Wenzel: Cultural Studies

Eike Wenzel

Wohnzimmer-Kriege.
Cultural-Studies, Anti-Methode,
Mode und Kanon


  • Ien Ang: LivingRoomWars. Rethinking Media Audiences for a Postmodern World. London u.a.: Routledge 1996. VIII, 208 S. ISBN 0-415-12800-5
  • Roger Bromley, Udo Göttlich, Carsten Winter (Hgg.): Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung. Lüneburg: zu Klampen 1999. 388 S. DM 48,- ISBN 3-924245-65-7
  • Jan Engelmann (Hg.): Die kleinen Unterschiede. Der Cultural-Studies-Reader. Frankfurt / New York: Campus 1999. Kt. 318 S. DM 39,80 ISBN 3-593-36245-7
  • John Hartley: Uses of Television. London u.a.: Routledge 1999. X,246 S. 22.99 $ ISBN 0-415-08509-8
  • Andreas Hepp: Cultural Studies und Medienanalyse. Eine Einführung (wv stud. 184) Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999. Pb. 306 S. DM 39,80 ISBN 3-531-22184-1
  • Karl H. Hörning, Rainer Winter (Hgg.): Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung (stw 1423) Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. Kt. 574 S. DM 32,80 ISBN 3-518-29023-1
  • John Storey: Cultural Studies & The Study of Popular Culture. (Taschenbuchausg.) Athens, Georgia: Univ. of Georgia Pr 1998. 148 S. 15.95 $ ISBN 0-8203-1869-8



Cultural Studies vs. Kritische Theorie:
Populärkultur vs. Massenkultur

Cultural Studies (CS) haben auf dem Gelände der deutschen Kultur- und Geisteswissenschaften für Aufregung gesorgt. Gerade unter den jungen WissenschaftlerInnen schien dieser Ansatz Raum zum Atmen innerhalb der stagnierenden deutschen Theorieentwicklung zu geben. Und das nicht zuletzt aus dem Grunde, weil CS die Befassung mit populärer Kultur in Aussicht stellen, sich also mit ihren Forschungsinteressen nah an die Alltagsästhetik heranwagten, ohne allerdings den Anspruch komplexer gesellschaftstheoretischer Reflexion aufzugeben.

Dass die CS wie der gesamte Poststrukturalismus in den siebziger und achtziger Jahren einen großen Bogen um die deutschen Universitäten machten, ist nicht zuletzt deren Kleinstaaterei in hermeneutisch-philologischen, philosophischen und sozialwissenschaftlichen Zirkeln und Ordinarien-Fürstentümern zu verdanken. Dies wiederum führte zur Atomisierung und Enthistorisierung des Kulturbegriffs, mit dem Resultat, dass Kultur hierzulande als etwas elitäres, alltags- und gesellschaftsfernes galt, von Intellektuellen produziert und von den oberen Schichten in ihrer Freizeit goutiert.

Ganz sicher aber ist die Dominanz der Kritischen Theorie an den bundesdeutschen Universitäten in den siebziger und achtziger Jahren für den Erfolg der CS bei den akademischen Nachwuchskräften in den neunziger Jahren verantwortlich zu machen. CS waren Anlass und Hintergrund für eine Art nachgeholter Revolte gegen die 68er und gegen einen flächendeckenden "Adornismus" (der manchmal nur erschreckend wenig mit Adornos Philosophie zu tun hatte). Der Kulturpessimismus und die Berührungsängste der Negativen Dialektiker aus Frankfurt gegenüber der Populärkultur und deren Konsumenten machte den Blick nach Großbritannien zur großen erkenntnistheoretischen Versuchung, denn dort fragte man sich, was die Mods von den Teds unterscheidet und was Punk mit avancierter Zeichentheorie zu tun hat.

Fühlten sich Adornos Adepten in der Kunst- und Kulturwissenschaft mit ihrer tendenziellen Verachtung von Populärkultur als austauschbarer "Massenkultur" und leicht zu durchschauendem Massenbetrug an einer vorgeblich bewusstlosen Bevölkerungsmasse auch noch bis in die achtziger Jahre bestätigt, fragten die britischen CS bereits in den fünfziger Jahren nach den konkreten Lebensweisen der unterprivilegierten Klassen. Raymond Williams, einer der Gründerväter der CS, entwickelt in dieser Zeit ein Konzept von Kultur als "Lebensweise", die sich in der Alltagspraxis täglich reproduziert und sehr wohl in ökonomische, gesellschaftliche und politische Machtstrukturen eingebettet ist, sich aber nicht im orthodox-marxistischen Sinne als Überbauphänomen isolieren lässt.

Seit Mitte der neunziger Jahre nun gibt es hierzulande einen Bücher-Boom, der auf der CS-Welle schwimmt. Unzählige Einführungen in das Gebiet der CS werden auf den Markt geworfen. An einigen Neuerscheinungen – zum einen Einführungen in die CS, zum anderen Studien zu CS und Fernsehanalyse, die den neuesten Stand der Forschung repräsentieren – soll hier geprüft werden, was die CS eigentlich so sexy macht.

CS liefern zunächst eine stattliche Apparatur an Begriffen, wissenstheoretischen Modellen und kultursoziologischen wie -philosophischen Konzepten, die sich zu keiner einheitlichen Theorie zusammenschließen lassen. Ob empirische Einschaltquoten akkumulierend, Zuschauerinterviews per Fragebogen auswertend oder dekonstruktivistisch der Dissidenz von Popmusik nachspürend – CS geben sich offen gegenüber jedweden Ansätzen, denen es um das Verstehen kultureller Prozesse geht. Die Verabsolutierung eines Ansatzes wird grundsätzlich unter den Verdacht gestellt, blind für den Gegenstand zu sein. Output von außen ist von den CS immer erwünscht, da sie sich als ein konstitutionell offenes Projekt der Kulturbeobachtung betrachtet. Irgendwann glaubte auch hierzulande niemand mehr den ergrauten Adorno-Anhängern, dass Fun ein Stahlbad sei. Man selbst wusste es besser und fand in den Konzepten der CS erste Antworten auf die Frage, wie sich Populärkultur in Abhebung von Massenkultur definieren lässt und was das Vergnügen bei der Rezeption von Alltagskultur ausmachen könnte. Dass sich diese lustvolle Rezeption des Niveaulosen, Kitschigen und Durchschaubaren trotzdem im Rahmen kommerzieller bzw. institutioneller Machtstrategien vollzieht, fordert die ideologiekritische Konzeption der CS bei allem coolen Eklektizismus zu äußerster methodologischer Präzision heraus.

Seine Brisanz zieht der CS-Ansatz aus der Erkenntnis, dass Kultur nicht ohne ein Konzept von Subjektivität zu verstehen ist. Und Subjektivität, davon gehen die CS aus, äußert sich als kommunikatives Verhalten in sprachlich-symbolischem Handeln. Adornos ästhetische Theorie erfasste dahingegen Kunst, die ihren Namen verdient, als das, was sich der Kommunikation ("dem Gerede") entzog. In der "Dialektik der Aufklärung" sprechen er und Horkheimer von dem alltäglichen Subjekt als einer bewusstseinslosen, ich-schwachen Leerstelle, das schlicht dem totalitären System der Kulturindustrie subsumiert wird. Eben dieses Rede- und Denkverbot über triviale Kultur und die individuellen Bedürfnisse, die damit ganz offenbar angesprochen werden, brechen CS auf.

Und mehr noch: wenn einer der wenigen feststehenden Gedanke in der anti-methodischen Methodologie der CS besagt, dass Kultur nur dort entsteht, wo zwischen Subjekten und Institutionen in einem gesellschaftlichen Kontext kommuniziert wird, dann heißt das auch: was immer in unserem Alltag kommuniziert wird, ist Kultur und ergo der kultursoziologischen Untersuchung würdig. Und das umfasst dann schließlich auch solche Sprachereignisse wie Verona Feldbusch, die Teletubbies und Zlatko – nicht aufgrund ihrer bahnbrechenden Eloquenz, aber weil sie Kommunikations- resp. Medienereignisse schaffen und für uns zu Alltagsbegleitern geworden sind


Einführungen
in eine antimethodische Methode

Andreas Hepp hat sich in "Cultural Studies und Medienanalyse" das ehrgeizige Ziel gesetzt, die weit verstreuten methodischen Grundlagen und historischen Wurzeln der CS für den deutschen Leser herauszuschälen. Hepp hebt dabei auch die Bedeutung (post-)moderner Sprachkonzepte für die CS hervor. Nun hat auch der Sprachbegriff der CS eine Vielzahl historischer Wurzeln. Hepp nennt hier vor allem den strukturalistischen Zweig, dem Saussure die Grundlage verschaffte, und Barthes und Derrida in die Dekonstruktion weiterdachten. Als zweiten Ansatz referiert er die translinguistische Schule um M.M. Bachtin, P. Medvedev und V.N. Volosinov, für die jedes Zeichen eine soziale Äußerung ist, angefüllt und dimensioniert, verschmutzt und mit Erfahrung gesättigt durch seinen alltäglichen Gebrauch.

Ausgerüstet mit einem solchermaßen materiell und alltagspragmatisch gerüsteten Sprachbegriff, lässt sich kulturelles Handeln für die CS als komplexer Prozess des Austauschs, der Konfrontation und der Verhandlung von Sinn konzipieren. Wenn der Leser einen Roman zur Hand nimmt und der Zuschauer sich vor den Fernseher hockt – das leiten die CS aus diesen Sprachmodellen ab – dann ist das kein monologischer Prozess, bei dem einseitig Information vom Sender zum Empfänger verschoben wird. Der Leser oder der Fernsehzuschauer sind keine Tabula Rasa, sondern symbolisch handelnde Wesen, die in der Lektüre Bedeutungen und Weltbilder prüfen, abwägen und mit der eigenen Sichtweise konfrontieren. Kultur im Sinne der CS ist immer Verhandlung von Sinn, zwischen Subjekten und Institutionen.

Hiermit ist die Grundkonstellation benannt, die die Provokation der CS auf den Punkt bringt und auch ihren antiinstitutionellen Gestus erklärt. Hepp hebt diesen Punkt an vielen Stellen seiner Abhandlung ausdrücklich hervor: CS haben sich von Beginn an als interventionistische Forschung verstanden, die ihr "ursprüngliches Objekt", die Kultur der unterprivilegierten britischen Arbeiterklasse, nicht voyeuristisch observiert, sondern in seiner komplexen Dynamik "vor Ort" solidarisch nachvollziehen und verstehen will.

In "Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung" (Bromley, Göttlich, C. Winter) lässt sich sehr schön nachvollziehen, wie diese Beobachtungshaltung bei den Urvätern Richard Hoggart und Raymond Williams (beide selbst Arbeiterkinder) mitunter in eine sentimentale Verklärung der sterbenden Arbeiterklasse abrutschte und später bei Hebdidge, Hall, Fiske, Morley usw. durch semiotische, (post-)strukturalistische und empirische Methoden "objektiviert" und u.a. auf die Schauplätze der Subkulturen, der Popmusik und des Fernsehkonsums verlagert wurde.

CS geben sich also erst gar nicht den Anschein wissenschaftlicher Neutralität. Es geht ihnen niemals um Erkenntnisse "an sich", sondern um das Verstehen von kulturellen Milieus und Aneignungsprozessen – und das setzt bei dem beobachtenden Forscher nicht nur ein geschärftes Methodenbewusstsein voraus, sondern vor allem auch eine kontrollierte Subjektivität, ein gewissermaßen solidarisches Interesse an dem Feld der Kultur, das man beackert, und an den Menschen (Produzenten wie auch Rezipienten), die dieses kulturelle Feld konstituieren und konsumieren.

Hepps als Einführung deklarierter Text ist alles andere als eine Einladung zum Erstkontakt mit CS. Hepp möchte sich mit der Studie dem Theoriedesign versichern, für die eigene Forschung zur Verfügung halten und in der scientific community platzieren. Statt nachvollziehbar in Methoden und Gegenstandsbereiche einzuführen, wurde daraus eine Tour d'Horizon für den Kollegenkreis. Von einer solchen Textsorte verlangte man dann aber auch eine etwas mutigere Bestandsaufnahme über die Wirkungen und Chancen der CS in der deutschen Kultur- und Medienanalyse. Bei Hepp beschränkt sich das leider auf schmallippige Bekenntnisse zu Raymond Williams' Medienkommunikationsmodell an zwei, drei Stellen der Abhandlung und im Schlusswort.

Gegen die Prämisse, dass sich kulturelle Prozesse auf bestimmte (hochkulturelle) "Objekte" und definitive Aneignungsformen fixieren lassen (davon sind empirische Massenkommunikationsforscher und traditionelle Texthermeneutiker immer noch überzeugt), entwickelt das Projekt der CS ein Gegengift. Oft bekennen sich die Autoren als Anhänger der zu untersuchenden Subkultur oder agieren selbst als Künstler in dieser Subkultur. Parteinahme oder gar fandom für den kulturellen Bereich, den man erforscht, das wurde innerhalb der CS mithin zur Voraussetzung für eine erkenntnisbringende und kreative Erforschung des jeweiligen Gegenstandsbereichs. Populärkultur – so ihr Credo, das sich von den Anfängen bis in die Gegenwart bewahrte – trifft bei den Rezipienten sehr wohl auf Erfahrungs-Subjekte, die auch die noch so unverblümt daherkommende Ideologie einer Fernseh-Soap-Opera in der konkreten Rezeptionssituation zu Hause vor dem Bildschirm ironisch, missverstehend oder wie auch immer unterlaufen und auf diese Weise zur eigenen Problembewältigung im Alltag einsetzen.

Wie sich der "optimistische" Sprach- und Subjektbegriff der CS mit der sozialpsychologischen Subjekt-Theorie der frühen Frankfurter Schule und deren Machttheorie dann doch zusammendenken lässt, demonstriert der Soziologe Hans-Herbert Kögler (Hörnig / Winter 1999). In der Flut der Publikationen zu den CS liefert Köglers Essay einen der wenigen Ansätze, der über das monotone Referieren dessen, was CS denn wohl sei, hinaus kommt und die längst fällige Frage bearbeitet, wie CS und Kritische Theorie im Sinne einer "Kritischen Hermeneutik des Subjekts" zu konzeptualisieren wäre. Das mitunter grenzenlose Vertrauen der CS in die Kritikfähigkeit der Popkulturkonsumenten setzt Köhler mit dem sozialpsychologischen Skeptizismus der Kritischen Theoretiker in Spannung. Die kluge Hypothese der CS, wonach subversive Lesarten trotz bzw. aufgrund des Machtanspruchs der Kulturindustrien entstehen, erhält dadurch eine solides hermeneutisches Fundament.

Die CS-Einführungen stehen vor dem Dilemma, dass eine Theorie, die nicht abstrakter Wissenschafts-Diskurs sein möchte und in ihrer antitotalitären, antiessentialistischen (Un-) Systematik auch nicht sein kann, leicht zum Kanonwissen stilisiert wird und damit ihrer offenen Statik beraubt wird. Hepps "Einführung" gibt sich keine Blöße, was die akribische Aufarbeitung von Geschichte und Methodenentwicklung der CS angeht. Aber mit seinem panoramatischen Blick auf die Theorielandschaften produziert er die von den CS so beargwöhnten Wissenshierarchien; ein kulturwissenschaftlicher Anfänger bleibt bei Hepp vor der Tür.

Jan Engelmanns "Die kleinen Unterschiede" kommt da schon weit zugänglicher daher, da er nicht vorgibt, CS diskursiv zu erklären, sondern Einstiegsmöglichkeiten anhand herausragender Akteure der CS und ihren speziellen Gegenstandsbereichen wie Popmusik, Fernsehen, Mode etc anbietet. Engelmann hat dazu eine Vielzahl von Interviews mit einigen CS-Protagonisten geführt und greift auf bereits publizierte Gespräche anderer Autoren zurück. Unter anderem auf Eggo Müllers Interview mit John Fiske, das Fiskes umstrittene Position eines unpolitischen Revisionisten innerhalb der CS überdenken hilft. Bei Engelmann zeigt sich auch, dass die Form des Interviews behilflich sein kann, die in gedruckten Sätzen oft hermetische Theorie zugänglicher und durchschaubarer erscheinen zu lassen. Im Anschluss an die Gespräche kann der Leser in die übersetzten Texte von Hall, Gilroy, Frith, Fiske und McRobbie mit einem gewissen Vorverständnis einsteigen.

Dass CS in der Bundesrepublik auf eine Art Subgeschichte außerhalb der universitären Institute zurückblicken können, wird in Engelmanns Einführung ebenso wie in den Texten von Ruth Mayer und Tom Holert deutlich. Beide waren in den neunziger Jahren im Umkreis der Musikzeitschrift "Spex" tätig und betreiben seit Jahren CS als interessierte Beobachter und Theoretiker populärkultureller Phänomene. Ihre Texte lesen sich bereits als erste Bilanzen von CS in Deutschland.

Ganz pragmatisch präsentiert sich John Storeys "Cultural Studies & The Study Of Popular Culture". Bei Storey liegt in der Kürze die Würze. Entschlossen sucht er sich die sechs Bereiche "Fernsehen", "Fiktion", "Film", "Zeitungen und Magazine" sowie "Popmusik und täglichen Konsum" heraus und erläutert auf nicht einmal hundertfünfzig Seiten die prominentesten Ansätze und Modelle, die die CS dafür anzubieten haben.

Ein erster Einblick in Methoden und Themen der CS ist hier leicht möglich, ohne gleich mit methodologischen Problemen konfrontiert zu werden. Sicherlich hat diese Einführung auch den Vorteil für sich, dass sie für den angloamerikanischen Bereich geschrieben ist, wo CS seit Jahren selbstverständliches Studienfach sind und bereits auf eine gewisse Tradition verweisen können. Aber an dieser Stelle sei die Frage schon erlaubt, warum der Student der Kultur- und Geisteswissenschaften immer noch auf angloamerikanische Veröffentlichungen zurückgreifen muss, wenn er sich in das Gebiet der CS einlesen möchte.

Der Freund von ins Deutsche übertragenen CS-Texten wird mittlerweile gut bedient. Denn in Bromley, Göttlich, C. Winters "Grundlagentexte zur Einführung" und in Hörning, R. Winters "Widerspenstige Kulturen" sind die Väter, die Klassiker und die neuesten Ansätze der CS geballt versammelt. Schlüsseltexte von Williams Hoggart, Fiske, Morley, Hall und Grossberg sind mittlerweile, wenn auch oft in arg verkürzter Version, vorhanden. Hörning und Winters Suhrkamp-Bändchen kann man darüber hinaus als Anstoß für eine weiterführende Diskussion des CS-Ansatzes in der deutschen Soziologie lesen.


Das Fernsehen:
ein wunder Punkt der CS

Für den deutschen Universitätsbetrieb wäre eine institutionelle Installierung der CS am ehesten im Bereich der Medienwissenschaften zu erwarten gewesen, die sich im Grunde wie die CS als synkretistischer Ansatz zwischen Literatur, Text, Theater und Sozialwissenschaft verortet und sich in den siebziger Jahren ebenfalls als Wissenschaft zu formieren begann, die sich in erster Linie den Phänomenen der Trivialkultur widmen wollte. Medienwissenschaften wie CS sind sich in ihrer strategischen Position einig: Macht man es sich zur Aufgabe, die alltäglichen kulturellen Praktiken der Menschen im 20. und 21. Jahrhundert zu erforschen, kommt man am Fernsehen nicht vorbei.

Die Erforschung dieses Bereichs hat in den CS die schärfsten Kontroversen ausgelöst und zu einer Spaltung des Ansatzes geführt. An der mehr als simplen Ausgangssituation (der Zuschauer sitzt in seiner Wohnung und schaut fern) wurde die Komplexitätsproblematik bei der Analyse populärkultureller Phänomene deutlich. Analysiert man also die Sendung, die der Zuschauer geschaut hat? Sollte man den Zuschauer nach seinen Erfahrungen mit der Sendung befragen? Ist es nicht auch wichtig, zu wissen, in welchem Programmumfeld die Sendung platziert ist? Und ist es vielleicht noch wichtiger, zu schauen, in welchem häuslichen Umfeld er die Sendung anschaut? Außerdem lässt sich nicht einheitlich von einem Zuschauer sprechen, Frauen haben möglicherweise völlig andersgelagerte Sehgewohnheiten usw.

Mit der Frage, wie Fernsehen als kulturelles Objekt, das kulturelle Praxen ausbildet, zu verstehen sei, haben die CS im Laufe der Zeit dann eigentlich alle kulturtheoretischen Ansätze ins Boot geholt, die der Theorie-Markt der letzten zwanzig Jahre hergab. Für die "niederen" Kulturphänomene war die avancierteste Theorie offenbar gerade gut genug. Hier nur eine unvollständige Liste, die der CS-Bricoleur wie einen Steinbruch plündert: Barthes' (Post-)Strukturalismus, Foucaults Macht-Begriff, Derridas und Paul de Mans Dekonstruktion, Julia Kristevas Intertextualität, Michail Bachtins Dialogizität, Judith Butlers gender-Theory, der post-colonial-Ansatz von Said bis Bhabha, der New Historicism eines Greenblatt, die kritische Ethnografie eines Clifford Geertz, Ethnomethodologie, queer-theory usw. usf.

Ausgangspunkt war die Einsicht, dass die Interpretation eines Fernseh-Textes allein keine zuverlässige Auskunft gibt über die Praxis der Fernsehrezeption und die Machtstrukturen, mit denen die Institution Ferrnsehen den Zuschauer vor dem heimischen Gerät in die unsichtbaren Fäden ihres Weltbildes einzuspinnen versucht. Stuart Halls Encoding / Decoding von 1973 lieferte den Einstieg in die Frage, wie (Fernseh-)Text und (Rezeptions-)Kontext in der Analyse auf sinnvolle Weise zu verschränken sei. Mit Hilfe des Konzeptes der Polysemie konnte Hall verdeutlichen, dass Fernsehrezeption kein unidirektionaler Prozess ist, bei dem eine ideologische Botschaft der Institution Fernsehen via Bildschirm im Bewusstsein des Zuschauers implantiert wird. Der Zuschauer entwickelt vielmehr unterschiedliche Lesarten, ganz seiner sozialen Lage entsprechend. Aber kein Fernseh-Text funktioniert derart autoritär, dass er sich als ideologische Botschaft im Kopf des Zuschauers unauslöschlich als falsches Bewusstsein verankert.

Mit John Fiskes "Television Culture" von 1987 bekam die active-audience-Diskussion eine skandalträchtige Wendung. Wenn die Texte des Fernsehens offensichtlich keinen festen Sinn produzieren und der Zuschauer in der Regel seinen eigenen Text bastelt, dann gibt es ebenso viele Lesarten wie es Zuschauer gibt. Auch wenn Fiske die Mächtigen immer noch auf Seiten der Institution Fernsehen verortet, geht er so weit, von einer Basisdemokratie der ironischen Soap- und Talkshow-Fans zu träumen, die den vom Fernsehen vorgedachten Flachsinn gegen den Strich bürsten. Der schlaffe Couchpotatoe wird dabei zum alltagssemiotischen Partisan umfrisiert. Schnell war man innerhalb der CS mit dem Vorwurf zur Stelle, Fiske sei ein Revisionist, er kehre die ideologiekritische Grundrichtung des active-audience-Konzeptes um und propagiere eine neoliberales Subjekt, für das Freiheit die Freiheit zum Konsum ist.

In neueren CS-Forschungen zur Fernsehaneignung bleibt der Fokus auch weiterhin auf den aktiven Zuschauer gerichtet. Aber mit ihm gerät noch einmal stärker der konkrete Aneignungskontext, d.h. das Wohnzimmer, der Einfamilienhaushalt in den Mittelpunkt. Was man damit als "ethnographic turn" und "radikaler Kontextualismus" benannt wird, beschreibt Aneignungsforschung tendenziell als erkenntnistheoretische Sackgasse, denn selbstverständlich lassen sich nicht alle Kontexte, die aufeinandertreffen, wenn der Zuschauer in seinem Wohnzimmer fern sieht, ausschöpfen. Die Fernsehanalysen der CS setzen sich damit also aus höherer Einsicht einer epistemologisch paradoxen Situation aus. Wo für den CS-Forscher grundsätzlich jeder Zugriff Sinn macht, wenn er nicht gerade mit offensichtlichen Vorurteilsstrukturen hantiert, scheint auch keine Methode zwingend notwendig. Damit gerät erneut das Forscher-Subjekt in den Vordergrund, von seiner methodologischen Aufrichtigkeit und seiner Sorgsamkeit im Methoden-Sampling hängt es mehr denn je ab, ob eine Analyse glückt oder nicht.

Ien Ang, die mit "Watching Dallas" eine Schlüssel-Studie in der active-audience-Forschung vorlegte, jongliert mit dem Paradox, indem sie sich zu einem "methodischen Situationismus" (Ang 1996, S.70) bekennt, der von der Forscherin verlangt, die Aufmerksamkeit für die konkrete Situation der Zuschauer am Fernsehgerät gegenüber verallgemeinernden Schlussfolgerungen stark zu machen. Der Forscher agiert hier als Interviewer, der weiß, dass auch Interviews nicht die Wahrheit über den Zuschauer bereithalten, als Interpret von Quotenerhebungen, der weiß, dass Quoten nichts darüber aussagen, wie vielgestaltig Fernsehen als kultureller Aneignungsprozess abläuft. Er agiert als Textanalytiker, der sich im klaren darüber ist, dass Analyse nur potenzielle Lesarten herauspräparieren kann, aber nicht die Botschaft der Sendung. Er weiß auch, dass die Institution des (öffentlich-rechtlichen) Fernsehens seine Zuschauer tendenziell auf die Weltsicht eines idealtypischen Normalbürgers festlegen möchte usw. usf.

Der CS-Forscher verwandelt sich mithin zu einem postmodernen Geschichtenerzähler, zu einem Methoden-Bastler in epistemologisch unsicheren Zeiten. Was er sich bewahrt, ist die Einsicht, dass erst dann von Kultur geredet werden kann, wenn sie von Menschen rezipiert wird. Ansonsten erproben gerade Untersuchungen zur Fernsehaneignung immer stärker experimentell-essayistische Schreibweisen; dabei wird der persönliche Zugriff noch stärker reflektiert und in der Darstellung thematisiert. Aus dem Methoden-Sampling entsteht so ein wissenschaftliches Geschichtenerzählen. Ein irritierendes Beispiel hierfür ist John Hartleys "Uses of Television". Mit manchmal enervierender Ironie blickt Hartley darin auf seine Karriere als politischer Aktivist innerhalb der CS zurück, der aus dem Fernsehen ein Instrument der politischen Avantgarde machen wollte. Dabei, so Hartley in seiner süffisanten Rückschau, reüssiert das Fernsehen doch täglich als "transmodernes Erziehungsmedium".

Viel Aufmerksamkeit widmet er in seinem Buch der Entstehungszeit des Fernsehens um den Zweiten Weltkrieg und dem kulturpessimistischen Diskurs zum Fernsehen, der im Grunde vor der Erfindung des Mediums ausformuliert war und unbewusst, so Hartleys Vorwurf an die eigene Adresse, die wissenschaftliche Fernseh-Phobie in den CS fortschrieb.

Immer mit einem Augenzwinkern unterwegs, möchte er uns davon überzeugen, dass Fernsehen sich niemals als Massenmedium hätte etablieren können, ohne den Kühlschrank (der Bevorratung im Haus ermöglicht), ohne den Großeinkauf (der Freizeit, ergo Fernsehzeit freisetzt und TV-Werbung rentabel macht) und ohne den PKW (der den Großeinkauf erst erlaubt) ... alles das, so der ironische Fernseh-Historiker Hartley, um eigentlich nur die Wohnungsprobleme im England der Nachkriegszeit zu lösen.

Folgt man Hartleys sarkastischem Materialismus, dann befinden wir uns heute bereits in der besten aller Welten, und das verdanken wir dem Fernsehen, denn es ist gegen alle Niveaulosigkeitsverdikte perfektes "Democratainment" und hat unsere Gesellschaft über sich selbst aufgeklärt. Noch im ödesten Talkshow-Gelaber sieht er die von ihm so genannte "Do-it-yourself-Citizenship" verwirklicht. Was also der Baumarkt für den Heimwerker, ist das Fernsehen für den an seiner transmodernen Identität bastelnden Staatsbürger.

CS ist eine transdisziplinäre Disziplin, eine postmoderne Phänomenologie, deren Anziehung in ihrer Fähigkeit zur Selbstreflexion und zur epistemologischen Toleranz liegt. Wie unsere gegenwärtige Kultur ein nicht mehr eingrenzbarer Prozess der proliferierenden Zeichenkommunikation ist, bleibt auch das CS-Konzept grundsätzlich offen, damit aber auch angreifbar und fehlbar. Spannend und problematisch zugleich ist, dass CS sich in den Projekten ihrer Akteure immer stärker in eine Performance auflösen, die zwischen künstlerischer, publizistischer und wissenschaftlicher Praxis keinen Unterschied mehr macht. Die Vielzahl von Journalisten, Musikern, DJs und Romanciers, die die CS hervorgebracht haben, zeigt das. CS könnte man auch als utopischen Journalismus begreifen, einen Journalismus ohne Zeilenvorgabe, ohne Auflagendruck und ohne Chefredakteur – eine breit angelegte Recherche, bei der auch das schmutzigste Dokument Bedeutung hat. Inwieweit der dabei entstandene Intellektuellentypus auch hierzulande vorstellbar ist und ob es sinnvoll ist, die Grenzen des wissenschaftlichen Systems in dieser Weise aufzuweichen, das wird die Zukunft zeigen.


Dr. Eike Wenzel
Berliner Str. 101
D-69121 Heidelberg

Ins Netz gestellt am 22.08.2000.

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