Wandhoff über Pfeffer: Zirkuläres Fragen als Methode?

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Hauke Wandhoff

>Zirkuläres Fragen< als Methode für eine empiriefreie Theorie?

  • Thomas Pfeffer: Das "zirkuläre Fragen" als Forschungsmethode zur Luhmannschen Systemtheorie. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag 2001. 140 S. Kart. EUR (D) 16,-.
    ISBN 3-89670-308-0.


Thomas Pfeffer unterbreitet in Das "zirkuläre Fragen" als Forschungsmethode zur Luhmannschen Systemtheorie einen Vorschlag für eine Methodologie der Systemtheorie.

Er attestiert der Systemtheorie, die sich an Niklas Luhmann orientiert, sowohl ein methodisches als auch ein empirisches Vakuum und versucht einen interdisziplinären Brückenschlag zu den Forschungsmethoden der systemischen Familientherapie der Mailänder Gruppe um Mara Selvini Palazzoli.

Das Buch beginnt mit einer Darstellung derjenigen Komponenten der Luhmannschen Systemtheorie, die einen Anschluß an die Methodik des zirkulären Fragens zulassen, um sodann auf Methodendefizite der Sozialwissenschaften aufmerksam zu machen. Ein kurzer Überblick über die Interviewverfahren und die empirischen Handbücher soll diese Defizite unterstreichen. Der Bezug des >zirkulären Fragens< zu Luhmanns Theorie basiert vor allem auf Beobachtung, Selbstbeobachtung und Beobachtbarkeit. Abschließend hofft Pfeffer auf die Weiterentwicklung seines Vorschlages und auf seine zukünftige interdisziplinäre Erprobung.

Die Methodenlücke innerhalb
der Luhmannschen Systemtheorie

Da ein methodischer Brückenschlag gewagt werden soll, befaßt sich das erste Kapitel zum einen mit der Systemtheorie im allgemeinen und zum anderen mit dem methodischen Defizit in den Sozialwissenschaften. Zu diesem Zweck wird der von Luhmann aus der Biologie adaptierte Begriff der Autopoiesis herangezogen. Soziale Systeme seien autopoietische Kommunikationssysteme, schlössen demnach an ihre eigenen Operationen an und reproduzierten sich durch den fortwährenden Prozess der Kommunikation. Eine doppelt-kontingente Kopplung – also die stetige Selektion von Information, Mitteilung und Verstehen – zeichnet die Kommunikation aus, wenn das "Verhalten anderer Systeme (Personen oder soziale Systeme) als Mitteilungshandeln betrachtet und von einer damit zu bezeichnenden Information unterschieden wird", so daß es zum Verstehen führe (S. 12). Dies eröffne die Möglichkeit der operationalen Beobachtung (Selbstbeobachtung), was im folgenden an die Methode des zirkulären Fragens anzuknüpfen erlaubt.

Bei seiner Suche nach einem methodischen Ansatz für die Systemtheorie durchforstet Pfeffer vier Methodenhandbücher mit negativem Resultat. Einige Seiten widmet er den vorhandenen soziologischen Verfahren (quantitative und verschiedene qualitative) mit der Begründung, daß auch das zirkuläre Fragen eine Interviewform sei. Da soziologische Fragetechniken aber vor allem personenzentriert, nicht aber kommunikations-system-zentriert vorgehen bleibt seine Suche – wie zu erwarten war – ergebnislos.

Das "zirkuläre Fragen"

Pfeffer stützt seine Ausführungen zum Themenkomplex des >zirkulären Fragens< und zu dessen systemtheoretischer Kompatibilität vor allem auf die Arbeiten von Fritz B. Simon und von Gregory Bateson. Anders als bei linearen Kausalitätssträngen von Ursache und Wirkung hat das >zirkuläre Fragen< stets einen Rückkopplungeffekt der Wirkung auf die Ursache selbst oder eine reziproke Wirkung der Wirkung. Um diese Operation beobachten und bezeichnen zu können, bedarf es der Beobachtung der Beobachtung:

In einem engeren Sinn verstand das Mailänder Team jenen Typ von Fragen als zirkulär, bei dem ein Familienmitglied über zwei andere Auskunft geben soll. [...] Etwas allgemeiner ausgedrückt, werden damit solche Fragen bezeichnet, die den Interviewpartner zu einem Wechsel der Perspektiven auffordern, dazu, nicht über die eigene Person zu berichten, sondern Vermutungen über Perspektiven anderer anzustellen. [...] Zirkularität wird dadurch hergestellt, dass Perspektiven häufig gewechselt und miteinander in Beziehung gesetzt werden. (S. 124)

Pfeffer arbeitet insbesondere die Affinitäten der systemischen Familientherapie mit der Luhmannschen Theorie einer autopoietischen Kommunikation heraus, die durch den selbstherstellenden und reziproken Fluss von Selektionen der Informationen, Mitteilungen und des Verstehens angetrieben wird: Insofern die systemische Familientherapie nämlich Unterscheidungen zwischen Familienmitgliedern trifft und in einen >kybernetischen Regelkreis< als >gedankliche Einheit< einordnet, modelliert sie diese als eine >Ergebnisfolge mit Feedbackstruktur<, die sich durch Informationen stetig selbst erhält.

Im Begriff der >Beobachtung< überschneiden sich laut Pfeffer die >doppelte Beschreibung< von Kommunikation durch die systemische Familientherapie von Bateson mit der >doppelten Kontingenz<, die Luhmann für die Beobachtung der Beobachtung bzw. dann annimmt, wenn Alter das Verhalten von Ego als kontingent ansehen muß, als intime Entscheidung aus vielen Möglichkeiten, und die Beobachtung wiederum nur selektiv als Mitteilung vermittelt wird, was zu einem selektiven Verstehen und Verhalten führt, das für Ego genauso kontingent erscheint. Aufgrund der Konvergenz beider Theorien scheint die Familientherapie Kontingenzprobleme von Kommunikation zu simulieren, die sozialer Kommunikation überhaupt inhärent sind. Das Verfahren des >zirkulären Fragens< könne deshalb auch auf andere Systeme – nicht nur auf Familien – Anwendung finden, um systemspezifische Kommunikationsprozesse zu rekonstruieren.

Pfeffer versucht in den folgenden Kapiteln, das Problem der Diskrepanz zwischen der unspezifischen Beobachtung bei Luhmann und der spezifischen in der systemischen Familientherapie darzustellen. Um diese Diskrepanz zu überwinden, sei es notwendig, die Adressaten von Kommunikationsakten, die Luhmann selbst als psychische Umweltsysteme aus dem sich selbst reproduzierenden (autopoietischen) Kommunikationssystem verbannt, stärker zu berücksichtigen. >Zirkuläres Fragen< ermögliche es nämlich, Handlungen im Kontext von Handlungen als Ketten von Reaktion und Gegenreaktion oder als kommunikativ zirkuläre Akte von Aktion, Wirkung und Wirkungswirkung sozialsystem-intern, d. h. als soziale Phänomene darzustellen. Innerhalb der Familientherapie ergebe sich durch die Methodik der Beobachtung von Beobachtern eine reziprok-zirkuläre soziale Konstruktion von >Realität< auf der Basis der wechselseitigen Verflechtungen und Bezugnahmen der Handlungen und Kommunikationsakte verschiedener Adressaten.

Da Luhmanns Systemtheorie jedoch ohne Kommunikationsadressaten auskommen möchte, Kommunikation als sich autopoietisch selbst erzeugend begreift und sie demnach unabhängig von den Kommunikationsteilnehmern bleibt, verzichte sie auf eine empiriefähige, soziologisch >messbare< Komponente von Kommunikation. Pfeffers Exkurs in Luhmanns Theorie der >Funktionssysteme der Gesellschaft< und der System-Umwelt-Beziehungen mündet denn auch in eine Bilanz der Unterschiede zwischen Familientherapie und Systemtheorie (spezifische vs. unspezifische Kommunikationsteilnehmer, System-System-Beziehungen vs. System-Umwelt-Beziehungen, Beobachtung von Beobachtern vs. Beobachtung von Beobachtungen, Großsysteme vs. Kleinsysteme).

Pfeffers Versuche, die teilnehmerlose Autopoiesis zu überwinden, ohne die kategorialen Grenzen von Luhmanns Systemtheorie zu überschreiten, muten vor diesem Hintergrund wie bloße Kompromißformeln an, bezeichnen aber ein theoriebautechnisches Problem, das noch der Lösung harrt:

Obwohl Luhmann auf die Untersuchung von Kommunikationsteilnehmern verzichtet, kommt die soziologische Systemtheorie nicht ohne Kommunikationsteilnehmer aus. Denn Kommunikation benötigt Zurechnungspunkte, denen kommunikative Zurechnungsfähigkeit unterstellt werden kann. [...]. Unter der Voraussetzung, dass man Kommunikationspartner konsequent als soziale Konstruktionen betrachtet, kann mit dem Begriff des >Adressaten< eine Querverbindung zur Akteurstheorie hergestellt werden, und im Sinne des zirkulären Fragens nach den rekursiven Verknüpfungen zwischen wechselseitig sich beobachtenden Adressaten gesucht werden. (S. 105)

und:

Das zirkuläre Fragen bezieht die Beobachtungen und Handlungen verschiedener Kommunikationsteilnehmer zirkulär aufeinander. Damit vermeidet es die einseitige Zurechnung von Kommunikation auf monadische Individuen und kann stattdessen die rückbezügliche Verknüpfung aufeinander bezogener Handlungen / Kommunikationen zu selbstragenden und selbsterzeugenden Strukturen darstellen. (S. 133)

Resümee

Die Beobachtung (im doppelt-kontingenten Sinne Luhmanns) des Ansatzes von Thomas Pfeffer ergibt ein Bild, das durchaus als ambivalent betrachtet werden muß.

Zum einen erarbeitet Pfeffer ein wohl durchdachtes, inhaltlich stringent aufgebautes und schlüssiges Konzept einer Forschungsmethodik für die Luhmannsche Systemtheorie. Dabei entsteht ein übersichtlicher Rahmen für Informationen vergleichender wie auch spezifischer Art, die sowohl die Systemtheorie als auch das >zirkuläre Fragen< der systemischen Familientherapie betreffen.

Leider erweist sich Pfeffers Konzeption genau da als lückenhaft, wo sie es am wenigsten sein dürfte, nämlich bei der praktischen Durchführbarkeit der Methode. Jegliche Andeutungen dazu, wie man sich eine empirische Studie im Forschungsfeld der Systemtheorie und außerhalb der Familienpsychologie im einzelnen vorzustellen habe, fehlt.

Als Falle erweist es sich auch, der Systemtheorie ein >Vakuum< von Forschungsmethoden zu attestieren und dieses dann mit Hilfe von Methodenhandbüchern der Sozialwissenschaften beheben zu wollen. Deren Interviewverfahren dienen anderen Zwecken und beziehen sich nicht auf Prämissen der Systemtheorie. Daß stattdessen ältere Ansätze durchaus bereits Vorschläge für eine operationalisierbare Methode der Systemtheorie angeboten haben, die als kritische Folie von Pfeffers Argumentation besser geeignet erscheinen, bleibt unthematisiert. So beschäftigen sich z.B. bereits Prewo, Ritsert und Stracke 1 mit methodischen Ansätzen der Systemtheorie, und auch aus dem Ansatz von Alfons Bora 2 lassen sich solche ebenso herausfiltern wie aus Johannes Weyers 3 Netzwerke-Theorie. Von einem Methodenvakuum zu sprechen, erscheint somit zumindest übertrieben.

Thomas Pfeffer informiert den Leser fachkundig und vermittelt die wechselseitige Anschlußfähigkeit von Systemtheorie und Familienpsychologie verständlich und komprimiert. Er offeriert damit der Luhmannschen Systemtheorie eine Möglichkeit, ihr empirisches und genuin mikrosoziologisches Defizit zu überwinden. Inwieweit dies den Voraussetzungsrahmen einer Theorie autopoietischer System sprengt, also den Theoriekern der Luhmannschen Konzeption von Kommunikation berührt oder nicht, bleibt jedoch vorerst noch offen. Daß solche Überlegungen auch für eine empiriefähige und systemtheoretisch orientierte Literatursoziologie und eine Theorie literarischer Kommunikation von Interesse sein werden, liegt indessen auf der Hand, hatte doch Siegfried J. Schmidt schon 1993 seine Einwände gegen eine "Kommunikation ohne Menschen" formuliert. 4 Pfeffers Vorschlag verweist auf eine zukünftige Theoriebildung, in der sowohl die Adressatenlosigkeit des Luhmannschen Kommunikationsbegriffs als auch der obsolete und hypostasierende Individualismus von Schmidts >Empirischer Literaturwissenschaft< zugunsten von Kommunikation als einem Mehrebenensystem, das seine Adressaten-‚Umwelten< inkludiert, überwunden werden könnte.


Hauke Wandhoff
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Anmerkungen

1 Rainer Prewo, Jürgen Ritsert, Elmar Stracke: Systemtheoretische Ansätze in der Soziologie – Eine kritische Analyse. Reinbek: Rowohlt 1973.   zurück

2 Alfons Bora: Die Konstitution sozialer Ordnung. Pfaffenweiler: Centaurus 1991.   zurück

3 Johannes Weyer: Soziale Netzwerke. München / Wien: Oldenbourg 2000.   zurück

4 Siegfried J. Schmidt: Kommunikationskonzepte für eine systemorientierte Literaturwissenschaft, in: S. J. S. (Hg.), Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S. 241–268, hier S. 243 und 243–253.   zurück