
- Horst Seferens: Leute von übermorgen und von vorgestern.
Ernst Jüngers Ikonographie der Gegenaufklärung und die deutsche Rechte nach
1945. Bodenheim: Philo-Verlag 1998. 398 S. Kart. EUR (D) 39,80.
ISBN 3-8257-0110-7.
Horst Seferens stellt seiner beeindruckenden Arbeit über Ernst Jüngers
ästhetisch-politische Ikonografie der Gegenaufklärung Hans-Harald Müllers treffliches Diktum aus dem Jahr 1995 voran, dass die Jünger-Exegese sich ">in einem schlechten Zustand<" befinde, weil sie "nach den ideologischen Erledigungsversuchen der sechziger und siebziger Jahre in deren Gegenteil" umgeschlagen sei. Die literaturwissenschaftliche Weichenstellung hierzu war fraglos Bohrers Buch, das auch einer "außerliterarischen Intention" folge, insofern Bohrer "den angefeindeten Autor als Provokationsfigur gegen eine politisierte und soziologisch infizierte Literaturwissenschaft" benutze, "wie sie in den siebziger Jahren tonangebend war".
Angesichts der bipolaren Gemengelage verschiedener, anhand von Jünger sich artikulierender "außerliterarischer" (S. 9), institutioneller
Interessen setzt sich Seferens zum Ziel, die mitunter subtil polemische Polarisierung
der Jünger-Debatte und -Forschung zu überwinden. Und da diese dazu neigt, zum einen Jüngers
politisch-strategische Ambitionen und zum anderen die poetische Signatur seiner Texte zu
verabsolutieren, ist eine integrative Klärung und konsensuelle Bewertung Jüngers
nachhaltig erschwert.
Damit will Seferens zunächst der vor allem von Bohrer
auf hohem Niveau vorgelegten ästhetischen Sichtweise begründet widersprechen; dies zumal vor dem Hintergrund von deren Funktion innerhalb des neukonservativen gesellschaftspolitischen Klimas der Bundesrepublik seit der geistig-moralischen Wende durch die Kanzlerschaft Kohl, deren kulturpolitische Verwertungszusammenhänge Seferens für Jünger umfassend und genau nachzeichnet.
Literarische Camouflage
In der Auseinandersetzung besonders mit dem im Allgemeinen als tendenziell metaphysisch und jedenfalls als politisch harmlos eingeschätzten Nachkriegswerk erbringt Seferens den Nachweis eines elaborierten Verfahrens der literarischen Camouflage bzw. der Mimikry, die es Jünger erlaubt, seine dichte und verknappte Bild- und Metaphernsprache kaum merklich mit politisch-programmatischen und strategischen Diskursen zu durchsetzen:
Jüngers Texte [sind] in erstaunlicher Kontinuität und Konsequenz so weitgehend mit politisch-ideologischen Implikationen kontaminiert, dass diese im Sinne einer ikonografischen Theoriebildung geradezu als ihr gestaltendes ästhetisches Prinzip betrachtet werden müssen. (S. 380)
Zentral ist dabei Seferens methodische Festlegung, dass "die politischen Gehalte gerade dort" aufgesucht werden müssen, "wo sie sich als >schöne Literatur< inszenieren". In dieser Hinsicht wird auf die besondere Bedeutung der "Lunarischen >Theorie< des stereoskopischen Blicks" verwiesen (S. 154), die Jünger in seinem "Sizilianischen Brief an den Mann im Mond" ausformuliert hat. Der stereoskopische Blick lässt für den spazierenden Landschaftskontemplator Jünger in einer ">Zehntelsekunde<" die Identität ">von Physik und Metaphysik<" aufscheinen, die alle Antagonismen der empirischen und politischen Welt harmonisiert; er entbirgt unverbrüchliche "Sinnbilder" von ikonografischer Valenz (S. 156) und gibt – so Jünger – "den Durchblick frei auf das Sein an sich, das hinter den verschiedenen zeitlichen Gewandungen in seiner unveränderlichen Zeitlosigkeit ruht" (S. 155).
Restaurative Mythenbildung
Die Konflikt- und Angstpotenziale der realen lebensweltlichen Widersprüche würden durch die stereoskopische Wahrnehmung nicht assoziativ erweitert und erfahrungshaltig bereichert, auch nicht (dialektisch) aufgehoben und dadurch praktisch-politisch vermittelbar; vielmehr würden sie in einer gleichsam lebensästhetischen – oder politisch-romantischen (Novalis) – Optik von einer ganzheitlichen Vision der kristallinen Klarheit überstrahlt. Dabei sei der stereoskopische Blick, in dessen Sicht auf die zeitliche Wirklichkeit immer die Ideale einer zeitlosen Ewigkeit und Sinnhaftigkeit durchscheinen, Quelle eines exklusiven Wissens, das seinen Träger vor anderen auszeichnet und ihm besondere Fähigkeiten und Befugnisse für eine restaurative Mythenbildung zuweist. In dieser interpretatorischen Perspektive bringt Seferens die vagen Implikationen und Abbreviaturen in Jüngers später Prosa auf einen Punkt:
Aufgabe der Elite in einem Staatswesen ist es nach Jüngers impliziter Auffassung, das metaphysische Bedürfnis der Massen angemessen durch die Schaffung mythischer Welterklärung und kultischer Praxis zu befriedigen. (S. 39)
Die nicht nur geschichtsphilosophische, sondern auch unmittelbar strategische Dimension eines solchen Ansatzes habe noch in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts eine durchaus aktuelle Verankerung:
Auf dem Hintergrund einer Reflexion über die von der Aufklärung geleistete Rationalisierung und Säkularisierung entwickelt Jünger eine post-moderne Gesellschaftstheorie für die Zeit nach der von der französischen Revolution und ihren Erben geprägten Epoche. (S. 38)
Allerdings verfolge Jünger diese politische Strategie nicht offen, sondern mit Mitteln der ästhetischen Interaktion, derer sich auch die intellektuelle politische Rechte zunehmend als Kulturkampf-Strategie bediene (wobei sie sich auf einen – von dem in Haft verstorbenen italienischen Marxisten Antonio Gramsci entwendeten – Hegemonie-Begriff beziehe).
Aladins Problem –
Eine ideologiekritische Exegese
Wie die weltanschaulichen Suggestionen in die latenten Bedeutungsschichten eines Textes mit literarischem Anspruch eingelagert werden, zeigt Seferens vorab durch eine ideologiekritische Exegese von Jüngers Erzählung Aladins Problem, die kurz nach der Bonner >Wende< und der heftigen Kontroverse um die Verleihung des Goethepreises der Stadt Frankfurt an Jünger erschien: "Zwar verkündet Jünger kein offenes politisches Programm, doch ist der Text durchwoben von einem politisch konnotierten Subtext" (S. 25).
Die in diesen Subtexten eingeschriebene Genealogie der Gegenaufklärung und "Gegen-Geschichtsschreibung" betreibe auf subtile Weise eine "revisionistische Interpretation des Nationalsozialismus", die – Ernst Noltes relativistische Geschichtsdeutung vorwegnehmend – alle Leidtragenden dieses gewaltsamen Jahrhunderts als Opfer eines umfassenden "Weltbürgerkriegs" auffasse (S. 28). So räsoniert Jüngers Erzähler Baroh, dass "die beiden Weltkriege […] vermutlich von künftigen Historikern kaum noch getrennt werden" (S. 29), und Seferens moniert u.a., dass Jünger "auf diese Weise implizit die These vom Zivilisationsbruch des Holocaust" bestreite.
Ferner suggeriere die Erzählung die Aufhebung der "Tabuisierung sämtlicher autoritärer Herrschaftsformen", indem sie am Vorbild eines mythischen anatolischen Diktators Humayum das kulturschaffende Spezifikum autoritärer Herrschaft gegen den demokratischen Kulturverfall beschwöre und indem sie eine "gelungene Realisierung der >profilierenden<, Macht und Kunst symbiotisch vereinigenden Tyrannis" darstelle. Zudem würde das dort von Baroh anvisierte mythopolitische Großprojekt "Terrestra" Arbeitsplätze "an Ort und Stelle" schaffen für diejenigen, die "als Fremdarbeiter (!) in den Westen fuhren" (S. 31 f.).
Diese Visionen sind durch eine subtile, Innerlichkeits-logische Liberalismuskritik ergänzt. Seferens räumt ein, dass an keiner Stelle die bundesrepublikanische "Ächtung des Nationalsozialismus" offen verletzt wird (S. 33). Indem Jünger jedoch seinen Protagonisten ein mythisches Projekt des Kultus um Tod und Beerdigung ("Terrestra") entwerfen lässt, bewegt er sich im Bereich des Mythisch-Kultischen, der "vom öffentlichen Bewusstsein als zentraler Bestandteil faschistischer Ideologie wahrgenommen" wird. Darüber hinaus werde der Dialog Barohs mit seinem jüdischen Freund Jersson, der seine Nietzscheanische Weltanschauung teilt, zum Vehikel "eines relativierenden Diskurses über den Nationalsozialismus" (S. 34), demzufolge alle Davongekommenen dieses Jahrhunderts, gehören sie den Reihen der ">Verschleppten und Ermordeten<" oder denen der ">Gefallenen<" an, ">eine Odyssee hinter sich<" hätten. Die sozial-biografische Differenz zwischen beiden Figuren schlage sich allenfalls darin nieder, dass der jüdische Freund Jersson gleichsam als "Profiteur des >Weltbürgerkrieges<" eine Villa am Wannsee bewohne, während Baroh sich "nach 1945 auf dem absoluten Nullpunkt" befände, dafür jedoch die "typisch jüdische Überlebensstrategie der >Selbstironie<" angenommen habe.
Seferens folgert engagiert, dass durch derlei inversive Gesprächs- und Handlungskonstellationen die "Rehabilitierung einer nicht-nationalsozialistischen Rechten" unter dem Anschein des Philosemitismus sowie eine Entnazifizierung des Antisemitismus bezweckt werde:
Nicht anders als in höchstem Maße zynisch muss man es nennen, wenn Jünger gerade einem Juden seine eigene, den Nationalsozialismus und seine Verbrechen relativierende Geschichtsdeutung unterstellt und ihn die Millionen von Ermordeten durch >ein Augenzwinkern […]< aus dem erinnernden Bewusstsein tilgen lässt. (S. 34)
Jüngers "Doppelrolle":
Dichterfürst und politischer Theoretiker
In dieser inhaltsanalytischen und nüchtern ideologiekritischen Weise geht Seferens auch in weiteren Texten dem Verfahren der literarischen Camouflage nach, mittels derer in der Deckung von verknappter, verschlüsselter und anspielungshafter Sprache ideologische Implantate aus dem Repertoire der konservativen Revolution gesetzt werden; ferner der Frage, wie sich diese suggestive Lesersteuerung in den aktuellen Jünger-Debatten verfangen hat, sodass diese im Moment weitgehend einhellig die Selbststilisierung Jüngers als "weltentrückter Dichter" verinnerlicht habe.
Was Seferens demgegenüber aufdeckt, ist eine "Doppelrolle" Jüngers, in der er hinter dem sorgsam gepflegten Image des lange verkannten Dichterfürsten "seine Funktion als politischer Theoretiker der Rechten" wahrnimmt, indem er sich in einer "kommunikativen Doppelstruktur […] simultan mit unterschiedlichen Botschaften an ein internes und ein externes Publikum" (S. 381) wende. Seferens versteht Jünger als "primär politischen Denker", der "allerdings das Politische in größere Zusammenhänge stellt und die Literatur – den Schlüssel zu den Wünschen und Fantasien – als sein wirkungsmächtigstes Aktionsfeld entdeckt hat" (S. 383). Auf diesem Aktionsfeld führe Jünger einen "konspirativen Dialog mit der intellektuellen Rechten" nach 1945, "der, nachdem er zwischenzeitlich zum Erliegen gekommen war, seit Anfang der 80er Jahre in neuem Flor" (S. 380) stehe.
Das Ziel dieser ästhetischen und zugleich psychologischen Strategie sei schon für die Zeit der konservativen Revolution gültig gewesen, nämlich, "die technische Moderne auf Kosten der emanzipatorischen von rechts zu okkupieren", und die Mittel der Umsetzung seien "kulturhegemoniale", weil auf direktem Wege nichts zu erreichen sei. Deshalb gelte die strategisch verstandene "Entwicklung" Barohs vom "Praktiker zum Metaphysiker" als "die metaphorische Umschreibung eines Lernprozesses, den Jünger der intellektuellen Rechten nahelegt" (40).
Jünger als "Vertreter einer rechten Avantgarde"
Im Kontext der aktuellen gesellschaftspolitischen Situation seit den 80er Jahre begreift Seferens die Jünger-Renaissance als Ausdruck dessen, was Jürgen Habermas die "Neue Unübersichtlichkeit" genannt hat; denn Jüngers kulturhegemoniale Strategie korrespondiere mit der "neokonservativen Perspektive", die "die ökonomischen Krisenerscheinungen der siebziger Jahre in eine allgemeine Kulturkrise uminterpretiert, als deren Ursache das emanzipatorische Projekt der Aufklärung angeprangert wird" (S. 41).
Dem "Wertepluralismus der zivilen Gesellschaft" werden dann "unter dem funktionalistischen Primat einer Stärkung der volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit" die Rückkehr zu "traditionellen und religiösen Bindungen" entgegengehalten. Gerade weil Jünger somit "als bedeutendster Vertreter einer rechten Avantgarde" fungiert, kann es laut Seferens nicht darum gehen, ihn wegen "politischer Gründe [vom] literarischen Kanon auszugrenzen".
Seferens appelliert an eine erweitere und vertiefte Aufklärung, die die impliziten Machtstrategien dieser Art von Literatur zu erfassen und somit "reflexhafte Verhaltensmuster" sowie "Projektionen, denen Jünger Tür und Tor öffnet", zu überwinden vermag. Neben der "sachlich und literaturwissenschaftlichen Bewertung" könnte so der "politischen Wirkungsgrad" der Schriften "gemindert" (S. 383) werden.
Im Rahmen einer ideologiekritischen Argumentation wird Seferens in Analyse und Konsequenz durchweg zuzustimmen sein. Und der aktuelle Bezug dieser Arbeit ist umso stärker, als der Blick für die politischen Implikationen der zu Lebzeiten bereits zum auch staatlichen Überlebens-Mythos gewordenen Persona Jüngers weitgehend abhanden gekommen zu sein scheint. Freilich: Indem Seferens Jüngers Texte in erster Linie als Vehikel von kulturkampf-strategischen Manövern begreift und eine nachhaltige Warnung ausspricht, partizipiert auch er noch an der bipolaren Wertungskonfiguration, die er sich vorgenommen hat zu überwinden.
Destruktive gesellschaftliche
Handlungsimplikationen
Zwar belegt Seferens seine Warnung auf wesentlich substanziellere und überzeugendere Weise durch Textanalyse und Quellenrecherche, als dies in den >antifaschistischen< Diskursen der letzten Jahrzehnte üblich war. Dies ist die große Leistung des Buches. Denn Seferens vermag dadurch auch jenen Stimmen fundiert zu widersprechen, die – etwas wertungsvage – die mildernden Umstände einer irgendwie postmodernen Situation zuerkennen wollen. Und so ist es nur konsequent, dass Seferens der ideologiekritischen Bestandsaufnahme zunächst eine gesellschaftspolitische Verurteilung folgen lässt. Jüngers Texte seien durch "politisch-ideologische Implikationen kontaminiert" (S. 380), ihre "ästhetische Signatur" werde "in doppelter Weise zweckentfremdet" (S. 381), sie schüre "Ängste, um sie politisch auszubeuten", das "Spezifikum poetischer Rede" werde für "außerliterarische Absichten instrumentalisiert" (S. 383) usw.
Prinzipiell ist dagegen ist nichts einzuwenden. Aus einer sich gesellschaftspolitisch verantwortenden Lektürehaltung müssen reaktionäre und / oder linksextreme Konzepte der >Revolution< / >Anarchie< moniert werden dürfen, insofern einiger Anlass besteht davon auszugehen, dass sie im literarischen Prozess destruktive gesellschaftliche Handlungsimplikationen haben. Und wer dies aus solider Argumentation und gründlicher Recherche heraus tut, hat viel geleistet. Dass Seferens dabei nicht auch noch einigen der einschlägigen metatheoretischen Desiderate Rechnung tragen konnte, ist der gründlichen und engagierten Arbeit wahrlich nicht anzulasten, sondern lediglich ausblicksweise zu konstatieren.
Ideologiekritik in methodischer Hinsicht
Zunächst: Ideologiekritik ist in methodischer Hinsicht immer prekär. Wie bereits der Name andeutet, ist sie in erster Linie ideologisch, mithin kognitivistisch und inhaltlich orientiert / verankert (und historisch sowie kategorial häufig auch selbst an programmatische Weltanschauungsentwürfe rückgebunden). Eine Ideologiekritik vermag nur insoweit leistungsfähige Beurteilungskriterien bereitzustellen, wie sie sich im Sinne einer kritischen Theorie anderweitig sozialwissenschaftlich absichert. Jedoch verblieben die in der gleichen Debatte gemeinhin in Anschlag gebrachten Begriffe der Entfremdung, Verdinglichung, inneren Widersprüchlichkeit etc. zumeist empirisch ungedeckt. (Bei Seferens wären dies die Begriffe der Instrumentalisierung, Zweckentfremdung, Kontaminierung etc., die im impliziten Verweis auf eine rein "ästhetische Signatur" einen Ausdruck der Emphase, aber keine hinlängliche kategoriale Absicherung finden.)
Aus diesem Grund haben sich ideologiekritische Argumentationen insgesamt als wenig tragfähig und vor allem als historisch wenig belastungsfähig erwiesen (und drohen zugunsten einer postmodern zu nennenden Beobachtungshaltung abgelöst zu werden).
Emphatischer Kunstbegriff
Ferner zum Kunstbegriff: Während Seferens Missbrauchs-Feststellungen ad hoc gut nachvollziehbar sind, appellieren sie implizit an einen emphatischen (und adornitischen) Begriff des Poetischen und Ästhetischen als interesselosem und damit – wünschenswerterweise – macht- und gewaltfreiem Handlungsbereich. Dieser Begriff wird letztlich immer disponiert sein, normative oder mindestens systematisierend-wertende Konsequenzen in Kauf zu nehmen, indem er >triviale', >politisch gefährliche< und / oder anderweitig eingeschränkte Formen der literarischen Interaktion identifiziert. Dies ist auch keineswegs unstatthaft, sondern im Grunde die eigentliche Essenz des kulturwissenschaftlichen Auftrags, denn, Seferens selbst weiß dies am besten, der literarische Handlungsbereich ist kein gewaltfreier, und die "ästhetische Signatur" ist nicht rein; umso trefflicher ist Seferens Aufruf zu einer weiteren und vertieften Aufklärung. Es stellt sich jedoch die Frage nach der Fundierung der Wertungskriterien sowie deren methodischer Operationalisierung für die textanalytische Untersuchung.
Und damit wäre das zentrale Desiderat benannt (das sich freilich an eine handlungstheoretische Literaturforschung insgesamt richtet): Inwiefern nämlich nicht nur von rechten Ideologemen im poetischen Gewande, sondern tatsächlich auch von destruktiven gesellschaftlichen Handlungsimplikationen des literarischen Prozesses gesprochen werden kann, ist eine methodologisch schwer zu bearbeitende Frage.
Kontrollfrage nach der Autor / Text-Leser-Interaktion
Eine erste Kontrollfrage mag dies veranschaulichen: Wie stichhaltig ist eigentlich
Seferens Schlussfolgerung am Ende seines Kulturkampf-Kapitels über die
"chamäleonischen Künste", dass nämlich der Text (Eumeswil)
"seine unbefangenen Leser" hintergehe, "die >schöne Literatur< erwarten, aber statt dessen, ohne es zu bemerken" durch eine "multifunktionale" Literatur "in den Dienst eines politischen Projekts" (S. 362) gestellt würden? Sind empirische Leser tatsächlich so naiv und in der Masse so wenig divers? Und sind ästhetische Prozesse tatsächlich so simpel? Haben in der wechselseitigen Autor / Text-Leser-Interaktion, die diesen Texten implizit ist, nicht vielleicht auch Prozesse statt, in denen die politischen Ideologeme und >rechten Tendenzen< durchgearbeitet und moderiert werden? (Dies war im Grunde schon Bohrers – wie auch immer fragwürdige – Ahnung von Jünger als dem verspäteten Baudelaire der deutschen Literatur.) Lassen sich solche durcharbeitende, >progressive< Prozesse ungeprüft ausschließen? Und wie wäre dies methodologisch gesichert zu prüfen?
Nicht dass Seferens Schlussfolgerungen unplausibel wären – im Gegenteil! Aber die Kulturwissenschaften sollten es sich einigen Aufwand kosten lassen, Mittel zu schaffen, dergleichen Befunde weiter abzusichern, freilich auch zu differenzieren, um sie letztendlich theoretisch-methodologisch hieb- und stichfest zu machen. Dies zumal, da die dreiste – und u.U. politisch interessierte – Revision der kritischen Befunde oder auch nur ein vornehmer Wissenschaftsdandyismus der verspielten Wertungsenthaltsamkeit offensichtlich stets motiviert sind, den notwendigen langen Atem für die >vertiefte Aufklärung< zu verkürzen.
Notwendigkeit einer rekonstruktiven
Beobachtungshaltung
Die Frage nach den präzisen Inhalten und (impliziten) Verlaufsformen der psycho- und beziehungsdynamischen Rezeptionsprozesse von Lesern (von spezifischen Texten) bedarf im Grunde einer pluridisziplinären Literatur- und Medienforschung, die Textanalyse und Leserforschung verbindet. Sie wird ohne die Erkenntnisse und Methoden der psychologischen / psychoanalytischen wie auch der qualitativ-soziologischen Wissensfelder nicht zu leisten sein. Für die Textanalyse (die dann lediglich einen der methodischen Bausteine eines solchen Ansatzes darstellte) wäre jedenfalls eine entschieden analytisch-unparteiische, evtl. sogar empathisch zu nennende und jedenfalls eine rekonstruktive Beobachtungshaltung gegenüber der Text-Leser-Interaktion die Voraussetzung, wie sie in der qualitativen Lese- und Mediensozialisations-Forschung 1 praktiziert wird – wie auch in den Psychotherapiewissenschaften (man denke an Freuds "gleichschwebende Aufmerksamkeit"). Und gegenüber Jünger ein empathisches oder auch nur nüchtern rekonstruktives Interesse aufrecht zu erhalten, wird nicht allen Forschern der bisherigen Debatte gleich leicht gefallen sein.
(Gegen)Übertragungsprozesse
Vor allem jedoch gilt es die komplexen psycho-affektiven (Gegen-)Übertragungsprozesse mit einzubeziehen, von denen die jüngere Psychoanalyse weiß und die zu Konzeptionen einer gegenübertragungs-analytischen Literaturwissenschaft geführt haben. 2 Insofern psycho-affektive (Gegen-)Übertragungsprozesse in textuell vermittelter Weise auch zwischen Autoren / Texten und ihren LeserInnen ablaufen, stellt sich der handlungstheoretischen Literaturforschung die Aufgabe, sie theoretisch zu modellieren und auf methodologisch kontrollierte Weise zu beschreiben. 3
Ausgehend von Seferens wäre also genauer zu beschreiben, in welcher Art und Weise Jüngers Literatur "den Schlüssel zu den Wünschen und Fantasien" (S. 383) in Händen hält, wie also diese "Wünsche" und auch "die Ängste" (S. 382) im einzelnen beschaffen sind; insbesondere: in welchen Formen und psychischen bzw. interaktiven Dynamiken sie auf dem "wirkungsmächtigen Aktionsfeld der Literatur" zum Tragen kommen – also psycho-affektive Gegenübertragungen in den LeserInnen erzeugen. Es müsste im Detail aufgewiesen werden, wie die "poetische Strategie" des Textes "sehr geschickt mit dem Unterbewusstsein des Lesers rechnet" (S. 161) und aufgrund welcher Prozesse die "reflexhaften Verhaltensmuster" und "Projektionen" (S. 383) zur Wirkung kommen, wie also die Übertragungsprozesse antizipiert werden (was Seferens im Kontext der rechten / rechtsintellektuellen Handlungsstrategien der Angsterregung / Panikmache anmerkt); dabei immer auch: inwiefern und an welchen Punkten diese "Projektionen" sich auf ihre eigene Auflösung hinbewegen und also selbstreflexive Potenziale und prozessuale Anknüpfungspunkte enthalten.
Die handlungstheoretische Aufgabenstellung, die psycho-affektiven (Gegen-)Übertragungsprozesse zwischen Autoren / Texten und LeserInnen möglichst genau zu beschreiben, wird immer dort umso dringlicher sein, wo sich, wie bei Jünger (aber z.B. auch bei Heidegger oder in jüngerer Zeit bei Botho Strauß und Martin Walser) Fragen zum Zusammenhang von Kunst, Politik und Gewalt stellen (vgl. ferner
http://staff-www.uni-marburg.de/~hagested/frameset_juenger.html).
Auf dieser Befragungsebene wird das ">verdächtigende Lesen< (Dietrich
Dietrichsen)" als "textanalytische Methodik" (S. 357) nicht mehr hinreichen können, zumal eine solche Verdächtigung immer spezifische Verengungen der Untersuchungshaltung beinhalten.
Jüngers Aussage, dass sich "in der objektiven Durchleuchtung des Feindes ein gut Teil Selbstkritik [verbirgt]" (S. 37), mag dahingehend eine unvermerkt hilfreiche Intuition darstellen – und zumindest ein Rudiment eines persönlichen Reflexionsbedürfnisses anzeigen, das nicht wahrzunehmen, eine unnötige heuristische Beschränkung zur Folge hätte.
Dr. Harald Weilnböck
Kurfürstendamm 123
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Anmerkungen
1 Vgl. Michael Charlton. Methoden der Erforschung von Medienaneignungsprozessen. In: Werner Holly / Ulrich Püschel (Hg.): Medienrezeption als Aneignung. Methoden und Perspektiven qualitativer Sozialforschung. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S.11–26. Vgl. ferner: Harald Weilnböck: Qualitative Medienrezeptions-Forschung und beziehungsanalytische Literaturwissenschaft - eine interdisziplinäre Möglichkeit? Interdisziplinäre Überlegungen zu Michael Charlton / Silvia Schneider (Hg.): Rezeptionsforschung. Theorien und Untersuchungen zum Umgang mit Massenmedien. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997. In: Referatedienst / Paratexte printmedial 1 (2000), S.229–238;
Christine Garbe / Silja Schoett / Gerlind Schulte Berge / Harald Weilnböck:
Geschlechterdifferenz und Lektürepraxis in der Adoleszenz. Funktionen und
Bedeutungen von Lektüre im Medienverbund von Jugendlichen. In: Norbert Groeben
(Hg.): SPIEL-Sonderheft zum DFG-Schwerpunkt Lesesozialisation in der Mediengesellschaft (1999).
S.86–104; Christine Garbe / Silja Schoett / Harald Weilnböck: Narrative
Interviews und rekonstruktive Fallanalyse in der medienbiografischen Forschung.
In: Norbert Groeben (Hg.): Lesesozialissation in der Mediengesellschaft. IASL-Sonderheft
10 (1999), S.218–232. zurück
2 Zur Theorie der textuellen Übertragung und zur Gegenübertragungsanalyse des individuellen und spezifisch qualifizierten psychoanalytischen Lesers vgl. Carl Pietzcker: Lesend interpretieren.
Zur psychoanalytischen Deutung literarischer Texte. Würzburg: Königshausen & Neumann 1992.
Pietzcker verzeichnet die einschlägige Literatur. Ferner: Hartmut Raguse: Der Raum des Textes. Elemente
einer transdisziplinären theologischen Hermeneutik. Stuttgart: Kohlhammer 1994.
Für eine kontroverse Diskussion der literaturwissenschaftlichen Gegenübertragungsanalyse
vgl. Michael Gärtner: Zur Psychoanalyse der literarischen Kommunikation.
>Dichtung und Wahrheit< von Goethe. Würzburg: Königshausen & Neumann 1998.
Ferner: Reimut Reiche: Mutterseelenallein. Kunst, Form und Psychoanalyse. Berlin:
Stroemfeldt 2000. zurück
3 Für die Anwendung der psychoanalytischen Begriffe der
konkordanten und komplementären Übertragung auf die Autor / Text-Leser-Beziehung mittels des konkreten Forschungssettings des Gruppenanalytischen Literaturseminars vgl. Harald Weilnböck: Die Anwendung der Gruppenanalyse in der Kulturvermittlung. Trauer / -Abwehrarbeit in einer Sitzung des >Gruppenanalytischen Literaturseminars< über Judith Hermanns >Hunter-Tompson-Musik<. In: Gruppenanalytische Arbeitshefte 28. Themenheft: Kultur und Gruppenanalyse. (2002a). Im Druck. Ferner: Harald Weilnböck: "Dann bricht sie in Tränen aus." Übertragungen von Trauer / -Abwehr im Text und im >Gruppenanalytischen Literaturseminar< über Judith Hermanns >Hunter-Tompson-Musik<. In: Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse. Themenband: Trauer. (2002b). Im Druck. Ferner: Harald Weilnböck: Das >Gruppenanalytische Literaturseminar< Zur Anwendung der Gruppenanalyse in der Kulturvermittlung. Mit neuen Aspekten einer Interpretation von Heiner Müllers Prosatext >Vater<. In: Gruppenanalyse 17 (2002c). Im Druck. Mittels qualitativ-sozialwissenschaftlicher Settings vgl. Garbe / Schoett / Weilnböck (Anm. 1). zurück |