Viehöver über Barner: Goethe und Lessing.

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Vera Viehöver

Goethe und Lessing —
Anatomie einer "Vergegnung"

  • Wilfried Barner: Goethe und Lessing — Eine schwierige Konstellation. (Kleine Schriften zur Aufklärung, hg. von der Lessing-Akademie Wolfenbüttel, 10) Göttingen: Wallstein 2001. 56 S. 14 Abb. Kart. DM 28,-.
    ISBN 3-89244-408-0.


Mit dem hier vorgestellten Beitrag zum Verhältnis von Goethe und Lessing legt der Göttinger Germanist Wilfried Barner bereits seine zweite Arbeit 1 innerhalb der von der Lessing-Akademie Wolfenbüttel 1988 begonnenen und seitdem in lockerer Folge fortgesetzten Reihe "Kleine Schriften zur Aufklärung" vor, deren erklärtes Ziel es ist,

Texte und Abhandlungen zur Erforschung des Lebens, des Werks und der Zeit G. E. Lessings und darüber hinaus der Aufklärung in allen ihren Erscheinungsformen, ihrer Wirkung und Bedeutung bis in die Gegenwart 2

nicht allein einem fachwissenschaftlichen Publikum, sondern einem breiteren Leserkreis nahezubringen. Allen innerhalb dieser Reihe erschienenen Arbeiten, so auch dieser, ist die knappe, konzentrierte Form der Studie eigen, deren Umfang selten hundert Seiten überschreitet und die auch in der äußeren Gestaltung (zahlreiche Abbildungen) dem Anspruch Rechnung trägt, das Interesse eines nicht wissenschaftlich vorgebildeten Lesers zu gewinnen.

Zum methodischen Ansatz

Goethe und Lessing? fragt sich der Leser angesichts des Titels, ist zu diesem Thema nicht längst alles gesagt? Sind nicht seit langem alle Fakten bekannt, die für die Aufarbeitung des Verhältnisses der beiden großen >Nationalautoren< des 18. Jahrhunderts eine Rolle spielen könnten, und sind nicht auch die Einflüsse der innovativen dramentheoretischen und -praktischen Arbeit des Älteren auf das Schaffen des Jüngeren bereits bis ins kleinste Detail analysiert und die Ursachen der skeptischen Haltung des Aufklärers gegenüber dem jungen Genie sowohl in ihrer psychologischen wie auch in ihrer sachlichen Dimension hinreichend geklärt?

Der sowohl in der Lessing- als auch in der Goethe-Forschung ausgewiesene Verfasser ist sich der gesättigten Forschungslage im Hinblick auf diese Fragen selbstverständlich bewußt — und hält es dennoch für gerechtfertigt, das alte Thema neu aufzurollen. Ohne die biographisch-personalen Implikationen des Verhältnisses zwischen Goethe und Lessing ignorieren zu wollen, stelle sich ihm bei diesem Thema "nicht zunächst die Frage nach Psychologie, auch nicht nach den biographischen Voraussetzungen", es gehe ihm vielmehr "zuvörderst um die historische Konfiguration" (S. 1). Mit diesem Terminus wie auch mit dem im Untertitel exponierten Begriff der >Konstellation< lehnt er sich ausdrücklich an die Terminologie Pierre Bourdieus an, wie dieser sie in der Soziologie der symbolischen Formen und in Die Regeln der Kunst entwickelt hat, und verweist zudem auf Michael Böhlers 1995 im Goethe-Jahrbuch erschienenen Aufsatz zur Relation zwischen Goethe und Schiller 3 als Modell für die eigene Arbeit.

In der Tat: Was Böhler im Hinblick auf seinen Ansatz formuliert, kann mit Fug und Recht auch auf Barners Vorgehensweise bezogen werden: Nicht eine weitere kritische Bilanz der persönlichen und literarischen Beziehung Goethe-Lessing will er liefern, sondern eine "Kritik der Bilanz bzw. eine Analyse des Phänomens der Bilanzierung als topologischer Grundfigur" 4 in der Deutungsgeschichte des Verhältnisses der beiden Autoren. Die "jeweiligen Ausgangspositionen und ihre >Konditionen< möglichst präzise zu fassen" (S. 12), ist das primäre Ziel dieser Untersuchung, die damit zugleich eine kritische Rekapitulation der Forschungsgeschichte und den Versuch einer Neudeutung unternimmt.

Goethe und Lessing in nationaler Perspektive

Den Grundstein in der langen Geschichte der Bilanzierungen des Verhältnisses Lessing-Goethe legte im Jahre 1880 Woldemar Freiherr von Biedermann. 5 Für Biedermann, dessen Beitrag eine Art Bestandsaufnahme der expliziten und impliziten Stellungnahmen Goethes zum Werk Lessings darstellt, hat die Nicht-Begegnung der beiden Autoren — nicht einmal brieflich nahmen sie Kontakt zueinander auf — den Status einer Merkwürdigkeit, die zwar irritiert, letztlich jedoch nichts daran ändern kann, daß "der Eine der bedeutendste Vorgänger des Andern, der Andere der bedeutendste Nachfolger des Erstern" war. 6 Schon Biedermann ist die Vorstellung einer "unaufgelösten Dissonanz in der deutschen Literatur" 7 unerträglich, und er beeilt sich, sie zugunsten des Bildes vom deutschen Doppelgespann Lessing-Goethe zu verwerfen.

Julius Petersens fragwürdiges Verdienst war es dann, in einer vielbeachteten Ansprache zur Eröffnung des Braunschweiger Goethe-Lessing-Jahres 1929 8 das Doppelgespann zum "geheimen Triumvirat" (S. 12) Lessing-Goethe-Schiller zu erweitern und alle drei Autoren als Vorkämpfer des >deutschen Humanitätsideals< miteinander zu verbünden. In der Evokation eines imaginären, nach dem Vorbild des Weimarer Goethe-Schiller-Denkmales gestalteten Goethe-Lessing-Denkmales zwischen den Theatern von Braunschweig und Wolfenbüttel, mit der Petersens Rede schließt, dokumentiert sich einmal mehr der Wunsch nach Auflösung der Dissonanzen und Widersprüche im Verhältnis von Lessing und Goethe zugunsten des harmonisierenden Bildes zweier angesichts gemeinsamer Ziele vereinter >Nationalschriftsteller<. 9

Goethe- und Lessing-Forschung nach 1945

Beiträge, in denen das nationale Interesse derart unverhohlen zum Ausdruck kommt wie in dem Petersens, finden sich freilich nach 1945 nicht mehr. Der Schwerpunkt wird nun mehr auf die Analyse der Interdependenzen der jeweiligen Werke gelegt. Neben einer werkimmanent vorgehenden Untersuchung von Ilse Graham aus dem Jahr 1973 10 ist in diesem Zusammenhang vor allem eine Studie von Günter Schulz zu nennen, in der die Auffassungen beider Autoren zu verschiedenen thematischen Komplexen vergleichend gegeneinandergestellt werden. 11 Eine Aufklärung der soziohistorischen Konditionen des widersprüchlichen Verhältnisses Lessing-Goethe setzt sich Schulz ebenso wenig zum Ziel, wie einige Jahre später Wolfgang Albrecht, 12 dessen Verdienst für Barner darin liegt, erstmals die gemeinsame Teilhabe der beiden Autoren am aufklärerischen Erbe herausgearbeitet und zudem auf die große Bedeutung Oesers als Leitfigur für den Leipziger Studenten aufmerksam gemacht zu haben. Auch Johannes John liefert in seiner kürzlich erschienenen zusammenfassenden Darstellung des Verhältnisses 13 keine über den bisherigen Forschungsstand hinausgehende Erklärung für den Mißklang zwischen Lessing und Goethe, der doch trotz aller Glättungsversuche immer hörbar geblieben ist.

So hat Barners Anliegen, das Thema "Goethe und Lessing" mit Blick auf die soziohistorischen Voraussetzungen dieser vielbeachteten Beziehung noch einmal aufzugreifen, durchaus seine Berechtigung.

Konstellationen im literarischen Feld um 1774 / 75

Wie seine Vorgänger geht auch Barner von dem irritierenden Faktum der Nicht-Begegnung der beiden Autoren aus, setzt aber gleich einen anderen Akzent. Während Goethes vielzitierte Äußerung bei Erhalt der Nachricht von Lessings Tod — "Mir hätte nicht leicht was fatalers begegnen können als daß Lessing gestorben ist. Keine viertelstunde vorher eh die Nachricht kam macht ich einen Plan ihn zu besuchen. Wir verliehren viel viel an ihm, mehr als wir glauben." 14 — immer wieder als Ausdruck der eminenten Wertschätzung auch schon des jungen Goethe Lessing gegenüber interpretiert worden ist, macht Barner auf die "Unbestimmtheit" in Goethes Formulierungen aufmerksam, ja auf die "Reserve" und keineswegs "voll überzeugte Hochachtung" (S. 1), die aus den Worten "mehr als wir glauben" spricht. Daß es zur Begegnung mit Lessing nicht kam, ist für Barner nicht der >tragisch verpaßten Gelegenheit< geschuldet — diese gehört für ihn vielmehr zu den festen Topoi der Goethe-Lessing-Geschichtsschreibung —, sondern einem mehr oder weniger bewußten Ausweichen Goethes, dem es als dem Jüngeren angestanden hätte, den Kontakt aufzunehmen, und der durchaus Gelegenheit dazu gehabt hätte.

Die Ursache für dieses Ausweichen sucht er aber — anders als seine Vorgänger — weniger im Bereich des Psychologischen, als vielmehr in der Struktur des literarischen Feldes der Epoche, das durch die gleichzeitige Präsenz zweier Inhaber symbolischen Kapitals geprägt war: Lessings und Klopstocks. Der junge Goethe, der zu jener Zeit, um in Bourdieus Diktion zu bleiben, noch >Anwärter< auf eine etablierte Position im literarischen Feld war, hatte sich demnach, so sehr ihn auch Lessings Leistungen auf dem Gebiet des Theaters beeindruckten, den leidenschaftlichen Enthusiasten Klopstock zur Leitfigur erkoren, während er in Lessing vornehmlich den "faktische Macht ausübenden Kritiker", die "Institution des literarischen Lebens" (S. 16) sah. 15

Daß die Nicht-Begegnung Goethes und Lessings so häufig unter dem Signum der tragischen Verfehlung gesehen worden ist, erweist sich vom literatursoziologischen Standpunkt aus betrachtet insofern als Fehlinterpretation, als in dieser Sicht die in der Folgezeit sich vollziehende Verschiebung der Konstellationen innerhalb des literarischen Feldes nicht mit bedacht wird. Während sich nämlich Lessing, Goethe und Schiller bis ins 20. Jahrhundert hinein als >Triumvirat< deutscher >Nationalautoren< behaupten konnten, geriet Klopstocks Stern bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts ins Sinken. Dieses Faktum begünstigte die Verfestigung eines vereinseitigenden Goethe-Lessing-Forschungsparadigmas und ließ die komplexere Konstellation Lessing-Klopstock-Goethe außerhalb des Gesichtsfeldes der Forschung rücken.

Machtkampf der Generationen

Zudem leistete die Vernachlässigung der Rolle Klopstocks einer psychologisierenden Sichtweise auf das Verhältnis zwischen Goethe und Lessing Vorschub, die das Konfliktpotential der Beziehung eher auf der Ebene der Spannungen zwischen zwei Ausnahme-Persönlichkeiten, denn auf der der Machtkämpfe zwischen zwei Generationen sah. Zu Recht macht Barner in diesem Zusammenhang auf die Dominanz der "wir"-Referenz, d.h. der Generationen-Referenz, in den frühen Äußerungen Goethes zur Person und zum Werk Lessings aufmerksam (S. 19). In einem Exkurs zur Sicht Lessings auf Goethe legt Barner überzeugend dar, daß in der Lessingschen Skepsis gegenüber "Göthens und Lenzens Freibeutereien" 16 ebenfalls eine "entschiedene Gruppen- und Generationenperspektive" (S. 22) festgehalten ist. Diese zeige sich besonders deutlich in der komplexen Reaktion Lessings auf Goethes Sensationserfolg mit den Leiden des jungen Werthers, die der Verfasser ausführlich analysiert. Im Einklang mit der bisherigen Forschung verweist er zunächst auf Lessings Bekanntschaft mit Jerusalem und die daraus resultierende, persönlich motivierte Kritik an Goethes angeblich verfehlter Darstellung von dessen Charakter. Lessings Mißfallen an der Verwendung der Emilia Galotti in der Schlußszene des Werther dagegen interpretiert Barner im Kontext des Generationenkonflikts:

Er [Lessing] fühlte sich wohl auch mit seinem neuesten dramatischen Werk sozusagen in den Strudel des neumodisch-anarchischen Lebensstils hineingezogen, um nicht zu sagen: mißbraucht. (S. 26)

Aus Barners an Bourdieu orientierter Perspektive erweist sich der unterschwellig ausgetragene Generationenkonflikt zwischen Goethe und Lessing, den der Verfasser nicht nur am Beispiel von Lessings Reaktionen auf den Werther, den Götz und das Faust-Projekt, sondern umgekehrt auch anhand von Goethes Äußerungen u.a. zur Emilia Galotti nachweist, als Ausdruck charakteristischer Asymmetrien innerhalb des literarischen Feldes um 1774 / 1775, in dem Lessing als Repräsentant des Establishments und Goethe als Vertreter der aufstrebenden Avantgarde agierte (S. 28).

Die Asymmetrie der Wirkungsgeschichte

Eine "fundamentale Asymmetrie" (S. 37) macht Barner nicht zuletzt auch in der Wirkungsgeschichte Lessings und Goethes aus, wobei die Rollen nun gewissermaßen vertauscht sind: Der alte Goethe bekleidete längst die Machtposition im literarischen Feld, um die er Lessing einst beneiden mußte, und benutzte seine Autobiographie Dichtung und Wahrheit bewußt als wirkungsvolles Instrument zur Verbreitung und Kanonisierung seiner Sichtweisen und Wertungen. Während damit seine späte, zum Teil stereotypisierende Sicht auf Lessing ein für alle Mal festgeschrieben wurde, mußten Lessings in Briefen, Tagebüchern und Erinnerungen verstreute Äußerungen über Goethe mühsam zusammengesucht werden und konnten nicht annähernd die gleiche Wirkung entfalten. Dennoch, für Barner zeigt sich gerade in der "Haupttendenz" des 7. und 8. Buches von Dichtung und Wahrheit, nämlich "zu demonstrieren, wie die >nulle Epoche< beschaffen war, aus der die nationale Dichtergestalt emporstieg", daß "Lessing für den Goethe der Jahre 1811 / 1812 die spürbar am schwersten zu bewältigende Gestalt" war (S. 37).

Daß das Kapitel Lessing mit dessen Tod für Goethe keineswegs abgeschlossen war, zeige sich nicht zuletzt auch in dem — gerade im Vergleich mit den Schiller-Inszenierungen — auffällig geringen Anteil an Lessing-Aufführungen am Weimarer Theater. Während Goethe Schiller in seinen letzten Lebensjahren immer mehr monumentalisiert habe, verrieten jedoch seine späteren, von Riemer und Eckermann überlieferten Äußerungen über Lessing "bemerkenswerte Differenzierungen" (S. 39). Lessing erscheine dem alten Goethe nicht mehr so sehr als mächtiger Antipode, sondern zunehmend als Opfer einer überwundenen "erbärmlichen Zeit". 17 Der persönliche Konflikt werde umgeschrieben in das Problem einer grundsätzlichen Epochendifferenz (S. 41), so daß Lessing als Individuum schließlich rehabilitiert werden könne: "Ein Mann wie Lessing täte uns not…" 18

Dennoch: für Barner bleibt der "Generationengegensatz, ja die Generationenrepräsentanz in der wechselseitigen Optik [...] überdeutlich" (S. 42) und ist durch alle nachträglichen Harmonisierungsversuche nicht zu überwinden. In Martin Bubers Begriff der "Vergegnung" (S. 43) verdichtet sich daher für ihn die auch für die literaturwissenschaftliche Forschung immer noch "schwierige Konstellation" Goethe und Lessing.

Fazit

Es ist sicherlich als Verdienst dieser leicht verständlich geschriebenen Studie zur Relation "Goethe und Lessing", die bereits von Biedermann deutlich gespürte, doch seitdem immer wieder in Bausch und Bogen weginterpretierte "unaufgelöste Dissonanz" in der Beziehung der beiden Großschriftsteller des 18. bzw. beginnenden 19. Jahrhunderts zum Ausgangs- und Endpunkt einer Untersuchung zu machen und dabei innerhalb einer von kanonisierten Sichtweisen geprägten Diskussion einem häufig zu wenig beachteten Aspekt, nämlich dem der durch die Struktur des literarischen Feldes bedingten "historischen Konfiguration" Goethe-Lessing Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Dem Anspruch der Wolfenbütteler Reihe, ein wissenschaftliches wie auch ein nicht-wissenschaftliches Publikum zu erreichen, wird Barner insofern gerecht, als es ihm gelingt, sowohl den wenig informierten Leser in sein Thema einzuführen als auch dem einschlägig Vorgebildeten im Detail — etwa in der Darstellung der Werther-Rezeption Lessings oder der Auseinandersetzung Goethes mit Lessings Dramen — eine neue Perspektive auf ein vieldiskutiertes Problem zu eröffnen.

Eine Frage bleibt für die Rezensentin dennoch offen. Sie betrifft weniger die Argumentation Barners im speziellen Fall als den seiner Arbeit zugrundeliegenden Ansatz Bourdieus, dessen Anspruch es ist, zwischen subjektivistischen und objektivistischen Positionen im Gebiet der Literaturinterpretation zu vermitteln, ohne einerseits den künstlerisch Handelnden zum bloßen Träger sozialer Strukturen zu degradieren noch andererseits den Mythos vom charismatischen Schöpfer fortzuschreiben. Auch in der vorliegenden Studie wird die grundsätzliche Schwierigkeit eines solchen Spagats offenkundig: Wo die Strukturen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken, geraten die individuellen Entstehungsbedingungen der Werke und Wertungen aus dem Blick, sobald aber diese Gegenstand der Untersuchung werden, schleicht sich die Subjektivität des schöpferischen Individuums wieder ein und macht ihr Recht geltend. So kann Barner zwar überzeugend nachweisen, daß Goethe und Lessing innerhalb eines vorgegebenen Koordinatensystems agierten, ja daß sogar die nachträgliche Sicht auf diese nur in Texten gelebte Schriftsteller-Beziehung durch soziohistorische Konfigurationen determiniert wurde, zeigt aber in dem Bemühen um diesen Nachweis zugleich, daß die "schwierige Konstellation" Lessing-Goethe erst im schöpferischen Handeln zweier Individuen Gestalt gewinnen konnte.

Sicherlich, Bourdieus zentrales Anliegen ist es, diese Dialektik durch sein Konzept von Feld und Habitus einzufangen. Dennoch stellt sich die Frage, ob es grundsätzlich möglich ist, die in der neueren literaturwissenschaftlichen Forschung offen verpönte psychologisierende Betrachtungsweise auf diese Weise vollständig zu überwinden. Denn ist es etwas anderes als die persönliche Genugtuung des Siegers, sein Machtbegehren durchgesetzt zu haben und eine etablierte Machtposition festigen zu können, oder die Frustration des Unterlegenen, sich gegen einen übermächtigen Gegner (zumindest vorläufig) nicht behaupten zu können, die letztlich das literarische Feld ständig in Bewegung hält?

Das Beispiel "Goethe und Lessing" zeigt, daß auch zwischen dem primär an soziohistorischen Strukturen ausgerichteten Literaturverständnis Bourdieus und der >traditionellen<, an der Subjektivität des schreibenden Individuums orientierten Betrachtungsweise eine "unaufgelöste Dissonanz" zu diagnostizieren ist, der entrinnen zu wollen vielleicht ein größerer Fehler wäre, als sie offenzulegen und auszuhalten.


Vera Viehöver M.A.
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Seminar Germanistik II
Universitätsstraße 1
D-40225 Düsseldorf

Ins Netz gestellt am 27.11.2001
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Anmerkungen

1 Vgl. Wilfried Barner: Von Rahel Varnhagen bis Friedrich Gundolf. Juden als deutsche Goethe-Verehrer. (Kleine Schriften zur Aufklärung 3). Göttingen 1992.   zurück

2 Rudolf Vierhaus: Klappentext zu vorliegendem Band.   zurück

3 Michael Böhler: Geteilte Autorschaft: Goethe und Schiller. Visionen des Dichters, Realitäten des Schreibens. In: Goethe-Jahrbuch 112 (1995), S. 167—181. [Dieser Titel wurde auch bei IASLonline rezensiert: http://www.iasl.uni-muenchen.de/register/boehler1.htm]    zurück

4 Ebd., S. 168.   zurück

5 Woldemar Freiherr von Biedermann: Goethe und Lessing. In: Goethe-Jahrbuch 1 (1880), S. 17—43.   zurück

6 Ebd., S. 17.   zurück

7 Ebd., S. 43.   zurück

8 Julius Petersen: Goethe Und Lessing. Ansprache zur Eröffnungsfeier des Braunschweiger Goethe-Lessing-Jahres am 20.1.1929. In: Euphorion 30 (1929), S. 1751188.   zurück

9 Vgl. Petersen (Anm. 8) S. 188.   zurück

10 Ilse Graham: Goethe and Lessing. The Wellspring of Creation. London 1973.   zurück

11 Günter Schulz: Lessing und Goethe: Goethe und Lessing. In: Goethe-Jahrbuch 96 (1979), S. 206—220.   zurück

12 Wolfgang Albrecht: "Wenn Ihr Lessingen seht, so sagt ihm, daß ich auf ihn gerechnet hätte". Zur Auseinandersetzung des jungen Goethe mit dem Dramatiker Lessing. In: Impulse. Aufsätze, Quellen, Berichte zur deutschen Klassik und Romantik. Folge 6. Berlin, Weimar 1983, S. 148—193. Albrecht knüpft seinerseits an eine frühe Untersuchung Agnes Bartscherers an. — Vgl. Agnes Bartscherer: Der junge Goethe und Lessing. In: A.B.: Zur Kenntnis des jungen Goethe. Dortmund 1912, S. 133—189.   zurück

13 Johannes John: Gotthold Ephraim Lessing. In: Goethe-Handbuch in vier Bänden. Hg. von Bernd Witte u.a. Bd. 4.2: Personen, Sachen, Begriffe L-Z. Hg. von Hans-Dietrich Dahnke und Regine Otto. Stuttgart, Weimar: Metzler 1998.   zurück

14 Brief an Charlotte von Stein, 20. Februar 1781.   zurück

15 Barner verweist in diesem Zusammenhang auf den sog. >antiquarischen< Streit Lessing mit Klotz. Aus einem Brief an Oeser geht hervor, daß Goethe Lessings Rolle darin sehr kritisch betrachtete.   zurück

16 So laut Heinrich Christian Boie das Urteil Lessings über die dramatischen Aktivitäten der beiden Stürmer und Dränger. — Brief an Johann Heinrich Merck, 10. April 1775.   zurück

17 Gespräch mit Eckermann, 7. Februar 1927.   zurück

18 Gespräch mit Eckermann, 15. Oktober 1825.   zurück