Wägenbaur über Ette: Roland Barthes

Thomas Wägenbaur

Ottmar Ette: Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998 (Auslieferung: Juni 1999). 522 S., 11 Abb. DM 32,80.

Ottmar Ette stellt eine umfassende Monographie zu Roland Barthes vor, die, dem Struktualisten gemäß, dessen Schriften nicht nur diachron hintereinander, sondern auch synchron miteinander in Bezug setzt. Während die Biographie Barthes' eine zeitliche Abfolge der Kapitel nahelegt, drängen sich durch die Intratextualität seiner Werke gleichzeitig systematische Zusammenhänge auf, die von größerem Interesse sind und vor allem Barthes' selbstreferentieller Produktionsweise eher gerecht werden als eine bloße Werkgeschichte. Ette zerlegt Barthes Vielseitig- und Vielschichtigkeit nicht etwa in eine "frühe" wissenschaftlich-strukturalistische und eine "späte" literarisch-poststrukturale Phase und unterschlägt am Ende noch die gerade heute interessante Phase des Medienkritikers Barthes in einer "mittleren" Phase, sondern er weist auf die ständigen Verschiebungen im Gesamtwerk hin, indem er in der Lektüre unermüdlich vor und zurückverweist. Er zeigt, daß Barthes einen Raum zwischen Moderne und Postmoderne aufspannt, der deshalb von ungebrochener Aktualität ist, weil wir uns immer noch in diesem Raum befinden.

Der Vorzug dieser vollständigen Werkmonographie ist also die intratextuelle Untersuchung bestimmter systematischer Zusammenhänge, die Ette in ihrer Relevanz und Komplexität in jeder Hinsicht lesbar zu machen und im Kontext der Sekundärliteratur zu diskutieren versteht. Daß darüber intertextuelle Bezüge zurückgestellt werden mußten - vor allem auf Kristeva und Bachtin, aber auch Nietzsche, Foucault und Derrida; Bataille und Blanchot wird häufiger verwiesen -, nimmt man gerne in Kauf, kann doch Barthes Bedeutung für das intellektuelle Feld Frankreichs und die internationale Literaturtheorie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ohnehin nicht überschätzt werden. Barthes aus der Sicht Foucaults, Derridas, Deleuzes, Baudrillards etc. zu lesen - oder umgekehrt - d.h. dieses ganze intellektuelle Feld darzustellen, das sich kurze Zeit um die Zeitschrift Tel Quel und die Seminare von Cerisy-la-Salle zusammenfand und das in gewisser Weise mit der Geistesgeschichte von zwei Jahrtausenden "aufräumte", wird auch im nächsten Jahrtausend ohnehin niemandem befriedigend gelingen, weil dessen Wirkung bereits zu unüberschaubar geworden ist. (Siehe z.B. François Dosse: Geschichte des Strukturalismus, Band I und II, Hamburg: Junius, 1997).

Im Folgenden kann es nicht darum gehen, Ettes Rekonstruktion der einzelnen Schriften Barthes' im Netzwerk der intratextuellen Bezüge des Gesamtwerks verkürzt wiederzugeben, noch alle seine interpretativen Schwerpunkte, sondern nur darum, wenigstens drei aktuelle systematische Zusammenhänge nachzuzeichnen: 1. Barthes' kulturwissenschaftliche Bedeutung, 2. Barthes' Körperlogik als Lektüre des Anderen und schließlich 3. Barthes' Position zwischen Moderne und Postmoderne.

1. Barthes kulturwissenschaftliche Bedeutung

Es ist Barthes und anderen französischen Theoretikern der sechziger und siebziger Jahre vorgeworfen worden, "the great divide" (Andreas Huyssen) zwischen hoher Kultur, Volkskultur und Massenkultur nicht aufgegeben zu haben und bestenfalls eine Theorie der literarischen Moderne und nicht des postmodernen Schreibens geliefert zu haben. Dem widerspricht, so Ette, "wie Barthes Massenmedien und Massenkommunikation nicht nur beschrieb, sondern selbst nutzte und der Verbreitung seiner Vorstellungen dienstbar machte." (38)

Ein solcher Vorwurf widerspricht auch, so Ette, Barthes' politischem Engagement. Der zentrale Begriff von Sartres Was ist Literatur? werde von der für Sartre entscheidenden Ebene des Inhalts auf die Ebene der künstlerischen Form und genauer noch auf eine ihrer drei Dimensionen, die Schreibweise, übertragen. Bei Barthes ist es die "écriture", welche die Verbindung von Text und Gesellschaft herstellt. Er spricht von der "Moral der Form": "Die möglichen Schreibweisen eines gegebenen Autors entstehen unter dem Druck der Geschichte und der Tradition." Ette zitiert Adorno (71), der diese ethische Dimension ähnlich konzipiert hatte. Er hätte auch eine Parallele zur späteren Dekonstruktion und zu Niklas Luhmanns Unterscheidung zwischen Sozial- und Symbolsystem ziehen können.

In seinem Beitrag "Die Literatur heute" für die Zeitschrift Tel Quel (1961) habe Barthes, wie im Nachwort zu den Mythen des Alltags, unterstrichen, daß ihn "Ideen und Themen weniger interessieren als die Art und Weise, wie sich die Gesellschaft ihrer bemächtigt, um daraus die Substanz einer gewissen Zahl signifikanter Systeme zu machen." (199) Sein Interesse konzentriere sich damit auf sekundäre und tertiäre Sinnbildungsprozesse, auf die Funktionen, die Bedeutungssystemen wie Nahrung, Kleidung, Bildern, Literatur, Kino, Mode usw. von der Gesellschaft im Kontext der Massenkultur zugewiesen werden. Dabei fasse Barthes die "activité structuraliste" - und das haben Barthes' Texte zur Genüge bewiesen - immer als zugleich wissenschaftlich analytisch wie künstlerisch kreativ auf. Dieser hybride Status hat die Einordnung der Schreibweise Barthes' - wie die der anderen Autoren um Tel Quel - so schwierig gemacht.

Barthes' Mythologies (1957) waren dann ein Versuch, die Moderne nicht nur auf dem Gebiet des Ästhetischen zu begreifen, sondern innerhalb ihres gesamtgesellschaftlichen kulturellen Kontexts auf der Ebene der Veränderung des Alltagslebens. Barthes betont, nicht die Erfindungen der Technik (Batterie, Photoapparat) stünden im Vordergrund, sondern die von ihnen ausgelösten Veränderungen im Bereich der Massenkultur und ihrer Mythen in der Industriegesellschaft (Neon-Leuchtreklame, illustrierte Magazine). Ette meint, Barthes' Projekt sei spätestens seit den Mythen des Alltags soziologisch, ideologie- und kulturkritisch bestimmt und erst in einem zweiten Schritt bediene er sich systematisch strukturalistischer Verfahren (112). So verwirrend die Themenvielfalt der Mythen auch sein mag - hier ist nichts ausgelassen, worum sich heute die "cultural studies" nicht kümmern würden -, fast immer versucht Barthes Phänomene der Massenkultur mit der "hohen Kultur" in einen Dialog zu bringen und zugleich zu analysieren. Sein Schreiben ist dabei in der Form der "écriture courte" immer literarischen wie kritischen Diskursen zugleich verpflichtet. Und wie Benjamin habe auch Barthes erkannt, daß jede Literatur fortan in eine wie auch immer geartete Beziehung zu Massenkultur und Massenkommunikation eintreten muß.

Besonders eingehend hat sich Barthes mit der Mode befaßt und diese Beschäftigung des Kulturkritikers, so argumentiert Ette, habe wieder zurückgewirkt auf den Literaturtheoretiker. Unter dem Titel "Geschichte und Soziologie der Kleidung" (1957) habe Barthes nach Saussures Sprachauffassung eine "Soziolinguistik der Kleidung" (203) entwickelt. Die Untersuchung des Zeichencharakters der Kleidung sei für Barthes letztlich eingebettet in die Problematik jeglicher kulturellen Analyse, sei Kultur doch zugleich, so Barthes, "System und Prozeß, Institution und individueller Akt, Reservoir an Ausdrucksformen und Ordnung von Bedeutungen". Und jedes kulturelle Faktum sei gleichzeitig "Produkt der Geschichte und Widerstand gegen die Geschichte" (204). Damit nimmt Barthes aber eine paradoxe Definition von Literatur als "Zeichen einer Geschichte und Widerstand gegen diese Geschichte" vorweg, die er erst später in "Geschichte oder Literatur?" (1960) verwendet. Was Kleidung und Literatur verbindet, ist natürlich nicht nur die Semiologie, sondern ihre Theatralik und damit der Bezug auf den Körper. Doch erst zehn Jahre später wird Barthes sein Système de la Mode (1967) veröffentlichen, also zu einem Zeitpunkt, zu dem Barthes sich vom Strukturalismus bereits zu entfernen begonnen hat. Einerseits stellt dieses Buch so etwas wie ein strukturalistisches Manifest und ein Modell strukturalistischer Kulturwissenschaft dar, andererseits enthält es auch eine kritische Reflexion über die "Metasprache des Analytikers" (212) und weist damit weit über eine Taxonomie hinaus.

Hier macht Ette deutlich, wie Barthes eine analytische Kategorie auf die Analyse selbst anwenden wird, was letztlich dann zur Dekonstruktion der Dekonstruktion führte. Barthes selbst hat dafür in "Die Literatur heute" (1961) das Bild der Argo gebraucht: "Beide [Literatur und Mode] gleichen dem Schiff Argo: die Stücke, die Substanzen, die Materialien des Gegenstandes wechseln, so daß periodisch der Gegenstand neu ist, und doch bleibt der Name, d.h. das Wesen dieses Gegenstandes immer das gleiche; es handelt sich also mehr um Systeme als um Gegenstände." (215) Näher konnte Barthes dem biologischen Systembegriff kaum kommen; solcher Analogien enthält sich Ette allerdings, weil sie sich auch bei Barthes kaum finden lassen. Die Argo und das Spiel der Kombinatorik werde für Barthes zum Kennzeichen der Moderne und der strukturalistischen Tätigkeit.

Außer dem System der Mode verfeinerte Barthes noch weitere Analysen massenkultureller Phänomene, immer jedoch sehe er nichtsprachliche Bedeutungssysteme in sprachliche Strukturen eingebettet und von ihnen durchzogen und das habe dazu geführt, daß Barthes Saussures Auffassung von der Sprache als System von Differenzen durch eine Ebene von "Materie oder Substanz als Träger der Bedeutung" zu erweitern suchte (229). Daraus folgte dann Barthes' Dekonstruktion der Dekonstruktion in der Konzeption einer Körperlogik.

2. Barthes Körperlogik als Lektüre des Anderen.

Schon in Michelet par lui-même (1954) dominiert auf eigentümliche Weise die Ausrichtung am Körper, in diesem Fall dem des berühmten Historikers. Ist zum Beispiel die Geschichte krank, so ist es auch der Geschichtswissenschaftler. Ette meint zu Barthes' Darstellung: "Der Historiker Jules Michelet schreibt sich die Geschichte selbst auf (oder in) den Leib. Der Körper der Geschichte ist von der Geschichte des Körpers nicht mehr zu trennen. Und so verleibt sich Barthes, unter Vermeidung eines oberflächlichen Identifikationsprozesses, 'seinen' Michelet ein." (88) Bei Michelet wird die nachrevolutionäre Zeit als "post-Histoire" aufgefaßt und "'wie eine Melodie konstruiert'". Michelet erscheint als "'der vielleicht erste der Autoren der Moderne, dem nur ein unmögliches Wort zu singen blieb'" (92). Es ist jetzt nicht mehr wie in Le Degré zéro de l'écriture (1953) die Schreibweise, die nach einer unmöglichen, einer utopischen Literatur strebt, sondern ein unmögliches Wort, eine Melodie. Dieser Gesang wird im Gegensatz zum Text an den Körper des Autors gebunden: der Gesang impliziert die Stimme, die Stimmorgane und damit den Körper. Barthes gelingt es hier erstmals, durch die Verschiebung der Textmetapher zur Gesangsmetaphorik die Dimension des Körperlichen metaphorisch wie begrifflich miteinzubinden und dadurch mitzudenken. Diese Beobachtung Ettes ist deshalb für seine weitere Untersuchung des Gesamtwerks grundlegend, weil er die Körperlogik Barthes', die er immer wieder in diesem Sinne aufnimmt, als Dekonstruktion der Dekonstruktion versteht: Autor, Text und Leser stehen zwar in keinem repräsentativen, referentiellen Verhältnis mehr zueinander, aber zwischen diesen nunmehr selbst-referentiellen Instanzen kommt es doch zu so etwas wie einer performativen, körperlichen 'Symbiose'. Mit dem biologisch-systemtheoretischen Terminus "strukturelle Kopplung" ließe sich dieser Sachverhalt auf den Kognitivismus hin weiter entwickeln.

Noch in anderer Weise, nicht in melodischer, sondern in rhythmischer Weise ist der Text an den Körper des Autors gebunden. Anhand des zu Lebzeiten unveröffentlichten Texts "F.B." (1964) zeigt Ette, wie der Text zwischen zwei Ebenen oszilliert: Es ist die kritische Darstellung eines Autors und seines Schreibens, gleichzeitig aber auch die Vorführung dieses Schreibens und damit auch dieses Autors. "'F.B.' springt zwischen den Polen von Metasprache und Objektsprache hin und her und bezieht daraus seine Spannung. Das Kontinuierliche der 'écriture' sei eine Frage der Geschwindigkeit, und diese Geschwindigkeit sei letztlich, so der Autor, vielleicht nichts anderes als die der Schreibhand. Das Kontinuierliche innerhalb der einzelnen Fragmente wird damit an einen Rhythmus angebunden, der vom Körper des Autors her definiert ist. Dieses Hand-Werkliche der Schreibweise von F.B. gibt auch den Rhythmus der Textfragmente vor, die der Erzähler über das Schreiben von F.B. (oder ausgehend von diesem Schreiben) produziert." (248) Später wird Barthes dann das Element des Körperlichen, das in der Hand des Schreibenden präsent ist, mit dem Element des Erotischen und Lustvollen verknüpfen.

In den Mythen des Alltags ist die Dimension des Körpers von zentraler Bedeutung. Im Körper des Catchers etwa bündeln sich jene Zeichen, deren unmittelbare Lektüre zur Vorraussetzung einer Einheit zwischen Bühne und Publikum wird. Barthes faßt das Catchen selbst als "'diakritische Schreibweise'" auf, die ein komplexes Spiel "zwischen Bild (des Mythos) und Text (des Kritikers), zwischen Körper (des Akteurs) und Schrift (seines Körpers), zwischen Lesen (des Publikums) und Schreiben (des Schriftstellers)" (117) in Gang setzt. Zentral ist auch schon für den frühen Barthes das Gesicht oder die Gesichtlichkeit, bei der der Körper ähnlich 'vergesichtet' wird wie in Deleuzes und Guattaris Vergesichtungsmaschinerie. So lächeln uns hinter den Gesichtern der Nummerngirls der "Folies-Bergère", hinter der Maske der Massenkultur, die Gesichter der Moderne an. "Sie verweisen auf die soziale Produktion des Gesichts: Es ist nicht Natur, sondern Geschichte, auch wenn der moderne Mythos, ideologisch gesteuert, aus ihm Natur machen möchte: ein Ding wie die Frau im Programm der aus aller Herren Länder angereisten Voyeurs." (119) Mit Deleuze und Guattari ausgedrückt: "'Das Gesicht ist Politik'" (120).

Was für das Gesicht gilt, gilt auch für den ganzen Körper. Barthes teilte Brechts Auffassung vom Schauspieler, weil sie auch seiner Sichtweise der Literatur entsprochen habe, als einer "Rollenmaske, die dem Publikum ihre Rolle, zugleich aber sich selbst als Maske zeigt." (142) Barthes definiert Theatralität als "Theater minus Text" (142) und verbindet sie damit eng mit Korporealität, es ist ein Theater der Körper. Der Körper verfügt nicht nur über seine eigene Geschichte, sondern über eine Art Gedächtnis, das überindividuell und kulturell (literarisch) vorgeprägt ist. Barthes wird diese Aspekte aus den frühen Essais critiques (1954) später wiederaufnehmen.

Ette verweist mehrfach auf Barthes' immer schon hybride Schreibweise und zeigt doch ihre allmähliche Diversifizierung auf vom "l'écrivain écrivant" (Michelet) zum "l'écrivain s'écrivant" ("F.B.") zum "l'écrivain s'écrivant en lisant" (S/Z, (315)) zum "l'écrivain s'écrivant en lisant d'autres textes" (Sade, Fourier, Loyola, (336)) zum "l'écrivain s'écrivant en lisant ses propres textes" (Le Plaisir du texte, (368), Roland Barthes par Roland Barthes, (416)) - alles Stadien sehr unterschiedlicher bzw. immer weiter verschobener (Selbst-) Referentialität. Besonders aufschlußreich aber wird Ettes Untersuchung dort, wo er zeigt, wie Barthes' hybride Schreibweise in performativer Einlösung der Körperlogik dem Problem der Alterität gerecht wird. Er tut dies vor allem in dem Kapitel "Die andere Lektüre als Lektüre des Anderen" (244-284), aber auch in seinen Bemerkungen zu Leçon (1977), Barthes' Antrittsvorlesung am Collége de France (418-426).

Eine der Definitionen des Schreibens bei Barthes lautet im Schlußkapitel von Kritik und Wahrheit (1966): "die Welt (das Buch) zu zerspalten und wieder zusammenzusetzen" (246). Dieses Spiel einer konstruktiven Fragmentierung von Welt und Buch, von der Welt als Buch, habe Barthes in den sechziger Jahren experimentell erprobt und in Szene gesetzt. Schon in "F.B." (1964) wird diese Definition selbstreferenziell verdoppelt: "Der Schriftsteller als Schreibender des Schriftstellers und als schreibender Schriftsteller, der den Fragmente schreibenden Schriftsteller in literaturkritischen Fragmenten porträtiert" (248). Soviel zu einer "anderen Lektüre", aber zur "Lektüre des Anderen" gehört auch bei Barthes die kulturelle Fremderfahrung.

"F.B." weist voraus auf jene Incidents - Barthes hielt sich 1968-69 in Marokko auf - die erst nach Barthes' Tod veröffentlicht wurden. Hier potenziert sich der Zusammenhang von Körperlichkeit, Erotik und fragmentarisch-hybridem Schreiben. Schon früher, im Vorwort zu den Kritischen Essays hatte Barthes gemeint: "Die Schreibweise ist in der Tat auf allen Ebenen das Sprechen des Anderen" (254). Denkt man zum Beispiel an Homi K. Bhabhas Theorie der Hybridität, dann muß man feststellen, daß die Repräsentation des kulturell Anderen erst Jahrzehnte nach Barthes' performativer Lösung zu einem interdisziplinär heiß debatierten Problem wurde - der einzige deutschsprachige Pionier war Hubert Fichte. Barthes spannt Marokko ein in ein kulturelles Dreieck zwischen arabischer, europäischer und nordamerikanischer Kultur. Die Brüche zwischen den verschiedenen Kulturen und ihren Wertnormen erscheinen unvermittelt in ihrer übergangslosen Heterogenität. Anhand eines Fragments macht Ette deutlich, wie die Alterität des Körperlichen unterhalb der kulturellen Differenz gleichsam versteckt eingeführt wird. "Die Lektüre des Anderen ist auch eine Lektüre des (eigenen) Körpers, der autonom ist und einer anderen Logik gehorcht." (257)

Die Hände des Ich-Erzählers nämlich fahren in ihrer Liebkosung der Hände eines Marokkaners fort, treten nicht in einen Dialog mit den Worten, sondern mit dem Körper des Anderen ein, während der Todesurteile gut heißt, die der Erzähler ablehnen würde. Ette kommentiert diese Passage: "Damit wird das Erzähler-Ich, das deutlich europäisch gezeichnet ist, auf zweifache Weise in seiner eigenen Welt rationaler Vorstellungen und Überzeugungen hinterfragt: durch die Logik des kulturell Anderen und die andere Logik des Körpers. Die Logik des Sinns als kontinuierliche Linie wird ebenso auf der Inhalts- wie auf der Ausdrucksebene durchbrochen und fragmentiert." (257) Barthes der Erzähltextgrammatiker unterläuft hier sämtliche narrative Formen, die er zuvor erst klassifiziert hat, und wird der Fremderfahrung durch Verfremdung traditioneller Textstrukturen gerecht. Im Gegensatz zur Syntagmatisierung des Texts, überläßt es die Paradigmatisierung dem Leser, die Bedeutung der "Leerstellen" zu generieren. Allerdings wird die andere Logik, die Logik des Anderen, nun vom eigenen wie vom fremden Körper her "be-greifbar" (259). Die Dekonstruktion unterläuft die Formen der Repräsentation, aber Barthes' Körperlogik unterläuft in der körperlichen Performativität noch einmal die Dekonstruktion.

Ette weist vielfach darauf hin, daß Barthes immer schon das Fremde nicht auf das Eigene zu reduzieren versuchte - oder auch umgekehrt -, sondern die Differenz produktiv zu machen versuchte. In "Brecht 'traduit'' (1957) werden zeitgenössische Brecht-Inszenierungen dafür kritisiert, daß sie Brecht zu einem französischen Autor zu machen versuchen. Stattdessen meine Barthes mit "Brecht übersetzen", so Ette, "eine interkulturelle Vermittlungstätigkeit, die das Fremde (den fremden Autor und seine Vorstellungen) gerade nicht im Eigenen aufgehen läßt, sondern vielmehr bemüht ist, eine Fremdheit des Anderen bewußt aufrechtzuerhalten, die erst den Dialog zwischen verschiedenen Kulturen und Konzeptionen ermöglicht." (141) Genauso verhält es sich mit dem späteren Sur Racine (1963), einer strukturalistischen Lektüre, die sich gegen die universitären Positivisten richtete. Wolle man Racine heute auf die Bühne bringen, so gälte es, nicht die Vertrautheit, sondern gerade seine Fremdheit, seine Distanz zum Ausgangspunkt einer neuen Auseinandersetzung zu machen. (178) Später setzt Barthes dann auch den Klang fremder Wörter so ein, daß der lyrische Text laut gelesen werden muß, um auch so wieder auf den Körper zu verweisen (260).

Nach der Erfahrung des Fremden wird auch das Eigene fremd. Das macht Barthes anschaulich in dem Band La Tour Eiffel (1964). Die "Reise" auf den Turm ermöglicht die Distanz zur Stadt: "eine paradoxe Reise, die zum Eigenen führt und zugleich das Andere oder Fremde im Eigenen aufdeckt." (263) Auch dieser Text ist hybrid: "Weder kommentiert der Text die Bilder, noch illustrieren die Bilder den Text. Sie bilden relativ autonome Zeichensysteme, die ihre eigene Rhetorik entfalten. " (268) Der Eiffelturm wird zum anthropomorphen Zentrum eines Systems von Blicken, die sich auf ihn richten. Der Turm wird gesehen und sieht zugleich auch selbst, er ist aktiv und passiv und bringt, so Barthes "die beiden Geschlechter des Blicks" ins Spiel: "Der Eiffelturm ist ein hybrides, ein Zwitterwesen." (268)

Barthes Lektüre des Anderen kulminiert in Das Reich der Zeichen (1970), der Verarbeitung seiner (Selbst-) Erfahrung in Japan. Durchgängiges Muster aller "Reiseberichte" Barthes sei die gebrochene Referenzialität einer eher inszenierten als dargestellten Literatur. Ette stellt zutreffend fest: "Die Entdeckung des eigenen Schreibens ist für Roland Barthes wichtiger als die eines kulturell anderen - eine 'Entdeckung', die stets die Geste europäischen Expansionswillens in sich trug (und trägt)." (273) Die Kritik an der mangelnden Kenntnis kultureller Phänome Japans oder Marokkos geht deshalb fehl, weil es ihm gar nicht um Mimesis, sondern um Poiesis zu tun war. Es geht Barthes nicht um Japan, sondern um Signifikanten und wie sie zu ihren Signifikaten kommen, es geht um Dekonstruktion, Dissemination und die Sinnverschiebungen zwischen dem Selben und dem Anderen. Ein Beispiel dafür wäre das schon erwähnte Problem der Zuordnung des Gesichts zu Natur bzw. Kultur

Von Anfang bis Ende des Buchs erscheint das Gesicht als Signifikant, in dem sich Körper und Schrift überschneiden. Barthes entwickle - vor Deleuze und Guattari - seine Konzeption des Gesichts als Kombination von weißem Papier und schwarzer Schrift (die Augen). Das Gesicht werde dabei nicht nur an den Körper, sondern mehr noch an die Schrift angebunden: "es ist 'le visage écrit'" (276). Barthes weist dies anhand seines eigenen Gesichts nach. Umgeben von japanischen Schriftzeichen, die vom Vortrag eines 'conférencier occidental' berichten, erhält sein Gesicht, indem es in den Text eingeschrieben wird, geradezu asiatische Züge, während die Buchstabenschrift einem daneben abgebildeten japanischen Schriftsteller im Gegenzug westliche Züge verleiht. Ette stellt fest: "Dem Leser wird buchstäblich vor Augen geführt, daß das Gesicht kein Naturprodukt, sondern ein Produkt der Kultur ist, genauer noch: es ist ein (Er-) Zeugnis der Schrift" (276).

Es ging Barthes also nicht um Japan, sondern um eine Erfahrung der eigenen Logik der Sprache wie des Körpers, die aus der Lektüre des kulturell Anderen entsteht. Allerdings stellt auch Ette fest: "Die Funktionalisierung des Anderen als Prätext für eine Veränderung des Eigenen in Hinblick auf ein angestrebtes anderes Eigenes aber bedarf der Kritik." (282) Barthes wird nach Das Reich der Zeichen nicht mehr das kulturell Andere lesen, aber an der durch diese Erfahrungen gewonnenen anderen Logik, der Körperlogik, weiterarbeiten.

Barthes verfolgte die Körperlogik weiter in Sade, Fourier, Loyola (1971). Diese drei Autoren nennt er "Logotheten", deren Sprachschöpfungen aber nicht auf einer wie auch immer gearteten Diskursivität, sondern auf einem bestimmten Verhältnis von Körper und Schreiben bestehe (334f). In Sades "Pornogrammen", heißt es zum Beispiel bei Barthes, komme es wie in einem Hitzekessel zur "Fusion" von Diskurs und Körper (350). Oder er nennt sie "Szenographen", da ihr Schreiben auf der Fähigkeit des Theatralisierens beruhe (338). In jedem Fall könne der Leser keine "lesbaren" Texte reproduzieren, sondern er müsse stattdessen "schreibbare" produzieren. Im Vorwort meint Barthes - und weist damit voraus auf Le Plaisir du texte: "Die Lust einer Lektüre garantiert ihre Wahrheit." (335) Für alle drei Autoren Barthes' untersucht Ette: "Sprachbeherrschung steht im engen Verbund mit Körper-Beherrschung" (343), sie koppeln die Subversion des herrschenden sprachlichen Systems mit der Lust am Text. Dies sei allerdings dann das Diskursuniversum Barthes', das Subversion als paradoxen Diskurs konstituiert.

Bevor Ette auf Le Plaisir du texte eingeht, bespricht er einen weiteren zu Lebzeiten Barthes' unveröffentlichten Text. In dem umfangreichen "Variations sur l'écriture" (1973) entwirft Barthes eine Geschichte des Verhältnisses von Körper und, nicht Schreiben, sondern Schrift und beschäftigt sich vor allem mit der Frage, wie sich in den verschiedenen Kulturen und Zeiten die Beziehungen zwischen dem Körper des Schreibenden und der von ihm produzierten Schrift entwickelten. Er wendet sich gegen die Linguistik, die der Schrift eine kommunikative Funktion zuweise und setzt dagegen ihre kryptographische Funktion, die Selbstbezogenheit der Schrift. Barthes sei nicht, wie man erwarten würde, auf das freie Spiel der Signifikanten aus, sondern sein Hauptinteresse gälte "einem anderen ebenfalls unabschließbaren Spiel: dem (lustvollen) Spiel zwischen Körper und Schrift in seiner Geschichtlichkeit. [...] Die Geschichte ist für Barthes ein Reservoir an Alterität". (355) Dieses utopische Spiel zwischen Körper und Schrift nimmt auf produktionsästhetischer Seite vorweg, was dann in Le Plaisir du texte rezeptionsästhetisch gewandt "jouissance" genannt werden wird. "Die Lust (an) der Schrift leitet über zur Lust am Text" (358).

Im Vordergrund von Die Lust am Text steht das Problem der Logik und Barthes Gegen-Logik ist eine "ver-rückte Logik" (359), wie Ette ausführt. Im Schlußfragment des Abschnitts "Körper" findet sich jene Verbindung von Körper und Alterität wieder, die schon aus den marokkanischen Incidents bekannt ist: "Die Lust am Text, das ist jener Moment, wo mein Körper seinen eigenen Ideen folgt - denn mein Körper hat nicht dieselben Ideen wie ich." (359) Es ist dieser Augenblick eines Auseinandertretens zweier Logiken, der mit der Erfahrung von Lust gekoppelt wird. In den Incidents war diese Erfahrung mit den Händen verbunden gewesen, die allen rationalen Überlegungen zum Trotz den geliebten Körper weiter liebkosten. Die Hand aber ist zugleich jener Körperteil, der den Körper zur Materialität des Schreibens führt und Körper, Schrift und Schreiben zusammenführt.

Auch die Stimme hat diese Funktion und Ette zeigt, daß gerade Barthes' Beschäftigung mit dem Zusammenhang von Musik und Schreiben in Le grain de la voix (1972) ihn von den anderen "tel queliens" entfernte und in gewisser Weise eines ihrer Dogmen in der Dekonstruktion der Dekonstruktion auch schon überwand. Ette faßt zusammen: "Die gesungene Sprache, die vokalische Stimme des Körpers findet Eingang in eine 'écriture à haute voix', die jegliche Reduktion auf einen schrifttextlichen 'écriture'-Begriff vereitelt. Die Lust entsteht nicht nur aus der Umsetzung des Körpers in Graphie, sondern vor allem aus der Realisierung der Schrift durch die Stimme des Körpers. So wird der Körper zum Klangkörper, der Hörsinn zum Sinn der Lust." (373) Daher führt auch der Schlußsatz des letzten Fragments von Die Lust am Text zum "Lustort Ohr", das den Körper des anderen in sich aufnimmt - und zwar hier als Ton im Film: Phonotext im Ikonotext. Barthes entwickle auch hier "eine Ästhetik, die den verschiedenen multimedialen Mischformen der aktuellen Kunst im Kontext von Massenkultur und Massenkommunikation gerecht zu werden versucht" (376).

Gegen das Textualitätsdogma der "tel queliens", an dessen Auswirkungen die "cultural studies" noch heute zu tragen haben, stellte Barthes die Bewegung von Stimme und Körper, womit er von Kristevas Intertextualität zu Bachtins stimmlicher Polyphonie zurückkehrte. Im weitesten Sinne an Nietzsche orientiert, wandte sich Barthes gegen eine lust- und körperfeindliche Moral und befaßte sich nun mit dem "Denken des Körpers im Zustand der Sprache" (409). Der springende Punkt ist allerdings erstens, daß er damit nicht etwa den Autor ins Leben des Texts zurückrufen möchte, denn Ort der Umwandlung des Intertexts in Musik und der Signifikanten in Sirenengesang sind die "Echokammern" und dementsprechend ist der "gesendete" Sinn immer von einer spielerischen Verwandlung, Verzerrung und Verstellung geprägt. Der springende Punkt ist zweitens, "daß Barthes' Dekonstruktion der Dekonstruktion keineswegs eine Rückkehr zu dem mit sich bringt, was Derrida als Phonzentrismus des abendländischen Denkens charakterisieren würde. Autor, Subjekt, Individuum, Stimme oder Ursprung sind nicht einfach zurückgekehrt: sie verschwimmen im Klangbild der Echowirkungen" (410) Ette verweist auf Barthes' Essay "Das Rauschen der Sprache" (1975) und man wäre gespannt zu erfahren, wieviel Barthes von Shannon und Weavers Theorie der Kommunikation (1949) gewußt hat - abgesehen von Karl Bühlers bloßer Übernahme des Sender-Empfänger Modells -, denn dort wurde für das "Rauschen der Sprache" eine ähnliche Lösung gefunden: Rückkopplung und Selbstreferentialität, die ihrerseits das Sender-Empfänger Modell auf Parsons und Luhmanns Modell "doppelter Kontingenz" hin unterlaufen - was Bühler der Linguistik leider nicht vermittelt hatte.

Ette verfolgt diesen Wandel von der Dekonstruktion zur Körperlogik in Barthes' weiteren Schriften, z.B zur Musik und in seiner Autobiographie, und sieht in seiner "Ästhetik der Dekomposition" der Körperlichkeit und der Lust "jene politische und ethische Dimension aufgehoben, die Barthes' 'écriture' von Anfang an, seit seiner Verschiebung des Sartreschen Engagementbegriffs in den Bereich einer 'Verantwortung der Form' auszeichnet." (418) Barthes übersteigt dann die Körperlogik noch einmal in seinen Fragments d'un discours amoureux (1977). Der Diskurs der Liebe ist paradox, denn "Die Liebe entzieht sich [...] jeglicher diskursiven Herrschaft. Sie steht mit dem Körper im Bunde" (438). Dort wo Körper "kommunizieren", impliziert Barthes, endet die Sprache - und sei sie noch so hybrid.

3. Zwischen Moderne und Postmoderne

In einem Beitrag über Balzacs Theaterstück Le Faiseur (1957) bestimmt Barthes das Thema als die Leere. Und wie auch in Quenaus Zazie dans la Metro sei die Leere das Thema der Moderne schlechthin. Denn die Literatur "ist der Modus des Unmöglichen selbst, da sie allein ihre Leere sagen kann und mit diesem Sagen von neuem eine Fülle begründet." (153) Für Ette steht das Konzept des leeren Zentrums - konsequent-paradox - im Zentrum von Barthes' Konzeptualisierungen der Moderne vor allem schon in den Essais critiques (1964). Hier werde die Moderne "historisch (1848), ökonomisch (Börsenspekulation), geschichtsphilosophisch (Geschichte als Prozeß), epistemologisch (strukturalistisch), kulturgeschichtlich (als Gegensatz zu Antike und Aufklärung), institutionell (gegen die Literatur gerichtet), sprachlich (als Mord an der zum Problem gewordenen Sprache), thematisch (Leere), ästhetisch (Originalität) und vom Schriftsteller her subjektiv (tragisch)" (153f) bestimmt. Die Vielzahl der definitorischen Versuche habe aber nicht zu einer Klärung des Begriffs der Moderne, sondern zu einer "begrifflichen Auffächerung" (154) geführt, die letztlich Barthes' Position zwischen Moderne und Postmoderne bestimmen. Seine Kritischen Versuche greifen gleichzeitig auf mehrere Modernebegriffe zurück und kreisen so um das leere Zentrum, aus dem Barthes letztlich auch sein gesamtes eigenes begriffliches und literarisches Werk zu generieren verstanden habe.

Natürlich verweist Barthes in Critique et vérité (1966) auf Lacan, wenn er den Autor des Texts mit einem Schriftsteller ersetzt, der die Leere einkreist, "so daß jede Schreibweise, die nicht lügt, nicht die inneren Attribute des Subjekts bezeichnet, sondern seine Abwesenheit." (195) Auch der Eiffelturm markiere für Barthes das leere Zentrum der Moderne: "Was von jedem Punkt in Paris aus als eine vertikale Linie erscheint, erweist sich aus der Nähe als ein verwirrendes Geflecht divergierender Eisenteile. [...] Er bündelt die Blicke, zentriert eine optische Struktur, doch im Innern ist er leer" (266). Die Verbindung zwischen dem Zeichensystem des Turms und dem Zeichensystem der Literatur stellt die Durchbrochenheit, das Gewebe, der Text und zwar letztlich Barthes' Ikonotexts dar.

Ettes begriffliche Lösung, die Auffächerung des Modernebegriffs bei Barthes zu beschreiben, liegt einmal darin, Barthes' "leeres Zentrum" zum Zentrum seines Werks zu machen und andererseits die Bedeutung der Moderne für Barthes in retrospektiver und prospektiver Richtung zu bestimmen: "Die Moderne stellt sich retrospektiv als leeres Zentrum etwa bei Balzac oder beim Eifelturm dar. Sie erscheint prospektiv in der Rede vom Tod des Autors und der Auflösung des Subjektbegriffs, in der Projektion des noch nicht existierenden modernen Textes und im Versuch, diesen in einem Kraftakt der Fragmentierung [...] zu realisieren. Im leeren Zentrum fallen beide Perspektiven zusammen." (469) Diese begriffliche Lösung leuchtet deshalb ein, weil sie ermöglicht, Moderne und Postmoderne in Barthes' Werk zugleich in ihrer Kontinuität und ihrer Differenz zu zeigen. Er wird damit der durchgängig ambivalenten Haltung Barthes' der Avantgarde gegenüber gerecht, der sich als "Nachhut der Vorhut (l'arrière-garde de l'avant-garde)" (372) bezeichnete. Wichtig ist Ette, daß Barthes' Werk nicht nach irgendwelchen Phasen auf die Begriffe Moderne und Postmoderne aufgeteilt wird, sondern daß ihre Differenz bei Barthes Kontinuität hat: "Es kann nicht darum gehen, die Kontinuität gegen die Differenz auszuspielen; es gilt vielmehr Kontinuität und Differenz im Gesamtwerk von Roland Barthes zusammenzudenken." (483) Denn auch darin besteht letzlich die hybride Schreibweise Barthes', daß er die prospektiv verstandene Moderne zurückprojizierte in historische Autoren (Sade, Fourier, Loyola, Michelet). Die "Kontinuität des Nachdenkens über die Körperlichkeit" (486) schließlich unterscheidet Barthes von den postmodernen "tel-queliens" und zwar als Rück- und Vorgriff auf eine Körperlogik, die in einer kognitivistisch orientierten Literaturwissenschaft wohl erst noch zur Bedeutung gelangen wird.

Ettes Bild für Barthes' Gesamtwerk ist das der Spirale - die durchaus auch Ettes Gesamtdarstellung beschreibt: "Die Metapher der Spirale konnotiert Körperlichkeit, Schreiben, leeres Zentrum und ständige Bewegung ineins. Sie verbindet in ihrer Dynamik die Elemente jener auf den ersten Blick bipolaren Struktur des Barthesschen Gesamtwerks zur Sequenz eines sich in ständiger Bewegung befindlichen Schreibens. Was das Bild vom hin- und herlaufenden Kind [von Barthes gebraucht] auf der räumlichen Ebene symbolisiert, projiziert die Spirale in die Zeit. Sie ist Differenz und Kontinuität in einem." (486) Ette trifft die Relevanz der Performativität der Barthesschen Schriften, wenn er abschließend meint: "Sein Schaffen entfaltet eine unerhörte Bewegungsenergie, die es für die Kontexte unserer Zeit zu nutzen gilt." (495)

Barthes ist unbestritten ein für die Literatur und Literaturwissenschaft exemplarischer Autor der zweiten Hälfte des 20. Jhdt. und jede weitere Erörterung des intellektuellen Feldes Frankreichs kann sich auf Ettes Barthes-Monographie stützen. Sie entfaltet das Paradox, Roland Barthes auf seine eigenen Begriffe zu bringen, obwohl oder insofern er sie selber immer unterlaufen hat.


Dr. Thomas Wägenbaur
Deutsches Seminar
Universität Tübingen
Wilhelmstraße 50
D-72074 Tübingen

Ins Netz gestellt am 11.04.2000.

Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit ist given to the author and IASL online.
For other permission, please contact IASL online.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASL rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück ]