van Hoorn über Nowitzki: Aufklärungsanthropologien

IASLonline


Tanja van Hoorn

Maschinenmodell,
dynamischer Vitalismus, Seelenorgan.
Neues zur Geschichte der Anthropologie
des 18. Jahrhunderts

  • Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 25 [259]) Berlin / New York: de Gruyter 2003. XI / 458 S. Geb. EUR (D) 108,-.
    ISBN 3-11-017725-0.


Seit gut zwei Dekaden widmen sich Aufklärungsforscher mit unvermindertem Elan dem weiten Feld anthropologischer Diskurse. Sie sondieren die vielfältigen psychologischen, physiologischen und philosophischen Versuche einer Aufklärung über den >ganzen Menschen<, studieren empirisch-ethnologische wie experimentell-spekulative Skizzen über die menschliche Natur, lesen literarische und außerliterarische Texte als transdisziplinäre anthropologische Quellen und suchen nach Spuren und Wurzeln der Wissenschaftsdisziplin Anthropologie.

Eine Schlüsselstellung für die Erforschung einer Anthropologie der Aufklärung wurde dabei von Beginn an den sogenannten >philosophischen Ärzten<, namentlich Ernst Platner und seiner 1772 erschienenen Anthropologie für Ärzte und Weltweise zugesprochen. In seiner Vorrede formuliert Platner eine in der dishuitièmistischen Anthropologieforschung unablässig zitierte und vor einigen Jahren sogar als "Gründungsformel" 1 bezeichnete Definition der Wissenschaft Anthropologie: In Abgrenzung zur allein den Körper betrachtenden Anatomie oder Physiologie einerseits und der allein die Seele beobachtenden Psychologie andererseits dürfe als Anthropologie nur die Wissenschaft bezeichnet werden, die "Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammen betrachtet". 2

Platner gelang mit dieser selbstbewussten Bestimmung der Anthropologie als Commercium-Wissenschaft eine bis in die heutige Forschung spürbare Monopolisierung des Anthropologie-Begriffs. In jüngerer Zeit aber mehren sich die Stimmen, die die Bedeutung der Platnerschen Anthropologie relativieren. So wurde einerseits auf die Vielzahl konkurrierender Anthropologie-Begriffe und -Konzepte verwiesen 3 und andererseits aufgezeigt, daß die mit dem Namen Platner assoziierte Anthropologie als Commercium-Wissenschaft bereits in den Schriften einer Reihe von Psychomedizinern im frühaufklärerischen Halle freigelegt werden kann. 4

Die anzuzeigende Studie verknüpft gewissermaßen diese beiden aktuellen Forschungstendenzen, ohne sich freilich auf die offenbar erst während der Schlußphase erschienenen einschlägigen Publikationen zu beziehen. Sie spürt zunächst die Anfänge aufklärerischer Anthropologie in den 1740er Jahren in Halle auf und verfolgt diese Spur dann zur neurophysiologisch fundierten vitalistischen Anthropologie des in Halle ausgebildeten und in Altona praktizierenden Arztes Johann August Unzer. Gegenüber den in Halle entwickelten Konzepten wird dann Ernst Platners Anthropologie für Ärzte und Weltweise als eine Schrift vorgestellt, die hinter den erreichten status quo zurückfällt. An Johann Karl Wezels Versuch über die Kenntniß des Menschen (1784 / 85) zeigt Nowitzki schließlich, wie sich eine spätaufklärerische Anthropologie gerade nicht auf die Anthropologie Platners, sondern vielmehr auf die Physiologie Unzers bezieht.

Zielsetzung:
Anthropologien des 18. Jahrhunderts
in Hinblick auf Wezels Versuch

Die Untersuchung gliedert sich in eine Einführung, zwei jeweils zweigeteilte Hauptteile und einen Anhang mit vertiefenden wissenschafts- und ideengeschichtlichen Exkursen. Bereits beim ersten Blick in das Inhaltsverzeichnis vermisst man einen Schluss oder eine Zusammenfassung – nach der Lektüre des Buches ist dieses Gefühl eher stärker als schwächer geworden.

Lässt der Titel eine Überblicksdarstellung zu "Aufklärungsanthropologien im Widerstreit" erwarten, so schränkt der Verfasser einleitend ein, sowohl "Ausgangspunkt" als auch "Endpunkt" (S. 1) der Studie sei Wezels Versuch über die Kenntniß des Menschen. Nicht also >alle< "Aufklärungsanthropologien" werden in ihren widersprüchlichen Konzeptionen vorgestellt, sondern nur diejenigen, die Nowitzki für Wezels Versuch für wesentlich erachtet.

Konkret nimmt er sich vor, die Wezel-Forschung in zweierlei Hinsicht zu korrigieren. Gegen die materialistische Deutung Wezels führt Nowitzki überzeugend ins Feld, dass die Verwendung des Denkmodells eines Körpers als >Maschine< nicht ahistorisch als Materialismus interpretiert werden dürfe. Das Maschinenparadigma sei im 18. Jahrhundert nämlich ein offenes Modell, das nicht nur mechanistischen, sondern auch vitalistischen Entwürfen zugrundelegt werde. Eine ideen- und problemgeschichtliche Kontextualisierung zeige zweitens, dass Wezels Anthropologie nicht etwa ">in allzu enger und darum verleugneter Anlehnung< an Platners Anthropologie für Ärzte und Weltweise von 1772 entstanden [sei], wie Kosenina herausgearbeitet zu haben glaubt" (S. 6). 5 Vielmehr liege ihr "Unzers vitalistische Zoonomie und die mechanische Psychologie à la Bonnet" (S. 7) zugrunde. Wenn Wezel in seinem Versuch "einen in seiner Zeit singulären holistisch-sensualistischen Anthropologie-Begriff" inauguriere (S. 9), so stehe er damit in einer Anthropologietradition, in der Empfindungen als Beobachtungsfeld der wechselseitigen Beeinflussung von Körper und Seele den Mittelpunkt bildeten. Die Wurzeln dieser Tradition aber führen nach Halle an der Saale.

Krüger und Unzer:
Mechanistische und vitalistische Empfindungsgesetze

Die Geschichte des Empfindungsbegriffs zwischen 1740 und 1780, die Nowitzki im ersten Hauptteil seiner Studie nachzeichnet, beschreibt er als eine Geschichte in zwei Entwicklungsetappen. In seinem iatromechanischen Entwurf formuliert der Hallesche Mediziner Johann Gottlob Krüger in den 1740er Jahren sein einflußreiches >Empfindungsgesetz<, nach dem auf jede Empfindung der Seele eine Bewegung des Körpers erfolgt, die dieser proportional ist. Das Ineinandergreifen von Körper und Seele funktioniert nach Krüger durch die Nerven, die er hinsichtlich ihrer Spannung (scharf vs. schlaff) und Beschaffenheit (grob oder zart) unterscheidet. Krügers "nervöse Empfindungslehre" (S. 78) fußt in Nowitzkis Augen über weite Strecken noch im mechanistischen Denken des
17. Jahrhunderts.

In den 1770er Jahren gelingt seinem Schüler Johann August Unzer dann eine neurophysiologisch fundierte vitalistischen Neuformulierung dieses Gesetzes. Unzer, der auf die Irritabilitäts- und Sensiblitätslehre Albrecht von Hallers aufbaut, differenziert zwischen körperlichen Empfindungen und seelischen Gefühlen und stellt in seinem differenzierten System nervöser Körperbewegungen die neue Kategorie der >Nervenkraft< ins Zentrum. In ihr erblickt er eine lebendige Kraft, mit deren Hilfe die unterschiedlichsten dynamischen Prozesse im lebendigen Körper verstanden werden können (vgl. inbes. das Schaubild S. 153). Im Unterschied zu dem ungeachtet des Potentials der eigenen Theorien weithin in mechanistischen Bahnen denkenden >Vater< des Vitalismus Albrecht von Haller ist Unzer damit ein früher Vertreter des neuen vitalistischen Paradigmas.

Platners zweifacher Rückschritt:
vom Mechanismus zum Animismus

Im zweiten Hauptteil wirft Nowitzki nun einen kritischen vergleichenden Blick auf "Paradigmen spätaufklärerischer Anthropologiekonzeptionen (1770–1790)", d.h. auf Platner einerseits und Wezel andererseits.

In seiner Analyse der Anthropologie-Entwürfe Platners von 1772 und 1790 geht Nowitzki von der These aus, dass Platner in seinen Anthropologien als "Mediziner [...] einen Großteil der seit Anfang des Jahrhunderts mühsam erworbenen Kenntnisse und Einsichten" preisgebe und "recht unvermittelt zu damaligen Ansichten [zurückkehre]" (S. 165). Platners Anthropologie von 1772 ist in Nowitzkis Augen einem "binarische[n] Schematismus" (S. 181) verpflichtet, der nur die konkurrierenden Konzepte des Mechanismus und Animismus, nicht aber das zukunftsweisende Modell des Vitalismus kenne. Folgerichtig seien die zeitgenössischen Reaktionen auf Platners Anthropologie nicht etwa, wie in der Forschung bislang behauptet, positiv, sondern im Gegenteil überwiegend kritisch. Folgt Platner 1772 zunächst noch einem mechanistischen Ansatz in der Nähe zu Hallers Irritabilitätslehre, so zieht er sich 1790 auf einen >psychovitalistischen< Animismus Stahlscher Prägung zurück. Damit jedoch rekurriert er in der Tat auf ein überwundenes Paradigma, das in der Jahrhundertmitte insbesondere in Halle erbittert diskutiert und schließlich zugunsten nicht länger metaphysischer, sondern (neuro-)physiologischer Konzepte ad acta gelegt wurde.

Wezels "experimentelle Anthropologie"

Nach der Destruktion der Platnerschen Anthropologie-Konzepte nähert sich Nowitzki schließlich der Anthropologie Wezels über dessen Bekenntnis, seine philosophischen Grundsätze verdanke er neben Lockes Essay concerning human understanding einer in der ADB erschienenen Rezension der Physiologie (1771) Unzers. Kann man in Wezels literarischen Werken und Theaterkritiken das titelgebende Ideal des "wohl temperirte[n] Menschen, bey welche[m] Verstand und Einbildungskraft sich die Wage halten" (S. 270) aufspüren, so nähert sich Wezel diesem >ganzen Menschen< theoretisch – hier kommt Nowitzki auf einen Hinweis aus seiner Einführung zurück – über die vitalistische Physiologie Unzers und die mechanistische "Assoziationspsychologie" (S. 263) Charles Bonnets. Unklar bleibt, weshalb Nowitzki die Bezüge zu Unzer im ersten Teil breit expliziert, man eine systematische Darstellung der psychologischen Konzepte Bonnets und der Art und Weise des Wezelschen Bezuges auf diese jedoch vergeblich sucht. So bleibt eines der beiden Standbeine der Wezelschen Anthropologie wacklig: Inhalt und Tragweite der "Assoziationspsychologie" Bonnets muß vom Leser aus den en passant gegebenen Informationen erschlossen werden. Das ist gerade bei einer ansonsten so genauen und informativen Studie unbefriedigend.

Wodurch ist Wezels "experimentelle Anthropologie" nun charakterisiert? Wie schon Krüger und Unzer geht es Wezel in seinem Versuch "um nomologische Fixierungen des Commercium mentis et corporis" (S. 297). Er folgt dabei einem "methodischen Mechanismus" (S. 299) und fordert den Leser dazu auf, sich selbst versuchsweise als einen vollkommenen Automaten zu betrachten. Zwar habe Wezel diesen "operativen Ansatz" im Unterschied zu Condillac, Bonnet und Diderot nicht konsequent verfolgt, dennoch müsse sein Versuch als ein "einzigartiges originelles Experiment, das so weder Condillac noch Bonnet intendiert noch durchgeführt hatten," angesehen werden (S. 299 f.). Einzigartig ist der Versuch zunächst einmal durch seine Form: Wezel präsentiert seine Überlegungen bewußt nicht schulphilosophisch wie Platner es in seiner Anthropologie getan hatte, sondern gibt seiner Anthropologie im Gegenteil eine essayistisch-popularphilosophische Form, die sich meisterhaft verschiedener literarischer Strategien bedient. Inhaltlich geht Wezel über die von Unzer formulierten neurophysiologischen Gesetzmäßigkeiten hinaus, indem er "zwischen Nerv, Gehirn und Seele auch autark wirkende Seelenorgane plaziert hat, die selbst eine maschinale Struktur aufweisen" (S. 326). Wezels verknüpfe Unzers Neurophysiologie mit Bonnets Assozoationspsychologie zu einer "panassoziativen Anthropologie" (S. 332), die auch als "Assoziationsphysopsychologie" (S. 333) bezeichnet werden könne. Es sei dahingestellt, ob derartige terminologische Ordnungsversuche nicht letztlich doch mehr Verwirrung als Klarheit schaffen.

Sehnlichst erwartet man nach dem langen Gang von Krüger über Unzer und Platner zu Wezel eine ordnende Zusammenfassung der verschiedenen Anthropologiekonzeptionen. Aber ebenso wie dem Leser die Lektüre dieses materialgesättigten und nicht immer gut geordneten Buches nicht durch zusammenfassende Zwischenresümees erleichtert wird, endet es nach einer Darstellung der "Probleme der terminologischen Fixierung und literarischen Darstellung von Empfindungen auf der Grundlage sensualistischer Anthropologie" – so der Titel des letzten Unterkapitel – mehr oder weniger unvermittelt.

Fazit

Der Verfasser legt mit seiner Dissertation eine genaue wissenschaftshistorische Untersuchung zu anthropologischen Konzepten der Aufklärung vor, deren größte Stärke in der quellennahen Rekonstruktion wichtiger, wenngleich bislang teilweise kaum berücksichtigter Texte besteht. So schließt Nowitzki eine wichtige Lücke in der Wezel-Forschung, indem er die bisherige Konzentration auf die Anthropologie Platners als Irrweg herausstellt und im Gegenzug mit der Physiologie Unzers eine bislang kaum beachtete Wurzel Wezelschen Denkens herausarbeitet. Insbesondere in seiner Darstellung dieser neurophysiologischen Konzepte Unzers betritt Nowitzki absolutes Neuland, das er detailliert und kenntnisreich erschließt. Die kritische Relektüre der Anthropologien Platners von 1772 und 1790 bereichert die aktuelle Anthropologie-Diskussion um einige wichtige Hinweise und Argumente für die Frage nach der Bedeutung Platners. Diese beiden Teile können auch als autonome Forschungsbeiträge gelesen werden und sind nicht allein als Hinleitung zur Anthropologie Wezels angelegt. Im Gegenzug allerdings vermisst man im Wezelteil das systematischere Aufarbeiten einiger als zentral behaupteter Hinweise (Bonnet).

So bleibt am Ende trotz der beeindruckenden Erschließung wissenschaftgeschichtlicher Zusammenhänge ein etwas zwiespältiger Eindruck. Vielleicht hätten die drei Ziele, die diese Arbeit hinsichtlich der Anthropologie-Geschichtsschreibung verfolgt

  1. Aufwertung von Unzers vitalistischer Nervenkraft-Theorie gegenüber Hallers mechanistischer Irritabilitätslehre,
  2. Revision der Bewertung Platners als zentrale Wegmarke einer aufklärerischen Anthropologie,
  3. Rekonstruktion von Wezels Versuch als einer zentralen Anthropologie der Spätaufklärung

doch den Stoff für drei Arbeiten abgegeben? Sei's drum: fraglos ist, daß Wezel – ebenso wie Anthropologieforscher Nowitzkis Studie nicht nur mit Interesse, sondern auch mit Gewinn lesen werden.


Dr. des. Tanja van Hoorn
Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg
IZEA
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D - 06110 Halle / Saale
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Ins Netz gestellt am 26.11.2003
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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Karoline Hornik.


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Anmerkungen

1 Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 6 [240]). Berlin / New York 1996, S. 29.
Vgl. die Rezension von Walter Erhart in IASLonline:
http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/erhart.htm.   zurück

2 Ernst Platner: Anthropologie für Ärzte und Weltweise. Erster Teil [kein weiterer erschienen]. Mit einem Nachwort hg. v. Alexander Kosenina. Hildesheim / Zürich / New York 1998 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1772].    zurück

3 Vgl. z.B. die Einleitung der Herausgeber in: Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800. Hg. v. Maximilian Bergengruen, Roland Borgards u. Johannes Friedrich Lehmann (Stiftung für Romantikforschung 16) Würzburg 2001, S. 7–14, hier S. 8.    zurück

4 >Vernünftige Ärzte<. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Aufklärung. Hg. v. Carsten Zelle. Tübingen 2001.   zurück

5 Vgl. Alexander Kosenina: Ernst Platners Anthropologie und Philosophie. Der philosophische Arzt und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul. Würzburg 1989.   zurück