Werber über Luhmann: Erziehung ohne Bildung?

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Niels Werber

Erziehung ohne Bildung?

Kurzrezension zu
  • Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Hg. von Dieter Lenzen. Frankfurt / M.: Suhrkamp 2002. 236 S. Geb. € 24,90.
    ISBN 3-518-58320-4.


1997 erschien im Suhrkamp Verlag Luhmanns zweibändiges Werk namens "Die Gesellschaft der Gesellschaft". Damit schien der Schlußstein eines ungemein produktiven Lebenswerks gesetzt worden zu sein, 1998 verstarb Luhmann. Er hinterließ nicht nur den berühmten Zettelkasten, sondern auch mehrere nahezu abgeschlossene Monographien. "Die Religion der Gesellschaft" und "Die Politik der Gesellschaft" erschienen im Jahr 2000, und nun hat Dieter Lenzen "Das Erziehungssystem der Gesellschaft" herausgegeben, dessen erste Fassung im Herbst 1996 entstand und das bis zu Luhmanns Tod mehrfach überarbeitet worden ist. Lenzen hat die Literaturangaben im Text ergänzt und überprüft, sonst wurde das Konvolut in dem Zustand belassen, "in dem es vorgefunden wurde". Mit diesem Band liegt nun zu jedem Funktionssystem der modernen Gesellschaft ein monographisches Werk vor.

"Allen das Gleiche" oder "Jedem das Seine" (Thomas Mann)

Hat ein Kind aus einem abgelegenem Bergdorf oder einer Häuslerfamilie die gleichen Bildungschancen wie eines aus der Hauptstadt oder der Oberschicht? Die Frage stellt ein Problem der Gerechtigkeit dar, und für die gibt es, folgen wir dem Bildungsbürger Thomas Mann, zwei konträre Formeln: "Allen das Gleiche" oder "Jedem das Seine". Wie immer bei solchen Generalformeln, sie helfen kaum weiter. Individuen werden nach Jahrgängen eingeschult und nun als Mitglieder einer Klasse oder Stufe als gleich behandelt. Die schulischen Leistungen von Sechs- oder Sechszehnjährigen werden untereinander verglichen und an den alterspezifischen Anforderungen gemessen. Herkunft, Vermögen, Geschlecht, Religion oder Nationalität spielen keine Rolle, nicht einmal Sozialisation. Im Klassenverband nehmen alle am selben Unterricht teil und bekommen mithin die gleiche Chance, zu lernen und Prüfungen zu absolvieren, deren Ergebnisse wiederum auf die Klassenleistung insgesamt zurückbezogen werden.

Ungleichheit: gute oder schlechte Noten, kann so mit dem Verweis auf Gleichbehandlung von Gleichen begründet werden. Gerechter geht es nicht, oder? Keine gute oder schlechte Zensur kann allein damit begründet werden, dass das Elternhaus reich oder arm, zerrüttet oder intakt ist, der Vater den Schulrat kennt oder die Mutter arbeiten und allein erziehen muss. Aber besteht nicht genau darin eine Ungerechtigkeit, dass einige Vorteile, andere Nachteile mit in die Klasse nehmen, um diese dann durch eigene Leistungen oder Fehlleistungen auszubauen? Die jüngste Shell-Jugend-Studie hat erneut bestätigt, daß das Elternhaus der Jugendlichen nach wie vor entscheidend für die Bildungskarriere ist.

Wenn die Abschaffung unterschiedlicher Einrichtungen für unterschiedliche Stände im 19. Jahrhundert ein Schritt in Richtung soziale Gerechtigkeit gewesen ist, wo ist sie geblieben, wenn die auffällige Korrelation des ökonomischen und kulturellen Kapitals der Eltern mit dem Bildungserfolg der Kinder in der Schule unberücksichtigt bleibt? Die Reformer des 19. Jahrhunderts hatten die Ausrichtung der Erziehung an ständischen Differenzen mit dem Verweis auf "die Natur des Menschen" abgelehnt. Es ging um die Bildung des Menschen, nicht um die Aufzucht von Zöglingen zu den Nachfolgern ihrer Väter, also zu Adeligen, Bauern oder Bürgern. Alle Menschen sind gleich, auch für das Erziehungssystem, doch unterscheiden sie sich alle und müssten also auch verschieden erzogen werden, da im Dienste der Gerechtigkeit Ungleiches auch ungleich behandelt werden sollte. Manche bräuchten mehr, andere weniger Förderung, Anregung, Zuwendung oder Nachhilfe. Die Phrase der "Chancengleichheit" verdeckt diese Schwierigkeiten wie auch die Vermutung, dass die Gemeinschaft der Steuerzahler gerade den Eliten die längste, beste und kostspieligste Ausbildung finanziert (und später dann die Theater, Museen und Opernhäuser).

"Homogenisierung der Eintrittspopulation"
und die Ungleichheiten der Noten und Abschlüsse

Niklas Luhmann hält die "Homogenisierung der Eintrittspopulation" für einen der "markantesten Indikatoren für die Ausdifferenzierung des Erziehungssystems". Die Einschulung nach Alterskohorten verschafft dem System die "Fiktion der Startgleichheit" mit der Folge, dass nun "alle im Laufe der Schulerziehung auftretenden Unterschiede intern zugerechnet, das heißt auf die Schule selbst zurückgeführt werden" können. Mit den "auftretenden Unterschieden" sind Noten, Zeugnisse, Versetzungen, Abschlüsse gemeint, die unter den als Gleiche angetretenen Schülern oder Studenten ungleich verteilt werden, nämlich im Bezug auf unterschiedliche Leistungen. Jeder erhält hier das seine. Erst der von Thomas Mann verachtete "Demokratismus", alle gleich zu behandeln, ermöglicht so den von ihm geschätzten "Aristokratismus" des suum cuique.

Wo Mann einen unaufhebbaren Gegensatz unterstellt, entdeckt der Soziologe eine unvermeidbare Differenz. Zunächst werden Ungleiche als gleich behandelt, dann werden Gleiche zu Ungleichen. Mit "sozialer" Gerechtigkeit hat dies nichts zu tun. Die Gesellschaft kann mit Gleichheit ohnehin nichts anfangen, denn sie benötigt Unterschiede, um geeignetes Personal für ihre Institutionen zu finden. Unternehmen, Behörden, Banken, Medien oder Militär wären hilflos, hätten alle den gleichen Abschluss, denselben Lebenslauf. Gerade die vom Erziehungssystem erzeugten Ungleichheiten der Noten und Abschlüsse erleichtern dagegen die Rekrutierung. An ihnen sind nun aber, dank der Zauberformel der Chancengleichheit, die Absolventen selbst schuld, denn sie haben ja alle mit sechs Jahren angefangen und dann eben mehr oder weniger geleistet.

Schule, Akademien und Universitäten ignorieren die "Effekte der Sozialisation" und ihre Folge: "dass Kinder ungleich vorbereitet in die Schule kommen", um dann ihre internen "Selektionsverfahren" wie Benotung und Versetzung nicht an den externen Ungleichheiten der Herkunft, der Vermögen oder Nationalitäten zu orientieren, sondern allein am Vergleich der Schüler. Ähnlich wie die blinde Justitia, die ohne Ansehen der Person allein den Fall betrachtet, benutzt das Erziehungssystem zur Bewertung allein schulische Leistungen. Die Umwelt des Systems wird als irrelevant abgeblendet.

Reduktion der Person auf ein curriculum vitae

Diese Form der "Selektivität" klingt für viele Ohren hart und ungerecht. Ohne Rücksicht auf "den Menschen" und seine immer hochkomplexe Einbettung in zahllose Kontexte (Familie, Clique, Vereine...), formt das Erziehungssystem aus wenigen Noten und Zeugnissen jenen "Lebenslauf", der uns bei allen Bewerbungen muss begleiten können. Das Individuum wird so in ein Formular von ein paar Zeilen gefasst und auf dieser Basis mit anderen vergleichbar. Notendurchschnitte entscheiden dann über Laufbahnen, die das ganze Leben prägen. Genau darin: in der Reduktion der Person auf ein curriculum vitae besteht für Luhmann die Funktion des Systems der Erziehung. Dass jenseits dieser kargen Karriere aus Zensuren und Versetzungen auch Menschen gebildet werden mögen, hält Luhmann für eine Illusion der Pädagogik, die sich so darüber beruhigt, dass viele schlecht abschneiden – die haben dann eben was anderes erworben: Bildung.

Aber so scharf Luhmann auch argumentiert – allein an der Zensur, dem Scheinerwerb, dem Abschluss orientierte Karrieristen sind mir nicht die liebsten Studenten. Auf den Glauben, über die Benotung hinaus der Bildung zu dienen, wird kein (Hochschul-)Lehrer gern verzichten wollen, denn dies bedeutete ja im Umkehrschluss, dass die Funktion der Lehre allein in der Verteilung von Noten bestünde.


PD Dr. Niels Werber
Ruhr-Universität Bochum
Germanistisches Institut
D-44780 Bochum
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Ins Netz gestellt am 18.09.2002
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