Jörg Krämer

Theatergeschichtsschreibung
im mehrsprachigen Raum




  • Alena Jakubcová / Jitka Ludvová / Václav Maidl (Hg.): Deutschsprachiges Theater in Prag. Begegnungen der Sprachen und Kulturen. Prag: Divadelní ústav 2001. 511 S. Kartoniert. DEM 68,00.
    ISBN: 80-7008-111-2.


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Die Erforschung der Geschichte des Theaters auf dem Gebiet des heutigen Tschechiens läßt sich nicht von der spannungsvollen politischen Geschichte der Deutschen und der Tschechen im ehemaligen Böhmen abtrennen. Speziell die Situation im Zentrum Prag ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von einem langwährenden Prozeß geprägt, in dem deutsche und tschechische Bevölkerungsteile die Position von kulturell dominierender Mehrheit und Minderheit allmählich tauschen, bis schließlich nach 1918 die deutschsprachige Kultur offiziell zur Minderheitenkultur und schließlich nach 1945 fast völlig verdrängt wird. Der kulturelle Verlagerungsprozeß geht dabei dem politischen eindeutig voraus – und das Theater mit seiner spezifischen Öffentlichkeitsstruktur stellt wiederum einen privilegierten Ort jener Auseinandersetzungen, aber auch von Gegenentwürfen einer multinationalen Gemeinschaft dar. Das Aufkommen nationalistischer, oft auch chauvinistischer Strömungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts manifestiert sich am augenfälligsten institutionell in der Errichtung zweier getrennter Theater in Prag in den 1880er Jahren, des »Tschechischen Nationaltheaters« 1883 1 und des »Deutschen Theaters« 1888.

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Die kulturelle Spaltung in ›deutsches‹ und ›tschechisches‹ Theater nach 1880 wirkte sich im Habsburgerreich dann bis nach Wien aus und führte unter anderem zu deutschnationalen Pöbeleien im Umfeld der ersten Wiener Opernaufführung eines tschechischen Komponisten (Antonín Dvořáks »Der Bauer ein Schelm« am 19.11.1885), 2 die sich in Wien später zum Beispiel im Umfeld der Erstaufführung von Leoš Janáčeks »Jenůfa« 3 wiederholen sollten. Zur spannungsreichen Theatergeschichte gehören aber auch die Versuche der offiziellen tschechischen Theatergeschichtsschreibung zwischen 1945 und 1989, die Geschichte eines »tschechischen« Theaters ohne Einbezug der deutsch- oder anderssprachigen Theaterformen zu konstruieren 4 (vgl. dazu den Beitrag von Jiří Stefanides: Was wir vom Theater im mehrsprachigen Raum wissen, S. 446–454). Und erst vor wenigen Jahren zeigte das (politische) Scheitern des Dirigenten Gerd Albrecht als Chef der Tschechischen Philharmonie, daß die Zeit nationaler Ressentiments im deutsch-tschechischen Verhältnis immer noch nicht vorbei ist.

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Vor 1880 aber bietet sich im Bereich des heutigen Tschechiens ein völlig anderes Bild – das Bild einer gewiß nicht spannungsfreien, aber doch wesentlich multinational und -kulturell geprägten Koexistenz deutscher, tschechischer, jiddischer, aber auch polnischer, ukrainischer oder italienischer Theatermacher, die meist ebenso in deutsch- wie in tschechischsprachigen Stücken auftreten konnten und die für ein Publikum spielten, in dem auch jeder Zuschauer neben seiner Muttersprache mindestens noch eine weitere Sprache beherrschte.

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Daß nun eine internationale Tagung sich des Spannungsfeldes »Deutschsprachiges Theater in Prag« und Böhmen angenommen hat, gibt Hoffnung, daß nicht nur die Erforschung der Kulturgeschichte des Theaters in der multinationalen Koexistenz nun vorurteilsfreier beginnen kann, sondern daß auch in das deutsch-tschechische Verhältnis allmählich eine gewisse Normalisierung einkehrt.

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Zur Forschungssituation

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Nachdem lange Zeit außer den nach wie vor unersetzten positivistischen Standardwerken, etwa von Oscar Teuber oder Gustav Bondi, 5 kaum größere Arbeiten entstanden, die westlichen Wissenschaftskriterien genügen, befassen sich inzwischen einige neuere Arbeiten 6 mit dem deutschsprachigen Theater in Böhmen. Hier eine Art Zwischenbilanz zu ziehen und zu neuen Einsichten und Bewertungen zu gelangen, wie es die internationale Tagung in Prag im Jahre 2000 versucht hat, ist an der Zeit. Angesichts der schwierigen Ausgangslage könnte die Erforschung der Prager Theatergeschichte zudem einen spannenden Ausgangspunkt bieten, um etwa die kulturelle Rolle des Theaters bei der Bildung von Identitäten oder seine Verflechtung in (oder Widerständigkeit gegen) Nationalismus als diskursives Phänomen kulturwissenschaftlich zu untersuchen. Gerade an der Prager Theatergeschichte ließen sich meines Erachtens gut die Thesen von Ernest Gellner bestätigen, daß der Nationalismus die Nationen hervorbringt und nicht umgekehrt. 7

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Freilich wird der Sammelband derartigen Problemstellungen nur sehr bedingt gerecht. Dem konfliktreichen Stoff gehen die Beiträge generell meist aus dem Weg. Überblicksartikel fehlen oder sind zu schwach thematisch gebunden; sehr oft fehlt den einzelnen Artikeln der Anschluß an übergreifende Fragestellungen oder die Problematisierung des Forschungsgegenstandes. Vor allem die eigentlich auf der Hand liegenden Kontexte etwa der Probleme des Kulturtransfers, 8 aber auch der Nationalismusforschung vermißt man weitgehend. Doch selbst der gewisse »Sonderweg« Prags im Theatersystem des deutschsprachigen Raums überhaupt (s. u.) wird kaum deutlich herausgearbeitet (am ehesten noch für die Zeit zwischen 1933 und 1938). Auch die Rolle der deutschsprachigen Schauspieltruppen in Böhmen als Schrittmacher und Wegbereiter auch des nationalsprachlichen Theaters der Minderheiten, nicht nur für das tschechische Theater, sondern zum Beispiel auch in Lettland oder Ungarn, kommt eher beiläufig zur Sprache.

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Der Tagungsband enthält 34 Beiträge in deutscher oder englischer Sprache (mit tschechischen Zusammenfassungen), zudem ein Verzeichnis der ehemaligen deutschsprachigen Spielstätten in Prag mit Literaturhinweisen (S. 492–511). Der Titel »Deutschsprachiges Theater in Prag« erweist sich bei der Lektüre insgesamt als etwas irreführend und zu eng, denn die einzelnen Beiträge behandeln auch eine Vielzahl anderer Theaterstädte aus Böhmen (zum Beispiel Pilsen, Olmütz) beziehungsweise Österreichisch-Schlesien (zum Beispiel Troppau) oder gehen anderen Fragestellungen jenseits des Zentrums Prag nach; der Band behandelt damit erheblich mehr als die spezifísche Prager Theatersituation, die der Titel thematisiert.

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Theater und Nation

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Der erste, allgemeiner gehaltene Hauptteil zum Komplex »Theater und Nation« wirkt etwas beliebig zusammengestellt. Zwei Beiträge gehen dem Thema »Nationaltheater« nach, wobei Reinhart Meyer (Die Idee eines deutschen »Nationaltheaters«, S. 15–30) einen allgemeinen Überblick über die Situation im späten 18. Jahrhundert mit den Fallbeispielen Mannheim und München gibt, ohne genauer auf Prag oder wenigstens den Habsburger Raum einzugehen, während Jitka Ludvová (Nationaltheater und Minderheitentheater. Idee und Theaterpraxis, S. 43–55) konkret die Prager Situation zwischen 1880 und 1920 thematisiert. Sie zeigt, daß der Aufbau eines »Tschechischen Nationaltheaters« (ab 1883) und des »Neuen deutschen Theaters« (ab 1888) in Prag zwar vergleichbare Ausgangspunkte aufweist, nämlich die Stiftung nationaler Zusammengehörigkeitsgefühle: die Demonstration des »Recht[s] auf nationale Eigenständigkeit« (S. 44) auf tschechischer Seite, die »Einigung der deutschen Komunität« (S. 44) auf deutscher Seite. Dennoch entwickeln sich die beiden Theater höchst unterschiedlich, was Frau Ludvová auf die Funktion der Bühnen im jeweiligen Sprachraum, auf die Struktur der jeweiligen Publiken, auf die finanzielle Situation und die Repertoirepolitik der beiden Theater zurückführt.

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Die übrigen Beiträge dieser Rubrik entfernen sich vom Bereich des Theaters. Miroslav Hroch (Die böhmischen Länder zwischen ethnischer und nationaler Identität, S. 31–42) geht der Pluralität der Identitäten in Böhmen im 19. Jahrhundert nach und verweist darauf, daß (zumindest bis zur Jahrhundertmitte) die Sprachen auf dem Theater nicht identisch mit der jeweiligen nationalen Identität der Schauspieler und des Publikums waren. Der Anschluß seiner Beobachtungen an die neuere Nationalismusforschung (Gellner, Anderson etc.) fehlt ebenso wie der Blick auf die wesentlich anders gelagerte Situation nach 1860. Dalibor Tureček (August von Kotzebue auf der tschechischen Bühne (1800–1850), S. 56–64) untersucht die Rezeption Kotzebues, trennt dabei kaum zwischen Aufführungen und Rezeption durch Lektüre und geht primär der Frage nach tschechischen Kotzebue-Übersetzungen nach. Immerhin schreibt er der Beliebtheit Kotzebues eine korrigierende Funktion in der »Kultur der tschechischen nationalen Wiedergeburt« (S. 59) zu, und seinem Fazit ist zweifellos zuzustimmen: »die tschechische Kultur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kann nicht nur sub specie der tschechischen Nationalkultur entsprechend geklärt werden.« (S. 64)

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Musiktheater und Sprechtheater

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Der umfangreichste Abschnitt des Bandes sammelt Beiträge zum Bereich »Musiktheater und Sprechtheater. Geschichte des Repertoires und der Aufführungspraxis«. Schwerpunkte bilden dabei das 18. und frühe 19. Jahrhundert sowie die Zeit zwischen den Weltkriegen, während die Zeit der eigentlichen Auflösung des multinationalen Theaters in tschechisches und deutsches Theater nach 1880 nur in einem einzigen Beitrag thematisiert wird, der zudem mit dem Ballett einem anderen, gerade nicht von der sprachlichen Spaltung berührten Bereich gilt (Dorota Gremlicová: Die zeitgenössische Presse als »Bericht« über die Tanzkunst im Neuen Deutschen Theater zu Prag, S. 242–248).

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Die zahlreichen thematisch, methodisch wie vom Reflexionsniveau her sehr unterschiedlichen Beiträge umkreisen das Phänomen der Theaterpraxis von verschiedensten Seiten. Versucht man, die Fülle der ausgebreiteten Details zusammenzufügen, so deuten einerseits mehrere Beiträge auf die bedeutende Rolle hin, die den deutschsprachigen Wanderbühnen auch für die Ausbildung eines nationalsprachlichen Theaters der Tschechen, Slowaken, Ungarn (Milena Cesnaková-Michalcová: Die Theatermacher aus Böhmen in Ungarn im 18. und 19. Jahrhundert, S. 178–184) oder Letten zukam; die lettische Sprache hat sogar bis heute das Fremdwort »prağeri« für »Spielleute« bewahrt (Zane Gailite: Prag – Riga: Kontakte durch Theater und Musik, S. 185–194). Zum anderen läßt sich ein gewisser Sonderweg des Prager Theaters erkennen, das sich im 19. Jahrhundert von manchen deutschen oder westeuropäischen Entwicklungen abkoppelt und zum Beispiel gegen den Trend zur Spezialisierung und Ausdifferenzierung ältere Theatertraditionen aufrechterhält, etwa die Mischung repräsentativer und volkstümlicher Genres in einer Aufführung.

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Charakteristisch erscheint auch die erstaunlich lange Beliebtheit der Pantomime in Prag, wobei Traditionen der commedia dell’Arte hier wesentlich länger als in anderen europäischen Zentren lebendig bleiben (und von da aus dann wieder auf andere europäische Kulturen zurückwirken können, zum Beispiel auf Frankreich). Diese Beliebtheit der Pantomime könnte freilich auch damit zu tun haben, daß sie als nichtsprachliches System das Sprachenproblem in Prag unterlaufen konnte (Ladislava Petišková: Pantomime – internationale Kunst auf der Bühne des Ständetheaters in Prag in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, S. 227–241, hier bes. S. 240).

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Aus der Fülle dieser Beiträge ragt insbesondere der materialreiche Aufsatz von Horst Flechsig heraus (Unterwegs zwischen Prag und Leipzig. Eine Reiseroute der Wanderkomödianten im 17. und 18. Jahrhundert, S. 102–177), der das Problem des Kulturtransfers zwischen Sachsen und Böhmen thematisiert und in zwei Anhängen die diesbezüglichen Leipziger Dokumente ediert. Flechsig kann zeigen, daß das Prager Theaterleben nicht so einseitig nach Wien orientiert war, wie es bisher meistens angenommen wurde. Gerade die Achse von Prag in die Messestadt Leipzig war für viele Wanderbühnen lukrativ und führte dabei zugleich zu einem Austausch zwischen dem Habsburger Raum und dem protestantischen Bereich (mit Höhepunkt zwischen 1730 und 1750). Freilich gibt es auch bemerkenswerte Differenzen zwischen Leipzig und Prag, etwa darin, daß in Prag die berüchtigte Leipziger Vertreibung des Harlekins nicht goutiert wurde. Flechsig korrigiert auch die völlig verzerrte Darstellung der Oper in der bisherigen Theatergeschichtsschreibung, wenn er etwa darauf hinweist, daß sowohl Prag wie Leipzig zwischen 1744 und 1756 sowie nach 1770 von der Dresdener Hofoper aus bespielt wurden (S. 114 f.). Einen guten und gehaltvollen Überblick über die Situation des Musiktheaters gibt auch Michaela Freemanová (Oratorios (and operas) by German Composers in the 18th and 19th century Bohemian lands, S. 195–204).

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Kafkas Sonderrolle

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Einige Beiträge sind über die spezifisch theatergeschichtliche Ebene hinaus zusätzlich von literaturwissenschaftlichem Interesse. Dies gilt etwa für Alena Jakubcová/Václav Maidl, die auf die oft unterschätzte literaturgeschichtliche Bedeutung des populären spätaufklärerischen Autors C. H. Spieß hinweisen (Überzeugter Theateraufklärer, moralisierender Beobachter, Autor von Trivialliteratur. Lebens- und Schaffensaporien von Christian Heinrich Spieß (1755–1799), S. 205–226, mit aufschlußreichen, bislang unedierten Briefen im Anhang).

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Josef Čermák hebt die besondere Bedeutung Franz Kafkas für die Prager Theatergeschichtsschreibung hervor, da Kafka nicht nur deutsch-, sondern auch tschechischsprachige und jiddische Theateraufführungen besuchte und in seinen Tagebüchern kommentierte (Franz Kafka – Glossator des Theaterlebens seiner Zeit, S. 249–263). Dies stellt eine große Ausnahme angesichts des inzwischen soziokulturell offenbar sehr festgefügten Publikumsmilieus im Prag seiner Zeit dar. Auch wenn (oder vielleicht sogar: gerade weil) Kafka wohl »weder ein regelmäßiger noch ein zielbewußt auswählender Besucher von Theatervorstellungen« (S. 249) war, zählen speziell seine Anmerkungen zum jiddischen Theater zu den wichtigsten Quellen, die wir überhaupt zu diesem Teil der Prager Theaterkultur besitzen. (Vgl. dazu auch den Beitrag von Doris A. Karner: Jiddisches und jüdisches Theater in Prag zwischen 1910 und 1939, S. 333–341.)

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Der Expressionismus
auf dem Prager Theater

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Sehr aufschlußreich ist auch Adolf Scherls Aufsatz (Das expressionistische Theater auf Prager deutschen und tschechischen Bühnen 1914–1925, S. 273–285). Scherl zeigt, daß vor 1918 zunächst die tschechischsprachigen Bühnen in Prag den expressionistischen Theaterstil übernehmen, früher als die deutschsprachigen Bühnen. Nach 1918 aber erhält das expressionistische Theater dann besondere Bedeutung für die deutschsprachigen Prager Bühnen, sowohl beim Inszenierungsstil nicht eigentlich expressionistischer Autoren (Strindberg, Wedekind) wie bei der Gegenwartsdramatik der Expressionisten selbst (Hasenclever, Kaiser, Ernst Weiß, Brecht, Toller); Schlüsselfigur ist hier der Regisseur Hans Demetz.

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Auch das Musiktheater orientiert sich unter Leitung des Komponisten und Dirigenten Alexander von Zemlinsky betont an Zeitgenossen wie Schreker, Korngold, Schönberg oder Hindemith und liefert zudem 1923/24 eine vielbeachtete expressionistische Inszenierung von Wagners »Ring des Nibelungen«. (Scherls Behauptung einer Pionierstellung dieser Inszenierung scheint mir allerdings nicht stichhaltig zu sein, bedenkt man etwa die hochexpressionistische Duisburger »Ring«-Inszenierung von Saladin Schmitt und Johannes Schröder 1922/23 oder auch, daß die berühmten Bühnenbilder Ludwig Sieverths der Frankfurter »Ring«-Produktion von 1925/26 bereits für eine Inszenierung von 1912/13 in Freiburg im Breisgau entworfen worden waren. Dennoch ist Scherl zuzustimmen, wenn er die genauere Erforschung der bislang wenig beachteten Prager »Ring«-Aufführung anmahnt – nicht zuletzt ihre Weiterführung an der Preußischen Staatsoper Berlin unter Erich Kleiber 1928/29 belegt ihre Relevanz.) 9

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Die gewisse Inselexistenz des Prager deutschsprachigen Theaters in der jungen tschechischen Republik ermöglichte insgesamt dem Expressionismus eine gegenüber Deutschland etwas zeitverschobene Existenz; der expressionistische Stil überbrückte zugleich in Prag die nationalsprachlichen Grenzen, da sich auch die tschechischen Künstler für die deutschen Experimente interessieren.

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Zwischen den Weltkriegen

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Die schwierige Situation des deutschsprachigen Theaters zwischen den Weltkriegen, das nun auch politisch ein Minderheitentheater geworden war, thematisieren neben Scherl einige weitere Beiträge. Veronika Ambros (Creating a Space of One´s own: The German Theatre in Prague between the Wars, S. 264–272) hebt unter anderem die kritische Distanz des deutschen Theaters in Prag zum nationalsozialistischen Theater im Deutschen Reich, aber auch zur sudetendeutschen Henlein-Partei nach 1933 hervor, was sich zum Beispiel repertoirepolitisch in der bewußten Aufnahme tschechischer Autoren zeigt. Vlasta Reittererová (Das tschechische und das deutsche Theater zwischen den beiden Weltkriegen. Ihre gegenseitige Reflexion in der zeitgenössischen Musikpresse, S. 286–306) ergänzt dies im Bereich des Musiktheaters durch den Hinweis auf die deutschen Aufführungen tschechischer Opern (Smetana, Janáček, Weinberger, Ostrčil, Schulhoff), die klare politische Stellungnahmen gegen die nationalistische Verschärfung der Situation bedeuteten (S. 291, 304) und die gegenseitige Anerkennung deutscher und tschechischer Kultur betonten. (Auf tschechischer Seite entspricht dem die tschechische Erstaufführung von Alban Bergs »Wozzeck«, die 1926 durch tschechische Nationalisten zum größten Theaterskandal der Zwischenkriegszeit gemacht wurde; vgl. dazu den Beitrag von Helena Spurná, S. 342–352.)

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Den (relativ einseitigen) Kulturtransfer zwischen Wien und Prag in den 1930er Jahren behandelt Hilde Haider-Pregler (S. 318–332), während Lucy Topolská die noch wenig erforschte Situation des deutschen Theaters in Olmütz thematisiert (S. 307–317). Die spezielle Bedeutung des Prager deutschen Theaters für nach 1933 aus Deutschland emigrierte Künstler untersucht Hansjörg Schneider (S. 353–361) am Beispiel von Briefen emigrierter Schauspieler, Regisseure, Dirigenten und Autoren und mit Blick auf die Repertoirepolitik des Prager Theaters, dem freilich durch die tschechische Politik oft die Hände gebunden waren (so etwa durch die Kontingentierung des Anteils von Bühnenkünstlern ohne tschechischen Paß).

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Quellen – Forschungen – Projekte

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Der dritte Teil des Sammelbandes bietet endgültig den Eindruck eines Sammelsuriums. Die Themen reichen von allgemeinen Problemen biographischer Lexikalik (Hubert Reitterer: Der Biograph an der Quelle. Rückblicke und Ausblicke, S. 369–377) über Überblicke der Archivsituation in Wien und Österreich (Clemens Höslinger: Musik- und Theater-Kontakte Wien – Prag, S. 426–435; Helmut Kretschmer: Quellen zur Theatergeschichte im Wiener Stadt- und Landesarchiv und anderen österreichischen Landesarchiven, S. 419–425; Oskar Pausch: Über einige Quellen zur Theater- und Literaturgeschichte Böhmens, Mährens und der Slowakei im Österreichischen Theatermuseum, S. 436–445) bis zu Problemen der elektronischen Erfassung von Theateralmanachen (Paul S. Ulrich: Topographie des Theaters im 19. Jahrhundert elektronisch erfassen. Hinweise und Beispiele aus der Praxis, S. 468–488).

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Einzelne wichtige Figuren des Prager Theaters wie Angelo Neumann (Marta Ottlová: Eine unbekannte Quelle zu Angelo Neumann, S. 397–402) oder Eduard Tauwitz (Stanislav Bohadlo: Eduard Tauwitz’ Notizbuch, S. 403–418) werden näher beleuchtet, die Situation einiger Theater außerhalb Prags im mehrsprachigen Raum wie Troppau, Olmütz, Teschen oder Ostrau thematisiert (Jiři Štefanides: Was wir vom Theater im mehrsprachigen Raum wissen, S. 446–454; Horst Fassel: Carl Clement und Eduard Reimann als Theaterdirektoren in Troppau, Krakau, Linz und Temesvar, S. 455–467; Jitka Balatková: Theater ohne (eigenes) Archiv, S. 489–491). Auch auf die Bedeutung von bislang wenig erforschten Materialien wie etwa Notizbüchern (Stanislav Bohadlo), Tagebüchern, Zeitungen, familiären Nachlässen von Theaterleuten (Oskar Pausch), musikalischen Aufführungsmaterialien (David J. Buch: Surviving Sources of Eighteenth-century Singspiels from Prague’s German Theatre, S. 378–387), Verwaltungs- und Zensurakten (Helmut Kretschmer, Clemens Höslinger, Hubert Reitterer) oder Neujahrsgrußkarten (Jitka Balatková) wird hingewiesen, und zahlreiche Forschungsdesiderate werden benannt.

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Wer sich für die Details und die Mikrospuren der Theatergeschichte interessiert, kann hier nützliche Hinweise finden. Doch nur wenige dieser Beiträge vermögen es, darüber hinaus ihre Funde in größere Zusammenhänge und übergreifende Problemstellungen einzubinden (am überzeugendsten wirkt hier der schon anfangs erwähnte Beitrag von Jiři Štefanides).

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Fazit

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Der Sammelband bietet einen guten und materialreichen Ausgangspunkt für die weitere Erforschung des Theaters im multinationalen Raum und macht auf wichtige, forschungsgeschichtlich lange vernachlässigte Aspekte der mitteleuropäischen Kultur aufmerksam. Forschungspolitisch setzen die Herausgeber(innen) damit ein wichtiges Signal. Freilich zeigt der Band in seinen Lücken auch, wieviel noch zu tun sein wird, damit diese komplexe Theatergeschichte im Herzen Europas eine ihrer spezifischen Bedeutung adäquate Behandlung in der Forschung erfahren kann.


Apl. Prof. Dr. Jörg Krämer
Friedrich Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Institut für Germanistik
Bismarckstr. 1
DE - 91054 Erlangen

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Ins Netz gestellt am 01.07.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Apl. Prof. Dr. Jörg Krämer. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.

Empfohlene Zitierweise:

Jörg Krämer: Theatergeschichtsschreibung im mehrsprachigen Raum. (Rezension über: Alena Jakubcová / Jitka Ludvová / Václav Maidl (Hg.): Deutschsprachiges Theater in Prag. Begegnungen der Sprachen und Kulturen. Prag: Divadelní ústav 2001.)
In: IASLonline [01.07.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=248>
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Anmerkungen

Vgl. S. Buchholz Kimball: Czech Nationalism: A Study of the National Theatre Movement 1845–1883. Urbana: University of Illinois Press 1964.   zurück
In einem vor der (selbstverständlich deutschsprachigen) Premiere kursierenden Aufruf hieß es: »Pflicht eines jeden Deutschnationalen ist es, an diesem Abend rechtzeitig in der Oper zu erscheinen und gegen diese Octroirung Verwahrung einzulegen.« (Vgl. den Beitrag von Clemens Höslinger im besprochenen Band, S. 433).   zurück
Vgl. Clemens Höslinger: Zur Vorgeschichte der Wiener Jenufa-Premiere. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 25 (1972), S. 408–417.   zurück
Dějiny českého divadla. 4 Bde. Praha: Academia 1968–1983.   zurück
Oscar Teuber: Geschichte des Prager Theaters von den Anfängen des Schauspielwesens bis auf die neueste Zeit. 3 Bde. Prag: Haase 1883, 1885, 1888; Gustav Bondi: Geschichte des Brünner deutschen Theaters 1600–1925. Brünn 1924.   zurück
Zum Beispiel Hilde Pregler: Die Geschichte des deutschsprachigen Theaters in Mährisch-Ostrau von den Anfängen bis 1944. Diss. Wien 1965; Milena Cesnaková-Michalcová: Geschichte des deutschsprachigen Theaters in der Slowakei. Köln / Weimar / Wien: Böhlau 1997; Adolf Scherl: Berufstheater in Prag 1680–1739. Wien 1999. Weitere Forschungsliteratur vgl. im besprochenen Band S. 503 ff. Vgl. a. allg. den Katalog von Walter Schmitz / Ludger Udolph (Hg.): »Tripolis Praga«. Die Prager ›Moderne‹ um 1900 (Mitteleuropastudien 5) Dresden: Thelem 2001.   zurück
Vgl. Ernest Gellner: Nationalismus und Moderne. Berlin: Rotbuch 1995 [zuerst Oxford: Basil Blackwell 1983]; Bernhard Giesen: Kollektive Identität. Die Intellektuellen und die Nation 2. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1999.   zurück
Vgl. etwa Bärbel Fritz / Brigitte Schulze / Horst Turk (Hg.): Theaterinstitution und Kulturtransfer I. Tübingen: Narr 1997; Anke Detken / Thorsten Unger / Brigitte Schulze / Horst Turk (Hg.): Theaterinstitution und Kulturtransfer II. Tübingen: Narr 1998 sowie jetzt auch Thomas Fuchs (Hg.): Das eine Europa und die Vielfalt der Kulturen. Berlin: WV 2003.   zurück
Vgl. zum Beispiel Oswald Georg Bauer: Richard Wagner. Die Bühnenwerke von der Uraufführung bis heute. Fribourg / Frankfurt/M. u. ö.: Propyläen 1982, bes. S. 232 ff.   zurück