Wagner über Herz: Hans Tuchers Jerusalemreise

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Bettina Wagner

Ein Nürnberger Jerusalemreisender
des späten 15. Jahrhunderts
und die allmähliche Verfertigung
seines Berichts beim Schreiben

  • Randall Herz: Die >Reise ins Gelobte Land< Hans Tuchers des Älteren (1479–1480). Untersuchungen zur Überlieferung und kritische Edition eines spätmittelalterlichen Reiseberichts (Wissensliteratur im Mittelalter 38) Wiesbaden: Reichert Verlag 2002. XVII, 792 S. [14] Bl. Ill. Geb. € 63,-.
    ISBN 3-89500-254-2.


Die Würzburger Dissertation von 1999 leistet einen Beitrag zur Erforschung der Gattung der spätmittelalterlichen Berichte über Jerusalemwallfahrten, von der sie ein prominentes und breit überliefertes Beispiel in einer textkritischen Edition vorlegt. Zugleich vermag Herz an Tuchers Text exemplarisch nachzuvollziehen, wie um 1480 das alte Medium der handschriftlichen Weitergabe von Texten bereits durch die neuen Wege der Verbreitung in gedruckter Form stark zurückgedrängt wurde: in der handschriftlichen Überlieferung dominieren Vorstadien der Textkonstitution durch den Autor selbst und in seinem engsten Umkreis und sekundäre Rezeptionsformen der Druckabschriften; die Breitenwirkung des Textes basiert dagegen fast ausschließlich auf den gedruckten Ausgaben, die – zunächst noch in Zusammenarbeit mit dem Autor, aber bald schon verselbständigt – den Text in eine für die überregionale Verbreitung geeignete Form bringen und ihn bis ins 17. Jahrhundert erfolgreich weitertradieren.

Die Arbeit gliedert sich in einen Untersuchungs- (S. 3–323) und Editionsteil (S. 327–667), wobei im Untersuchungsteil die Beschreibung der handschriftlichen und gedruckten Überlieferung (S. 29–188) breiten Raum einnimmt. Die eigentliche Analyse des Reiseberichts besteht aus einem einleitenden Forschungsüberblick (S. 3–28) sowie einem längeren Abschnitt, in dem die Überlieferung im Hinblick auf die Entstehung des Textes und seine gedruckte und handschriftliche Überlieferung, auf seine Beziehungen zum Parallelbericht des Sebald Rieter d. J. zur gleichen Reise und auf seine Wirkungsgeschichte ausgewertet wird (S. 189–290). Für die buchgeschichtliche Forschung zur Umbruchszeit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bietet dieses Kapitel aufschlußreiche Erkenntnisse zur Produktion, Distribution und Rezeption eines Textes, der sich vom persönlichen Erinnerungsbuch eines Reisenden zu einem überindividuell gültigen Reisehandbuch oder auch zum Andachtsbuch für eine geistige Pilgerfahrt zu den heiligen Stätten wandelt.

Thesen der Forschung

Angesichts der Bekanntheit Tuchers und seines Reiseberichts im Umfeld der Nürnberger Stadtgeschichte und im Gattungszusammenhang der Reiseliteratur verzichtet Herz in seiner Einleitung auf auch nur knappe historisch-biographische Hintergrundinformationen; der Leser muß sich anderweitig informieren. 1 Dies ist umso bedauerlicher, als die Qualität vorliegender Darstellungen nicht immer überzeugend ist und eine Zusammenfassung auf neuestem Stand der Wissenschaft durchaus nutzbringend gewesen wäre. Gerade wegen seiner weiten Verbreitung und seiner Modernität verdient Tuchers Bericht eine auch inhaltliche Neubewertung, zu der Herz in der kritischen Auseinandersetzung mit Thesen der älteren Forschung Beiträge leistet.

Diese war vorrangig von der Frage nach den Abhängigkeiten zwischen dem Reisebericht Tuchers und Sebald Rieters bestimmt, die die Reise ins Heilige Land 1479 zusammen unternommen und in Tagebuchaufzeichnungen dokumentiert hatten. Die Erkenntnis Joachimsons (1895) 2 , daß Tucher die bereits vorliegenden Reisenotizen Rieters benutzte, führt in der neueren Forschung zur – für die Pilgerliteratur grundlegenden – Diskussion nach dem Verhältnis von Quelle und Eigenart, von literarischem Stereotyp und individueller Wahrnehmung des Fremden. Die bisweilen vorgeschlagene Zuordnung der Pilgerberichte zur autobiographischen Literatur kann allenfalls mit der Darstellung persönlicher Erlebnisse der Verfasser begründet werden; sie beschränkt sich allerdings meist auf die Außensicht, eine innere Beteiligung ist nur selten erkennbar.

Unter den anderen Forschungsansätzen nimmt Herz zum sozialgeschichtlichen Ansatz Wolfs (1989) 3 kritisch Stellung, der zwischen den Intentionen geistlicher, adliger und bürgerlicher Verfasser differenziert und Tucher letzterer Gruppe zuordnet. Dem widerspricht Herz mit dem Hinweis auf "das adelige Bewußtsein des Nürnberger Patriziats" (S. 19), das aus den Ämterlaufbahnen von Familienmitgliedern und insbesondere aus Stiftungen deutlich wird, die von der herausgehobenen sozialen Stellung der Tucher in Nürnberg zeugen. Im (mißverständlich betitelten) Kapitel zur "Quellenforschung" befaßt sich Herz mit zwei Beispielen für die Wirkungsgeschichte des Tucherschen Berichts: im Evagatorium des Ulmer Dominikaners Felix Fabri und im anonymen Prosaroman Fortunatus. Kästners Monographie zum Fortunatus (1990) 4 hat die Tucherforschung durch den Hinweis auf die in der Nürnberger Handschrift N (Herz S. 92–96) erhaltene, von Tucher selbst korrigierte Druckvorlage auf eine neue Grundlage gestellt.

Nicht zu klären ist jedoch die Frage, in welcher Fassung Tuchers Reisebericht vom Fortunatus-Autor benutzt wurde. Herz plädiert (S. 27) aufgrund von Übereinstimmungen mit dem Augsburger Erstdruck (1482) für eine Entstehung des Fortunatus in Augsburg (statt Nürnberg). Angesichts des schnellen überregionalen Absatzes Augsburger Drucke, den auch der textgeschichtlich nah verwandte Straßburger Nachdruck von 1484 bezeugt, erscheint dies jedoch nicht zwingend; eine Benutzung dieser Ausgabe hält Herz jedoch wegen ihrer fehlenden Bekanntheit in Bayern und Franken für unwahrscheinlich.

Handschriftliche und gedruckte Überlieferung
vom 15. bis ins 17. Jahrhundert

Nach dem Resümee der Forschungsgeschichte wendet sich Herz der Sichtung der Überlieferung des Tucherschen Berichts zu. Er legt detaillierte Beschreibungen von 27 Handschriften aus dem Zeitraum 1480–1680 sowie von sieben Inkunabelausgaben (1482–1489) und sechs Drucken des 16. Jahrhunderts vor und ergänzt diese Aufstellung noch um Beschreibungen von fünf Handschriften des Berichts Sebald Rieters. Die Handschriftenbeschreibungen (S. 33–162) basieren auf den Richtlinien der Deutschen Forschungsgemeinschaft (5. Auflage 1992) für die Anlage von Handschriftenkatalogen, sind jedoch – und gerade deswegen – nicht zielgerichtet auf den Zweck der vorliegenden Untersuchung hin orientiert. Sie bieten eine Fülle von Detailinformationen zum kodikologischen Befund und zu den mitüberlieferten Texten, deren Relevanz für die Tucherforschung dem Leser nicht immer deutlich wird.

So erleichtert das Vorhandensein von Blattweisern zwar zweifellos das Auffinden einzelner Texte in einer Handschrift (vgl. S. 100) und zeugt so von einer Benutzung des jeweiligen Codex als Nachschlagewerk; Angaben zu ihrer genauen Plazierung (so S. 41 Anm. 155 und S. 76 Anm. 180) erscheinen aber unnötig. Die minutiösen Ausführungen zum Buchschmuck werden im anschließenden Untersuchungsteil ebensowenig ausgewertet wie die übermäßig ausführlichen Einbandbeschreibungen, bei denen allenfalls die Zuschreibung an eine identifizierbare Buchbinderwerkstatt bemerkenswert ist. In der Rubrik >Besitz< finden sich Angaben zu bekannten individuellen und institutionellen Vorbesitzern der Handschriften, aber auch zu ihrer Entstehung und vermuteten, aber unbekannten Besitzern (so z.B. S. 58, 63), was zwar unüblich, aber durchaus aufschlußreich ist. Antiquare, deren Handschriftenerwerbungen ja weniger von inhaltlichen als von kommerziellen Gesichtspunkten bestimmt werden, sollten dagegen nicht unter die Vorbesitzer subsumiert werden.

Sinnvoll wäre es gewesen, die Literaturangaben zu einzelnen Vorbesitzern schon an dieser Stelle statt erst am Ende des Abschnitts >Literatur< anzuführen. In diesem hat sich Herz leider ebenfalls nicht um eine Verschlankung und damit leichtere Benutzbarkeit der Beschreibungen bemüht: Literaturangaben werden in unermüdlicher und ermüdender Ausführlichkeit wiederholt 5 , wo die Verwendung eines Kurztitels unter Hinweis auf das Literaturverzeichnis völlig ausreichend gewesen wäre. Hier wäre ein reflektierterer Umgang mit der copy-and-paste-Funktion des benutzten Textverarbeitungsprogramms ratsam gewesen.

Die Handschriftenbeschreibungen hätten durch ein pragmatisches Zitierverfahren jedenfalls erheblich an Übersichtlichkeit gewonnen. Nicht immer ist der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn einer Handschriftenbeschreibung direkt proportional zu ihrer Ausführlichkeit. Hilfreich wäre es gewesen, bereits in den Handschriftenbeschreibungen auf die im Bildteil am Ende des Bandes gebotenen Abbildungen hinzuweisen; obwohl diese oft Befunde der Beschreibungen anschaulich machen, wird auf ihre Existenz im Untersuchungsteil an keiner Stelle Bezug genommen.

Die Beschreibungen der Inkunabelausgaben (S. 165–174) orientieren sich an den Konventionen des Gesamtkatalogs der Wiegendrucke (GW), der bisher noch nicht den Buchstaben >T< des Verfasseralphabets erreicht hat. Herz muß sich daher auf Beschreibungen in der Inkunabelbibliographie Ludwig Hains sowie in den Bestandskatalogen des Britischen Museums (heute British Library) und der Bayerischen Staatsbibliothek, die als einzige Bibliothek weltweit Exemplare von allen Tucher-Wiegendrucken besitzt, stützen. Er bietet detaillierte bibliographische Informationen zu den einzelnen Ausgaben sowie umfängliche Nachweise der erhaltenen Exemplare, die er zweifellos mit Hilfe des Incunabula Short-Title Catalogue (ISTC) 6 ermittelt hat, obwohl diese Datenbank an keiner Stelle zitiert wird.

Zu den einzelnen Druckexemplaren nennt Herz zwar Literatur (auch hier wären Wiederholungen vermeidbar gewesen), bietet aber keine präzisen Beschreibungen. Dies ist um so bedauerlicher, als die Rezeptionsgeschichte der Druckausgaben interessante Aufschlüsse über die überregionale Verbreitung des Reiseberichts erbracht hätte. Da die Inkunabelausgaben durchwegs lokalisiert und datiert sind, wären dagegen Angaben zu den Wasserzeichen verzichtbar gewesen, zumal diese häufig in den einschlägigen Repertorien nicht nachweisbar sind. Wie aufschlußreich Provenienzen und die Zusammenstellung beigebundener Drucke für die Wirkungsgeschichte sein können, zeigen Herz' vereinzelte Angaben zu den Ausgaben des 16. Jahrhunderts (S. 175–188). Offensichtlich beabsichtigt Herz, die entsprechenden Informationen zu den Inkunabelausgaben in einer >Studie zur Drucküberlieferung des Tucherschen Reiseberichts< (vgl. Literaturverzeichnis S. 711) separat zu veröffentlichen und zu analysieren.

Überlieferungstypen und ihre chronologische
und geographische Verbreitung

Schon die "Überlieferungsübersicht" (S. 193–195) bietet interessante Erkenntnisse zur Typologie sowie räumlichen und zeitlichen Streuung der handschriftlichen und gedruckten Textzeugen. Die Überlieferung läßt sich grob in Handschriften aus dem engsten Umkreis des Verfassers, Druckauflagen und Druckabschriften gliedern. Zur ersten Gruppe gehören drei Autographe Tuchers, darunter zwei verschollene, von denen eines allerdings in zwei Abschriften erhalten geblieben ist; daneben umfaßt diese Gruppe vom Autor durchgesehene Abschriften sowie zwei anonyme Parallelhandschriften. Die Handschriften der ersten Gruppe stammen durchwegs aus Nürnberg und aus der Zeit zwischen 1480 und 1485; lediglich die Autograph-Abschrift aus Rieterschem Familienbesitz entstand später. Die Verbreitung im Buchdruck verlief dagegen in breiterer räumlicher Streuung und mehreren distinkten Phasen: alle Inkunabelausgaben konzentrieren sich auf den Zeitraum eines Jahrzehnts (1482–1489) und die drei Druckorte Augsburg, Nürnberg und Straßburg.

Nach einer längeren Unterbrechung erschienen im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts vier Ausgaben von Auszügen aus dem Reisebericht unter dem Titel Ain hubscher Tractat, mit denen der Text nun auch außerhalb Süddeutschlands (in Leipzig) verlegt wurde. Erst in der zweiten Jahrhunderthälfte kamen wieder vollständige Ausgaben auf den Markt, darunter Sigmund Feyerabends Reyßbuch deß heyligen Lands von 1584 7 und seine Nachdrucke, die nun meist in der Messestadt Frankfurt erschienen und in regelmäßigen Abständen von ca. 25 Jahren wiederaufgelegt wurden. Mit der Nürnberger Ausgabe des Reißbuch von 1659 endet die Druckgeschichte.

Druckabschriften wurden dagegen zwischen 1482 und 1680 recht kontinuierlich, wenn auch in unterschiedlicher Vollständigkeit und mit abnehmender Häufigkeit, angefertigt. Sie zeugen von einer erheblich breiteren geographischen Verteilung der Druckexemplare als dies – mangels Angaben zu deren Besitzgeschichte – die Druckbeschreibungen deutlich machen: Abschriften wurden nicht nur im unmittelbaren Umkreis des Verfassers, sondern auch an Orten angefertigt, in denen kein Druck erschien, wie z.B. Mondsee, München, Zürich und Dresden.

Stadien der Textentstehung vor der Drucklegung

Die handschriftlichen Textzeugen der ersten Gruppe erlauben es – ein seltener Ausnahmefall für einen Text des späten 15. Jahrhunderts –, die Entstehung des Reiseberichts in allen Stadien, von ersten Skizzen in einem auf der Reise selbst verfaßten Brief über zwei Konzepte bis hin zum dem Manuskript, das als Druckvorlage dienen sollte, zu verfolgen. Erkennbar wird dabei einerseits die allmähliche inhaltliche Abrundung des Berichts, andererseits seine stilistische Überarbeitung, an deren Ende aus den privaten Entwürfen in Brief- und Tagebuchform ein Reisehandbuch geworden ist, das einem breiteren Publikum systematisch Wissen über Reisen in das Heilige Land vermittelt.

Die beiden Redaktionen, die im Autograph Tuchers von 1480 und einer Reinschrift von 1481 erhalten sind, zeugen davon, wie Tucher seine eigenen Aufzeichnungen und diejenigen Rieters zunächst "montageartig" (S. 199) zusammenstellte und sie dann um weitere Zusätze aus eigener Kenntnis und fremden Quellen (Ludolf von Sudheim, Hermann Schedel) erweiterte. Zugleich erfolgten sprachliche Eingriffe, die dem Ziel unterlagen, den Text auch für solche Leser, die nicht über den Spezialwortschatz eines erfahrenen Jerusalempilgers verfügten und für die Nürnberger Dialektbesonderheiten unverständlich waren, aufzubereiten. Dabei zog Tucher als erfahrenen Redaktor den Nürnberger Ratsschreiber Jörg Spengler heran, dessen Hand Herz in der Druckvorlage N (Nürnberg, Stadtarchiv, E 29 (FA Tucher) / III, Nr. 11) identifizieren konnte (vgl. Abb. 6 und 7).

Die Tradierung in gedruckter Form

Mit der Drucklegung im Jahr 1482 war die redaktionelle Überarbeitung des Textes noch nicht zu einem Abschluß gelangt, sondern verlagerte sich auf andere Akteure. Nicht mehr der Verfasser selbst, sondern der Drucker gestaltete nun den Text, im Falle der von Johann Schönsperger in Augsburg herausgebrachten Erstausgabe zu erheblichem Mißfallen des Autors. Die Wahl Augsburgs als Druckort begründet Herz – einleuchtenderweise – mit der dortigen Spezialisierung auf deutschsprachige Texte, darunter auch Reiseliteratur; beides war dagegen in der Nürnberger Druckproduktion kaum vertreten. Tucher, der den Druck wohl selbst finanzierte (vgl. S. 229), stellte Schönsperger die Handschrift N als Vorlage zur Verfügung; sie weist Markierungen für den Umbruch auf, die allerdings dem endgültigen Layout der Erstausgabe nicht immer exakt entsprechen.

Für den Vergleich zwischen der ursprünglichen Kalkulation und der tatsächlichen Realisierung durch den Setzer wäre es hilfreich gewesen, wenn Herz in seiner Textedition nicht nur die Markierungen in der Vorlage (zweiter Apparat) vermerkt hätte, sondern auch Seitenwechsel zumindest in der Erstausgabe (dritter Apparat) gekennzeichnet hätte. Offensichtlich sind jedoch die zum Teil tiefgreifenden Textänderungen gegenüber der Vorlage durch den Drucker: bei ihnen handelt es sich nicht nur um Eingriffe zur sprachlichen Modernisierung und zur Beseitigung von Dialektformen, sondern auch um zahlreiche Satzfehler sowie bewußte Kürzungen (vgl. S. 230–231), die auf das Bemühen Schönsperger zurückzuführen sind, die Blattzahl – wohl aus Kostengründen – auf 76 zu beschränken.

Tuchers Unzufriedenheit mit dem Erstdruck war so groß, daß er wenige Monate später 8 eine zweite Ausgabe beim Nürnberger Drucker Konrad Zeninger in Auftrag gab. Bemerkenswert ist jedoch, daß diesem Zweitdruck nicht allein die Druckvorlage N zugrunde gelegt wurde, wie die entsprechenden Markierungen ersichtlich machen, sondern daneben der Augsburger Erstdruck benutzt wurde. Nicht alle Eingriffe des Erstdruckers müssen daher bei Tucher auf Kritik gestoßen sein; insbesondere das Bemühen um eine überregionale Sprachform wurde akzeptiert und weitergeführt. Anstößig waren dagegen die zahlreichen Druckfehler und Kürzungen, die korrigiert bzw. rückgängig gemacht wurden (der Zweitdruck umfaßt 80 Blatt) sowie die satztechnische Minderwertigkeit der Erstausgabe: im Gegensatz zu dieser weist der Zweitdruck durchgehend eine einheitliche Zeilenzahl pro Seite und bemüht sich darum, Register zu halten.

Die zweite Ausgabe entsprach nun offensichtlich den Vorstellungen des Verfassers, der keinen weiteren aktiven Anteil an der Verbreitung seines Textes nahm. Ironischerweise erwies sich aber die qualitativ schlechtere Erstausgabe als die wirkungsmächtigste Version des Textes: von ihr hängen mit Ausnahme des zweiten Zeninger-Drucks von 1483 und der Frankfurter Ausgabe von 1561 alle weiteren Druckausgaben – und damit auch die überwiegende Zahl der Druckabschriften – ab. Die Druckgeschichte verläuft auffallend zyklisch. In der ersten Produktionsphase zu Lebzeiten des Verfassers († 1491) erschienen sieben Ausgaben, davon die Straßburger mit einem stilisierten Autorenbild mit didaktischem Gestus. Zunehmende Marktsättigung sowie die Konkurrenz durch den attraktiveren (weil illustrierten) Reisebericht Bernhard Breydenbachs führten zu einer ersten Unterbrechung der Rezeption, bis zwischen 1512 und 1518 vier Ausgaben mit Auszügen (Ain hubscher tractat) und schließlich 1561 erstmals wieder eine vollständige Ausgabe erschien, nun allerdings in einer für protestantische Leser aufbereiteten, um Hinweise auf Ablässe und Reliquienverehrung bereinigten Fassung.

Der rezeptionsgeschichtliche Erfolg des Reiseberichts spricht für die Qualität des Textes. Sie versucht Herz in Gegenüberstellung zum Rieterschen Parallelbericht genauer zu fassen. Er hebt hervor, daß Tucher nicht nur sachliche Zusätze gegenüber Rieter aufweist und den inhaltlichen und sprachlichen Erwartungshorizont seiner Leser stärker berücksichtigt, sondern die Informationen auch anders präsentiert: "Tucher ist [...] um eine logische und verständliche Organisation seines Materials bemüht." (S. 252) Tuchers Leistung liegt "in der Abrundung und Vollendung der Berichtsform" (S. 256), als weitgereister Nürnberger Patrizier gewann er daher verdientermaßen beachtlichen Nachruhm.

Druckabschriften als Rezeptionszeugnisse

Davon zeugen auch die Druckabschriften, die von Rezipienten aus unterschiedlichsten Motiven erstellt wurden: bibliophile Neigungen spielten ebenso eine Rolle wie geographische Interessen und genealogische Forschungen. Verloren ist die Abschrift des Tucherschen Berichts in der Sammlung von Reiseberichten, die um 1491 der Münchener Rentmeister Matthäus Prätzl anlegte. Im Zuge seiner geographischen Studien kopierte der Nürnberger Astronom und Mathematiker Johannes Schöner (1477–1547) den Bericht. In den Geschlechter- und Familienbüchern der Züricher Familie Füessli und der Bernstein und Hirschfeld in Dresden ist der Bericht ebenso enthalten wie in einer Handschrift aus dem Besitz eines Rieter-Nachkommens.

Andere Akzente setzen die in Klöstern entstandenen Handschriften: für einen hochstehenden Auftraggeber, nämlich Herzog Sigismund von Bayern-München, fertigte ein Indersdorfer Augustinerchorherr schon 1489 eine Abschrift an; Klosterexemplare aus Mondsee und Schwaben deuten dagegen eher auf ein Interesse am Reisebericht als Andachtsliteratur im Sinne einer geistigen Pilgerfahrt hin. Im Nürnberger Dominikanerinnenkloster St. Katharina, in dem zahlreiche weibliche Familienmitglieder der Tucher und Rieter lebten, entstand noch vor dem Erstdruck die einzige nicht druckabhängige Handschrift; sie geht auf ein nicht erhaltenes Autograph Tuchers und den Rieterschen Bericht zurück und schlägt damit den Bogen zur Betrachtung der Rieter-Überlieferung (S. 272–274), die weitgehend auf den familiären Kreis beschränkt blieb.

Im Anschluß an die Provenienzuntersuchungen resümiert Herz in zusammenfassenden Schlußkapiteln "Zentren des Interesses am Tucherschen Reisebericht und seine zeitliche Entstehung" (S. 275–280) sowie "Mitüberlieferung und Gebrauchssituation" (S. 280–286). Nur knapp skizziert Herz Überlegungen zur Frage, warum der Anteil von Druckabschriften an der handschriftlichen Überlieferung im Falle des Tucherschen Berichts erheblich höher ist als bei stärker literarischen Reiseberichten (S. 279); hier hätte man sich eine präzisere Gegenüberstellung gewünscht. Bisher steht allerdings für die heranzuziehenden Vergleichstexte vielfach noch eine Untersuchung der Überlieferungsgeschichte aus, auf deren Grundlage Kriterien für eine intensivere Analyse erarbeitet werden könnten.

Das Material und seine Präsentation

Die Arbeit zeugt von bewundernswertem Fleiß bei der Sammlung des Materials und bei seiner Darbietung in der Edition, der als Leithandschrift die handschriftliche Druckvorlage N (und nicht etwa der autorisierte Zweitdruck Zeningers) zugrunde gelegt wurde und die von drei textgeschichtlichen und einem kommentierenden Apparat sowie von sechs Textanhängen und einem Verzeichnis der eingesetzten Überschriften begleitet wird. Immer wieder wird offensichtlich, daß das Buch ursprünglich als Editionsprojekt geplant war (vgl. auch das Vorwort), denn textphilologische Untersuchungen stehen im Zentrum, während dem Leser die Rezeption der beeindruckenden Forschungsergebnisse und ihre Einbindung in den Kontext der zeitgenössischen Pilgerliteratur oder der frühen Druckgeschichte nicht immer leicht gemacht wird.

Das liegt zum einen am Fehlen eines in den Text, die Persönlichkeit seines Verfassers und sein lokal- und gattungsgeschichtliches Umfeld einführenden Anfangs- und eines die – durchaus spektakulären – Untersuchungsergebnisse pointiert zusammenfassenden Schlußkapitels, zum anderen aber in der bisweilen nur schwer nachvollziehbaren Präsentation des Materials. Verschiedene tabellarische Übersichten (Verzeichnis der Siglen, S. 31–32; chronologisch-systematische Überlieferungsübersicht S. 193–195) und Stemmata (S. 289–290) sowie umfangreiche Register (Provenienzverzeichnis S. 291–301; Sachregister S. 303–314; Autorenregister S. 315–317; Verzeichnis der mitüberlieferten anonymen Texte S. 318–320; Initienregister der mitüberlieferten Gebete S. 321–323; Personenverzeichnis S. 673–682; Register I zum Untersuchungsteil S. 725–739; Register II zum Editionsteil S. 740–790) erschließen den Text; Abkürzungs- und Literaturverzeichnisse (S.29, 333–336, 669–672 und S. 683–724) sowie ein Abbildungsteil (S. 791–792 und Abb. 1–31) ergänzen ihn.

Nicht alle dieser Zusammenstellungen erscheinen zwingend notwendig; ihre Vielfalt und erratische Plazierung im Text ist kaum benutzerfreundlich. Ein kumuliertes Kreuzregister wäre hilfreicher gewesen und hätte zumindest Absonderlichkeiten wie Querverweise zwischen Registern vermeiden helfen. 9 Irritationen lösen auch gelegentliche grammatikalische und terminologische Unsicherheiten und Inkonsequenzen in der Zitierweise aus. 10 Im Leser wächst so eine gewisse Frustration und zugleich die Bewunderung für das außergewöhnliche Tuchersche Organisationstalent und die Sorgfalt seiner Redaktoren, an der sich moderne Buchproduzenten ein Vorbild nehmen könnten, und schließlich die Einsicht, daß noch heute erst Blattweiser ein umfang- und materialreiches Nachschlagewerk benutzbar machen.


Dr. Bettina Wagner
Bayerische Staatsbibliothek
Abteilung für Handschriften und Seltene Drucke
Ludwigstr. 16
D-80539 München

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Anmerkungen

1 Vgl. zuletzt Volker Alberti / Brigitte von Tucher: Von Nürnberg nach Jerusalem. Die Pilgerreise des reichsstädtischen Patriziers Hans Tucher 1479 bis 1480 (Schriftenreihe der Altnürnberger Landschaft 46) Simmelsdorf: Altnürnberger Landschaft e.V. 2000.   zurück

2 Paul Joachimsohn (Hg.): Hans Tuchers Buch von den Kaiserangesichten. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 6 (1895), S. 1–86.   zurück

3 Gerhard Wolf: Die deutschsprachigen Reiseberichte des Spätmittelalters. In: Peter J. Brenner (Hg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur (suhrkamp taschenbuch 2097) Frankfurt / M. 1989, S. 81–116.   zurück

4 Hannes Kästner: Fortunatus. Peregrinator mundi. Welterfahrung und Selbsterkenntnis im ersten deutschen Prosaroman der Neuzeit. Freiburg i.Br. 1990.   zurück

5 So z.B. der Hinweis auf Kästners Fortunatus-Monographie, zitiert bereits im Forschungsüberblick (S. 25 Anm. 119) und wiederholt in den Handschriftenbeschreibungen S. 35, 43, 77, 95 sowie im Literaturverzeichnis S. 714. Ebenfalls durchgehend mit vollständiger Angabe angeführt werden Ernst Bremers Studien zur Reiseliteratur von 1987: S. 35, 44, 71, 77, 85, 107, 133, 139 sowie S. 707. Röhrichts Bibliotheca geographica Palaestinae (1890) wird gelegentlich mit dem – im Abkürzungsverzeichnis nicht angeführten Kurztitel "BGP (1890)", überwiegend jedoch mit Volltitel zitiert.    zurück

6 The Illustrated ISTC on CD-ROM. Ed. in assoc. with the British Library. 2nd ed. Reading: Primary Source Media, 1998.    zurück

7 Eine digitale Reproduktion des >Reyßbuch< ist verfügbar über die Webseite des Göttinger Digitalisierungszentrums: http://gdz.sub.uni-goettingen.de/en/index.html.    zurück

8 Herz datiert die Erstausgabe auf Ende Januar / Februar 1482, den Zweitdruck auf Februar / März 1482.    zurück

9 Vgl. z.B. den Eintrag "Füessli, Peter III." im Register I zum Untersuchungsteil (S. 729) mit Verweis auf das Verzeichnis der Handschriftenvorbesitzer (S. 292), aber nicht auf das Autorenregister (S. 315) sowie den Eintrag "Einblatt" im Sachregister zu den Handschriftenbeschreibungen (S. 307) und im Register I (S. 729)   zurück

10 Gerade im Bereich der Literaturzitate macht sich die fehlende Schlußredaktion des Buches bemerkbar. Während manche Titel immer wieder vollständig zitiert werden, fehlen andere, verkürzt zitierte Standardwerke (wie Haebler, Piccard) im "Abkürzungsverzeichnis" (recte: Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur) und finden sich statt dessen im – von diesem unverständlicherweise durch das Personenregister getrennten – Literaturverzeichnis in der Rubrik "Handschriften- und Auktionskataloge, Hilfsmittel", der eine Bereinigung um allzu grundlegende Informationsquellen (aktuelle Reiseführer, Lexika, Computerhandbücher) nicht geschadet hätte.    zurück