Viel über Reck: Briefwechsel Paul Ernst – Will Vesper 1919–1933

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Bernhard Viel

Kain und Abel im völkischen Paradiesgarten
Ungleiche Brüder – zum Briefwechsel
zwischen Paul Ernst und Will Vesper

  • Alexander Reck: Briefwechsel Paul Ernst – Will Vesper 1919–1933. Einführung – Edition – Kommentar. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003. 152 S. Geheftet. EUR (D) 24,-.
    ISBN 3-8260-2427-3.


Am 6. Oktober 1931 saß in Meißen der Dichter Will Vesper an seinem Schreibtisch und schrieb an den Dichter Paul Ernst den tröstlichen Gedanken, "daß für Deutschland in Wahrheit nur einer für den Nobelpreis in Frage kommt". Dieser eine, das war keine Frage für den Dichter Vesper, dieser eine war der Dichter Ernst.

Wer heute die Romane und Novellen Paul Ernsts liest, wer sich durch die klassizistische Arithmetik seines "Kaiserbuchs" windet und die starre Geometrie seiner Dramen durchschreitet, der begreift nur noch schwer, weshalb der Autor von namhaften Fachleuten, darunter der Soziologe Werner Sombart, für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen wurde. Als bemühter Restaurator zerschlagener klassischer Literaturformen erscheint er in der Rückschau als populärer Zaungast literarischer Strömungen zwischen Expressionismus und Neuer Sachlichkeit, als tapferer Ritter einer veralteten kleinbürgerlichen, nach Eichenschrank und Gugelhupf duftenden Erbauungsliteratur, die indessen in den konservativer werdenden Zeitgeist der späten 20er und frühen 30er Jahre passte. Andererseits aber: so hölzern und hausbacken vieles von Paul Ernsts Produktion heute wirkt, so lässt sie doch seine intellektuelle Redlichkeit spüren, sein Bemühen, mit dem Entwurf einer harmonisch geordneten, geschlossenen, sozusagen natürlichen Welt, bevölkert mit unwandelbaren Charakteren diesseits jeder Psychologie, Identität zu stiften und Orientierung zu bieten und, selbst gefährdet durch den Ansturm einer unberechenbaren Moderne, Orientierung zu finden.

Der schreibende Kollege Will Vesper zählte nicht nur zu den fleißigsten Lesern Paul Ernsts; als Kritiker und Feuilletonchef der in Berlin erschienenen "Deutschen Allgemeinen Zeitung", als späterer Herausgeber der 1923 begründeten "Schönen Literatur", die er 1931 zeitgeistgerecht in "Die neue Literatur" umbenannte, dürfte er zudem Ernsts bedeutendster literarischer PR-Agent gewesen sein. Paul Ernst profitierte nicht nur publizistisch von seinem treuen Ekkehard, er brauchte auch notwendig die Honorare, die ihm aus dem Abdruck seiner kulturtheoretischen und literarischen Texte zuflossen – das symbiotische Verhältnis zwischen dem konservativ-restaurativen Paul Ernst und dem nicht minder restaurativen, doch von einer gewaltsamen "völkischen Erneuerung" träumenden Will Vesper wirft zwangsläufig die Frage nach der ideologischen Nähe der beiden Autoren auf.

Methodisch gäbe es zwei Wege zu ihrer Beantwortung: die Analyse ihrer literarischen und theoretische Schriften oder den Blick auf die Briefe als der pragmatischen Grundlage ihrer Zusammenarbeit. Beide Aufgaben zusammen allerdings führten erst zu einem definitiven Urteil.

Bekanntlich ist Paul Ernsts Werk wissenschaftlich noch lange nicht hinreichend, doch immerhin besser erschlossen als das Will Vespers, der als hoher NS-Kulturfunktionär und literarisches Sprachrohr der "Blubo-Leute", wie Brecht die braunen Machthaber nannte, bis heute verschrien ist und folglich von der Forschung fast völlig ausgespart wurde – paradoxerweise, muss man sagen, da ja gerade die Kunst im Dunstkreis des Nationalsozialismus nach Entmystifizierung verlangt. Was über Vesper bekannt ist, stammt hauptsächlich aus dem Buch "Die Reise" von Bernward Vesper, in dem er seinen Vater als stählernen Herrenmenschen schildert – so wertvoll dieser Romanessay auch als kulturhistorisches Dokument der Jahre 68 ff. sein mag, er spiegelt doch die subjektive Ansicht eines Betroffenen, die ein analytisches Durchdringen nicht ersetzen kann.

Es ist also verdienstvoll, wenn der Stuttgarter Germanist Alexander Reck nun erstmals den gesamten, im Deutschen Literaturarchiv in Marbach aufbewahrten Briefwechsel zwischen Paul Ernst und Will Vesper herausgegeben hat. Die Korrespondenz umfasst 48 Briefe und Postkarten, 25 von Paul Ernst, 23 von Vesper. Sie beginnt im April 1919 und endet am 30. März 1933, zwei Wochen vor Paul Ernsts Tod. Insofern also, als sie in die großen Umbrüche und Zäsuren den deutschen Geschichte fällt, muß sich das Hauptinteresse auf den politischen und ideologischen Gehalt der meist geschäftlich motivierten Briefe richten – Reck heftet seinen Blick denn auch zu Recht auf die geistigen Spuren, in denen die Gemeinsamkeiten, zumal aber die Unterschiede in der Einstellung der beiden Autoren zum Ausdruck kommen.

In einer knappen Einführung präsentiert er zuerst Will Vesper, dann Paul Ernst, schließlich, als eine Art Conclusio, versucht er jene Merkmale herauszuarbeiten, die Paul Ernst aus der Umarmung des nationalsozialistischen Partners zu befreien vermögen. Dass eine geraffte Einführung keine erschöpfende Analyse leisten kann, liegt auf der Hand – so lässt sich Recks wesentlich auf Hildegard Chatelliers Arbeit "Verwerfung der Bürgerlichkeit" gestützte Beschreibung des Ernstschen Denkens als weise Selbstbeschränkung deuten, die den Ausblick auf ein weites Forschungsfeld eröffnen soll.

Ernst und Vesper verstanden sich beide als "Dichter". Der Begriff war eine beliebte Waffe aus dem Arsenal der rechtsintellektuellen Zivilisationskritik, deren Einsatz den "Asphaltliteraten" als frivolen Insurgenten vom "echten" Künstler als Hüter der altehrwürdigen Flamme deutscher Kultur abgrenzen sollte. Der "Dichter" als Prophet im Dienst moralischer Erziehung, der die Nation als metaphysische Notwendigkeit zu deuten versteht: In dieser Selbsteinschätzung waren sich Vesper und Ernst einig. Doch ging es Vesper nicht, wie Paul Ernst, um sinnstiftende Metaphysik, in deren Ordnung allein die Nation die Grundlage individueller Sittlichkeit gewährleisten konnte; sein Denken zielte auf eine Volksgemeinschaft, die sich auf den Blutmythos gründet – in der Tat liegt hier ein fundamentaler Unterschied, der erklärt, weshalb Ernst gegen die Rassentheorie des Nationalsozialismus gefeit war. Folgerichtig hebt Reck diesen Punkt hervor und zitiert aus einem Brief Paul Ernsts, in dem sich der Autor von völkischen Einstellungen distanziert: "Ich bin nicht Antisemit, halte den Antisemitismus für eine große Dummheit."

Zudem lässt Recks Darstellung vermuten, der unpolitische Paul Ernst habe Hitler vielleicht besser durchschaut als die große Mehrheit seiner Zeitgenossen: In einem Brief nennt er Hitler einen "Versammlungsredner und weiter nichts. Es fehlen ihm die Kenntnisse und Einsichten des Staatsmannes und er ist kein großer Charakter, sondern nur ein Demagog". Allerdings übersieht Reck in seinem legitimen Bemühen, Paul Ernst Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die Naivität, die sich zugleich hinter solchen politisch korrekten Äußerungen verbirgt: Wäre Hitler nichts weiter als ein Versammlungsredner gewesen, wäre ihm nicht dieser historisch beispiellose Aufstieg gelungen; auch entgeht Ernst die forcierte Modernität, die sich hinter dem archaischen Volksmythos der Nationalsozialisten verbirgt: Nicht nur war die NSDAP die am konsequentesten durchorganisierte Partei ihrer Zeit, auch trieben Hitler und seine Funktionäre die industrielle Produktion und den wissenschaftlich-technischen Fortschritt mit bislang unerhörter Radikalität voran. So machte sich "die Bewegung" für ihren Weltmachts-Rausch eines der wesentlichen Postulate der Moderne zunutze: Beschleunigung.

Diese fundamentale Entwicklung war an Paul Ernsts bewusster Wahrnehmung vorbeigegangen. Dass er sie intuitiv gespürt habe muss, begründet seine ablehnende Haltung gegen die Moderne überhaupt. Und hierin dürfte der eigentliche, Ernst selbst kaum bewusste Grund für sein Unbehagen am Nationalsozialismus zu finden sein, seiner Ahnung der Katastrophe: Das Pathos der Beschleunigung mündet notwendig in die Apotheose der Zerstörung. Paul Ernst indes wollte das Gegenteil, Bewahrung einer Welt, die zweckvoll geordnet, deren metaphysisches Gefüge aber durch die Beschleunigung der modernen Technik in Unordnung geraten war.

Man wird in diesem Punkt den ausschlaggebenden Unterschied zu Vesper zu suchen haben, der sich für "die Bewegung" und ihren militanten Impetus weit eher begeistern konnte als der die Welt mit platonischen Augen betrachtende Paul Ernst. Wenn, worauf Reck auch hinweist, Will Vesper auch mit Hilfe der entsprechenden Fotos Paul Ernst als einfach lebenden gleichsam in den Naturkreislauf eingebetteten Dichter stilisierte, so passte das haarscharf in das ästhetische Konzept des Regimes, das ein vitales Interesse an der Inszenierung dessen hatte, was seine entfesselte Beschleunigung zerstörte – die Spannung, die sich aus der Polarität von Dynamik, Zerstörung und Inszenierung vorindustrieller Welten ergibt, ist im übrigen das Kennzeichen jeder modernen, und zumal der faschistischen Kunst, sie prägt die Werke des Futuristen Marinetti nicht weniger als Mussolinis flamboyante Auftritte, sie zieht sich als verbindendes Merkmal von DŽAnnunzio über Leni Riefenstahl und Fritz Lang bis hin zu Erich Kästners nur scheinbar harmlosen frühen, neusachlichen Gedichten. Paul Ersts Klassizismus nimmt sich dagegen recht gemäßigt aus. Der Autor diente am Ende unwillentlich einer Macht, die er bewusst ablehnte. Man darf es wohl so formulieren: Er ließ sich missbrauchen, weil er die Zusammenhänge nicht durchschaute.

Sie zu beleuchten, bleibt ein Desiderat der Forschung. Recks Ausgabe des Briefwechsels dringt noch nicht an diese Grenze. Das ist erklärtermaßen auch nicht intendiert. Als eigentliche Leistung dieses sorgfältig edierten, mit einem aufschlussreichen Kommentarteil versehenen Bandes bleibt, den Blick für diese Problemlage zu schärfen.


Bernhard Viel, M.A.
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Ins Netz gestellt am 14.11.2003
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