffassung, eine "Verkennung Herders" sei "ein allgemeiner Zug" (S. 7), wobei er sich auf "die Durchsicht weiter Teile der Sekundärliteratur" (ebd.) beruft, die diesen Eindruck bestätigt habe. Deshalb versucht der Verfasser, Herder zu dem Recht zu verhelfen, das ihm bislang angeblich verweigert wurde. Bei einem Blick in das Literaturverzeichnis freilich fällt auf, dass maßgebliche Titel der neueren Herderforschung fehlen, wie überhaupt spezifisch Herder gewidmete bibliographische Hinweise in der Minderheit sind. Sonderegger begründet seine Auswahl damit, dass die Forschung zu Herders Geschichtsphilosophie "viel zu umfänglich [ist], um sie gänzlich in den Blick nehmen zu können" (S. 19). Daher meint er offenbar, sich "aus prinzipiellen wissenschaftlichen Gründen" (ebd.) auf die Beiträge konzentrieren zu dürfen, die "nicht im engeren Sinn ideengeschichtlicher oder philosophiehistorischer Art sind, sondern auf soziopolitische Dimensionen Bezug nehmen" (ebd.). Für eine Studie, die mit dem Anspruch antritt, "die innere Logik von Herders Geschichtsphilosophie aufzuzeigen und nachzuweisen" (ebd.), führt eine solche Einschränkung jedoch zwangsläufig dazu, dass sie hinter den status quo der Forschung zurückfällt.

Offensichtlich werden die problematischen Konsequenzen dieser eingeschränkten Wahrnehmung der Forschung beispielsweise an der Tatsache, dass der Verfasser die Beiträge von Wolfgang Proß, mithin dem Vertreter eines neuen Herder-Bildes gar nicht zu kennen scheint. Dies schmälert den Gewinn der vorliegenden Arbeit umso mehr, als sie, ausgehend von der These, dass Kants Verriss der Ideen die Geburtsstunde eines nicht nur einseitigen, sondern schlicht falschen Herderverständnisses sei, explizit das Anliegen formuliert, Herder gegenüber den von Seiten Kants erhobenen Vorwürfen zu rehabilitieren. Eine wesentliche Leistung der akribischen philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Forschungen von Proß ist es aber bekanntlich, die Ideen des >historischen Verlierers< Herder in einem interdisziplinären Wissensraum zu kontextualisieren und so gegenüber Kants Kritik ins rechte Licht zu setzen. Ohne einen auch nur annähernd vergleichbaren Forschungsaufwand zu betreiben, nähert sich Sonderegger mit dem Anliegen einer Verteidigung Herders also in gewisser Hinsicht Proß an, ohne sich dessen allerdings bewusst zu sein, da diese Forschung von ihm unberücksichtigt bleibt. 1 Aber auch in Hinsicht auf die im Untertitel bezeichnete konkrete Forschungsperspektive, Herders Afrika-Bild, befindet sich der Verfasser nicht auf dem neuesten Forschungsstand, wenn er Wolbert Smidts einschlägige Monographie ignoriert. 2

Zum Aufbau der Studie

Der Verfasser gliedert seine Untersuchung in vier Teile: "Einleitende Hinführung", "Herders Werk", "Rezeption" und "Schluss-Eröffnung". Nicht nur den vier Teilen, auch der Bibliographie stellt der Verfasser Motti von Clifford Geertz, Johann Gottfried Herder, Claude Lévi-Strauss, Roland Barthes, Friedrich Dürrenmatt, Maurice Merleau-Ponty und Aristoteles voran, um auf die "Bindung" bzw. das "Verhältnis zwischen Texten und Kontexten" (S. 8) hinzuweisen. Methodisch situiert sich der Verfasser mithin im Feld von (Post-) Strukturalismus, New Historicism und Dekonstruktion, ohne dies allerdings zu explizieren.

Das Konzept der >Rasse<
als kulturelles Ausgrenzungskonzept

In seinen einleitenden Begriffserklärungen unterstreicht Sonderegger, dass der Terminus >Rasse< als ein rein gesellschaftliches Konstrukt, nicht als Beschreibung einer biologischen Gegebenheit begriffen werden müsse. Diese – zum Allgemeinplatz gewordene – Aussage wird, auch darauf weist der Autor hin, "selbst durch neuere biologische Forschungen untermauert" (S. 31). Sondereggers Skizze der Menschenrassendebatte im 18. Jahrhundert (vgl. S. 30–39 u. S. 102–112) ist in methodisch fragwürdiger Weise durch diese heutige Perspektive strukturiert. So darf wohl bezweifelt werden, ob man der historischen Entwicklung des Konzeptes >Rasse< gerecht wird, wenn man es schlicht als "Schimäre einer klassifikatorischen Psychose" (S. 32) tituliert.

Im Einzelnen zeichnet Sonderegger folgendes Bild. Der "wissenschaftliche Rassismus", der natürliche und soziale Merkmale miteinander verknüpft und mit einer Hierarchisierung einhergeht, hat mit Linnés Klassifikationsmodell begonnen. Schon Linnés Modell muss als ein kulturelles Ausgrenzungskonzept verstanden werden, das seine Legitimität durch den Hinweis auf eine angebliche Natur zu postulieren versucht (vgl. S. 105f.). Diese Tradition, die von einer "irrealen Eindeutigkeit" (S. 106) der Merkmale ausgeht, findet im 18. Jahrhundert in Kants Überlegungen zum Begriff >Rasse< ihren Höhepunkt.

Eine detailliertere Darstellung von Kants Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse (1785) sucht man hier vergeblich. Vielmehr blendet Sonderegger diesen Text mit dem Aufsatz Von den verschiedenen Rassen der Menschen (1775) ineinander und überliest die Abweichungen zwischen beiden Aufsätzen. So entgeht ihm, dass Kant nur 1775 eine gemeinsame Stammgattung aller bestehenden Rassen annimmt, deren Aussehen man sich als "Weiße von brünetter Farbe" (S.108) vorstellen müsse. Zehn Jahre später hingegen weist er ausdrücklich darauf hin, dass man über die Hautfarbe der ursprünglichen Menschen nichts wissen könne.

Schlimmer als diese Ungenauigkeit ist Sondereggers Unterstellung, dass Kant im Zusammenhang mit seiner 1775 formulierten Annahme einer weißen Stammgattung davon ausgehe, "Menschen anderer Hautfarbe" seien "entartet" (S. 108): Mit der Bezeichnung "entartet" nämlich führt der Verfasser einen Begriff ein, der spätestens seit der Rassenideologie des Dritten Reichs zum Signum einer menschenverachtenden Verbindung von wissenschaftlicher Rassenforschung und rassistischer Verachtung des Anderen geworden ist. Bezogen auf Kants Deduktion des Terminus >Rasse< aber ist der Begriff "entartet" schlicht sachlich falsch.

Denn erstens verwendet Kant dieses Wort gar nicht. Zweitens aber unterscheidet er zwischen zwei anderen Begriffen: Einerseits skizziert er das Phänomen der >Ausartung<, unter der er eine degenerierte Abweichung von einer ursprünglichen Form versteht. Kants Begriff der Ausartung oder auch degeneratio deckt sich folglich mit dem heutigen Begriff der Entartung. Dem stellt Kant andererseits den Terminus der >Abartung< gegenüber. Unter einer Abartung versteht er eine durch bestimmte äußere und innere Bedingungen entstandene, mit spezifischen erblichen Merkmalen ausgestattete Variante einer Spezies. In diesem Sinne bezeichnet Kant alle vier Menschenrassen (inklusive der Weißen!) als Abartungen. Entgegen der Darstellung Sondereggers versteht Kant eine Rasse explizit also gerade nicht als eine Aus- bzw. Entartung (nachzulesen in Kants Über den Gebrauch der teleologischen Principien).

Festzuhalten ist: Da der Verfasser von vornherein der Ansicht ist, dass sich klassifikatorisches Denken und rassistisches Denken bei Kant zu einem "wissenschaftlichen Rassismus" vereinen, meint er offenbar berechtigt zu sein, es mit den konkreten Definitionen und Argumentationen nicht so genau nehmen zu müssen. Er illustriert seine These mit einer Auswahl teilweise sinnentstellend zitierter Textbeispiele. Eine seriöse Darstellung liegt mit anderen Worten nicht vor.

Herder –
ein >Evolutionstheoretiker<

Der von Linné zu Kant verlaufenden Traditionslinie eines "wissenschaftlichen Rassismus" stellt der Verfasser nun die Geschichtsphilosophie Herders gegenüber. Im Zentrum dieser "anthropologischen Geschichtsphilosophie" (S. 15) steht Sonderegger zufolge die Überzeugung, dass neben der Anlage zur Geselligkeit die Fähigkeit zu geistiger und kultureller Entwicklung das wichtigste Charakteristikum des Menschen darstellt. Diese Entwicklungsfähigkeit ist im Körper eines jeden Menschen als Möglichkeit angelegt und wird in den verschiedenen Kulturen auf verschiedene Weise entfaltet. Natur- und Kulturgeschichte greifen also unmittelbar ineinander und erzeugen eine unendliche Erscheinungsvielfalt, deren einzelne Elemente durch feinste Übergänge miteinander verbunden sind. Diese Mannigfaltigkeit innerhalb der Gattung Mensch kann mit Kants Rasse-Begriff nicht erfasst werden und Herder weist daher diesen Terminus zurück.

Dem "modischen Konzept der Rasse" (S. 70), das sich auf Differenzkriterien wie die Hautfarbe beruft, die er Sonderegger zufolge als "oberflächlich und unwesentlich" erkennt (S. 71), stellt Herder nun ein dynamisches, Vielfalt und Entwicklung betonendes Modell gegenüber. Sonderegger erblickt in Herders Geschichtsphilosophie eine "Evolutionstheorie" (S. 88), die "der Einheit in [der] Vielfalt" (S. 97) nachgeht und die Menschheitsgeschichte "als einen Prozeß der Entfaltung aller Möglichkeiten" (S. 96) interpretiert. Sonderegger vertritt also die These, dass Herder im Gegensatz zu Kant der "Rang eines Evolutionstheoretikers" (S. 14) zukommt, denn seine "anthropologische Geschichtsphilosophie" konzipiert den Menschen wie alles Lebendige prinzipiell als wandelbar. Herder hat demnach eine "Möglichkeitsphilosophie" (S. 59) entworfen und setzt gegen die Vorstellung einer automatischen Progression "das Modell einer Welt, der Veränderung und Wandlung natürlich sind, aber keines, das einen linearen Fortschritt implizieren würde." (S. 59)

Ganz anders stellt sich in Sondereggers Augen der geschichtsphilosophische Entwurf Kants dar, der eine "unilineare Entwicklung der Geschichte" (S. 165) annimmt und dessen Philosophie "zutiefst vom Wunsch nach Dauer, nach Statik, Ruhe und Ordnung beseelt [ist]" (S. 169). Bei ihm erscheint Kant – was höchst merkwürdig anmutet – als ein "unkritisch[er]" und "unreflektiert[er]" (S. 165) Feind der Aufklärung (vgl. S. 169f.). Deutlich wird nicht nur an dieser Stelle, dass es dem Verfasser nicht so sehr um eine differenzierte Darstellung konkurrierender Modelle zu tun ist, sondern um eine Apologie des >historischen Verlierers< Herder. Dass er auch dabei nicht überzeugen kann, liegt daran, dass er sich entgegen der eigenen Ankündigung nicht intensiver auf die Quellen und Hintergründe einlässt und daher auch hier über Allgemeinplätze letztlich nicht hinauskommt.

Das Denken des >Anderen<
in Herders Sicht der Afrikaner?

Entgegen der vom Untertitel des Buches geweckten Erwartung umfasst die Analyse von Herders in den Ideen enthaltenen Darstellungen Afrikas und der Afrikaner nur zwanzig Seiten. Darin unterstreicht Sonderegger, dass Herder "der Gefahr von Stereotypisierungen in seinen Beschreibungen fremder Gesellschaften" (S. 113) zwar nicht entkommen sei, in seinen Darstellungen und Beurteilungen von Afrikanern aber "eine merkwürdige Ambivalenz" (S. 121) auffalle. Sein Ergebnis ist, dass Herder die Afrikaner weder schlicht dämonisiert, noch durchgehend idealisiert (etwa im Sinne des >edlen Wilden<), vielmehr sei sein Blickwinkel letztlich immer von einem seine Geschichtsphilosophie grundierenden "Relativismus" (S. 121) bestimmt. In diesem Relativismus sieht Sonderegger nun die erkenntniskritische Position, die die positive Wirkmächtigkeit des herderschen Geschichtsentwurfs garantiert. Denn durch den "wissenschaftlichen, prinzipiell offenen Charakter seiner evolutionären Geschichtsphilosophie wird das stereotype Berichtmaterial der Reisenden und Missionare, aus dem Herder seinen Anschauungsstoff bezieht, seiner (wiewohl im Text verbleibenden) Stereotypie entkleidet und (außerhalb des Textes, im Denken über den Text) zum flexiblen Mittel der Typisierung des Anderen." (S. 121) Das >andere Denken< Herders ermögliche also noch da ein Denken des Anderen, wo es dies auf der textuellen Oberfläche scheinbar konterkariert.

Fazit:
Herder vs. Hegel und Kant

Im Vergleich dazu heißt es über Hegels angeblich von "Egozentrik" (S. 164) bestimmter "Philosophie der Geschichtslosigkeit" (S. 156), dass sie eine systematische "Exklusion des Anderen, des Fernen, des Fremden" (S. 158) vollzogen habe, da sie nichteuropäischen Völkern Geist und Geschichte rundheraus abspreche. In Bezug auf die Philosophie Hegels wie auch Kants zeigt sich der Verfasser also weniger geneigt, zwischen konkreten Textstellen und der Leistung des denkerischen Entwurfs zu unterscheiden. Dies steht unübersehbar im Dienste der Eindeutigkeit der Botschaft: Ein Denken "jenseits der rassistischen Grenze", so soll der Leser am Ende verstanden haben, ermöglicht zwar Herders, nicht aber Kants oder Hegels geschichtsphilosophischer Ansatz. Glaubwürdig bewiesen wird diese reichlich schlicht anmutende These nicht, sondern sie wird mit Hilfe einer polarisierenden, simplifizierenden Darstellungsweise und in einem teilweise reißerisch-populärwissenschaftlichen Stil in Szene gesetzt. Weder Kant noch Hegel ist so beizukommen. Und was den Verfasser der Ideen anbelangt, so ist man am Ende versucht auszurufen: Schützt Herder vor seinen falschen Freunden!


Dr. des. Tanja van Hoorn
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung
Franckeplatz 1, Hs. 54
D - 06110 Halle/Saale

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Ins Netz gestellt am 03.07.2003
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Gabriele Dürbeck. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Karoline Hornik.


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Anmerkungen

1 Vgl. z. B. Proß, Wolfgang: "Ein Reich unsichtbarer Kräfte". Was kritisiert Kant an Herder? In: Scientia Poetica 1 (1997), S. 62–119. Die von Proß herausgegebene und kommentierte Ausgabe der Ideen (Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 2 Bde. München, Wien 2002) erschien zeitgleich mit Sondereggers Arbeit und konnte daher von ihm nicht benutzt werden.    zurück

2 Smidt, Wolbert: Afrika im Schatten der Aufklärung: das Afrikabild bei Immanuel Kant und Johann Gottfried Herder. Bonn 1999.   zurück