Poetik im Widerspruch: literarische
Abweichungsphänomene aus neuer Sicht
- Andreas Härter: Digressionen. Studien zum Verhältnis von
Ordnung und Abweichung in Rhetorik und Poetik. Quintilian Opitz Gottsched
Friedrich Schlegel (Figuren 8).
München: Fink 2000. 336 S.
Kart. DM 78.-.
ISBN 3-7705-3496-4.
Die als Habilitationsschrift an der Universität St. Gallen eingereichte
Studie Andreas Härters thematisiert nicht die "literarische Praxis
der Digression", sondern wendet sich der "theoretischen Reflexion
des textlichen Verhältnisses von Ordnung und Abweichung" zu (S. 10
f.). Dabei grenzt Härter sich ausdrücklich von bisherigen
Ansätzen in der Literaturwissenschaft ab, mit denen Abschweifungen,
Ausschweifungen, Digressionsstil oder intermittierender Stil vor allem am
Beispiel von Essay (Montaigne, Benjamin u. a.), Aphorismensammlung (z. B.
Lichtenberg, Nietzsche) oder Roman (etwa Sterne, Jean Paul, Musil, Arno
Schmidt) untersucht wurden. Mit der Verlagerung des
Untersuchungsschwerpunktes auf die theoretische Reflexionsebene von
Abweichungen setzt Härter nicht zuletzt auch in der Poetikforschung neue
Akzente.
Zu diesem Zweck werden in vier unterschiedlich gewichteten und chronologisch
geordneten Teilstudien Marcus Fabius Quintilianus' Rhetorik Institutio
oratoria, Martin Opitz' Poetik Buch von der Deutschen
Poeterey, Johann Christoph Gottscheds Versuch einer Critischen
Dichtkunst und diejenigen Texte Friedrich Schlegels untersucht, die
Härter als "Poetik der progressiven Universalpoesie" zu einer
Einheit zusammenfasst (S. 227).
Der Verfasser schlägt damit einen historisch kühn ausgreifenden
Bogen, in welchem die einzelnen Teilkomplexe Vorbereitung, Anfang,
Scheitelpunkt und Ende der rhetorisch fundierten normativen Poetik markieren.
Durchschritten wird ein schwer zu übersehendes Feld, das sich über
die vier Teilstudien exemplarisch erschließt. Einen methodischen
Ausgleich zu diesen exemplarischen Einzelstudien schaffen kontextbildende
Einleitungskapitel zu den einzelnen Teilkomplexen.
Eine wichtige Grundannahme Härters ist, dass Ordnung und Abweichung
relationale Begriffe gleichen Ursprungs sind, die sich nicht wie
"Sekundär- und Primärphänomene" zueinander verhalten
(S. 13), sondern sich gegenseitig konstituieren. Die weitgehend immanente
Lektüre der untersuchten Texte fasst Härter als historisch
orientierte Variante dekonstruktivistischer Analyse, sofern sie ähnlich
wie diese an Widersprüchen interessiert sei. Als entscheidende Differenz
gegenüber der Dekonstruktion literarischer Texte wird indessen gesehen,
das die herausgearbeiteten "textlichen Widersprüche" oder
Digressionen "in einen historischen Verlauf" gestellt sind, in dem
sie für die "Entwicklung der poetologischen Reflexion
aussagekräftig werden" (S. 14).
Quintilian: Institutio oratoria
In der rhetorischen Systematik wird die Abweichung als Element der
Textordnung oder Redegliederung (dispositio) thematisiert und
bezeichnet dann zumeist Exkurse beziehungsweise eingeschobene Redeteile, die
eine geplante Wirkung auf die Zuhörerschaft haben sollen. Zudem fasst
sie im Bereich der elocutio Figuren der aversio (Abwendung).
Die Rhetorik Quintilians als "vollständigstes System und
systematischste Theorie der Rhetorik der ganzen Antike" (S. 27) stellt
nun aus Härters Sicht vor allem einen Versuch dar, "die Abweichung
von der Ordnung in die Ordnung" zu integrieren (S. 36). Auffällig
sei gegenüber anderen Systematiken der antiken Rhetorik der weit
gefasste >Abweichungs<-Begriff bei Quintilian. Werde der Redewirkung keine
starre Redeordnung vorangestellt, verliehen Abweichungen der Textordnung eine
Flexibilität, welche der gewünschten Wirkungsentfaltung
zuträglich sei.
Quintilians "Versuch, die Redeordnung durch die Integration des
Ungeordneten in die Ordnung zu stabilisieren" (S. 45) gelänge
jedoch nicht bruchlos. Dies erweise sich an der begrifflichen Unterscheidung
von egressio und digressio. Während egressio
(Hinausgehen, Ausgang) eine ordnungsdienliche Form der Abweichung
bezeichne, die plan- und beherrschbar sei, werde digressio (Trennung,
Weggang) bei Quintilian zum "Konfliktbegriff" (S. 50) für ein
radikales Maß an Abweichung. Digressio werde als
"widerspenstiges, ordnungsgefährdendes oder gar
ordnungszersetzendes" (S. 51) Abweichungsphänomen in der Systematik
ausgespart, gewarnt werde vor der Gefahr nicht zu beherrschender
Affektwirkungen, mit denen Digressionen verbunden seien.
Quintilians Unterscheidung von ordnungsdienlicher und ordnungsfeindlicher
Abweichung (egressio und digressio) werde in der rhetorischen
Tradition von "Cicero bis Lausberg" zu wenig beachtet; vielmehr sei
auch in der aktuellen Forschung als "klassische Bezeichnung für die
in das rhetorische System integrierte, ordnungsdienliche Abweichung" (S.
51 f.) nicht egressio, sondern entgegen der Verwendung bei Quintilian
digressio eingeführt.
Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey
Am Beispiel der rhetorischen Kategorie der Abweichung macht Härter im
Einleitungskapitel des zweiten Teilkomplexes zunächst deutlich, wie
rhetorische Begriffe ihre Funktion und Bedeutung verändern, wenn sie in
die Poetik übertragen werden. Beispielsweise lassen sich die
Abweichungsfiguren der aversio (Bereich der elocutio) nicht
unverändert in die Poetik übersetzen. So könne etwa die Form
der aversio ab oratore (Abwendung vom Redner) aus Sicht der Poetik
nicht sinnvoll als Abweichung gefasst werden, da die vorübergehende
fiktive Übertragung der Rede auf andere Personen in der Literatur
schlicht die "elementare Tatsache der Verdoppelung der
Redeinstanzen" bezeichne (S. 59).
Bei Opitz wird das Phänomen der egressio bzw. digressio
nicht eigens thematisiert. Dies führt Härter vor allem darauf
zurück, dass die Poetik hinsichtlich der dispositio, die als
Textordnungstheorie das Abweichungsmoment wesentlich einschließt, weite
Spielräume offen lasse. Alternativ untersucht Härter die
"textinternen Widersprüche" der Poetik, die "in sich
digressiv" sei (S. 100). An den Stellen, an denen solche
Widersprüche zu Tage träten, würden digressive Spannungen
zwischen "praktischer Forderung nach Lehrhaftigkeit" und
"unterschwelliger Abweisung derselben, spezifischem Schreibanlass und
poetischem Geist, Regelhaftigkeit und Individualität,
Instrumentalisierung und Emanzipation der poetischen Sprache" fassbar
(S. 100 f.), welche die Grundkonflikte des Opitzschen Poetik-Verständnis
markierten. Härter kommt über dieses Verfahren zu einer zum Teil
radikalen Umdeutung des poetikgeschichtlichen Schlüsseltextes. So
zeige etwa das "Hervortreten der poetischen Sprache als Zentrum eines
neuen Poesiebegriffs", wie sich die Poesie aus der "Dienstbarkeit
gegenüber den Aspekten der Lehrhaftigkeit" löst (S. 99). Die
Poetik gewinne Eigenständigkeit gegenüber der Rhetorik und arbeite
letztlich der Autonomie- und Genieästhetik des 18. Jahrhunderts voraus,
obwohl der Text bekanntermaßen weithin als das "radikale Gegenteil
des späteren Originalitäts- und Geniegedankens" gelte (S. 99).
Wenn Härter die Opitz'sche Poetik insgesamt als "Regelpoetik im
Widerspruch" ausweist (S. 98), verwundert doch auch ihn, dass ihre
"spannungsvolle, digredierende Textlichkeit" schließlich auch
im Widerspruch zu der "kanonische[n] Geltung" steht (S. 101), die
gerade diese Poetik im 17. Jahrhundert erlangt hat.
Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst
In der umfangreichsten Teilstudie wird ein gottschedischer
"Bestimmungsrigorismus" in den Blick genommen, dem "Ordnung
alles" und "Abweichung ein Greuel" sei (S. 114). Werde nun die
ordnungsbedrohende Form der digressio in der Poetik Gottscheds als
"ästhetisch wie moralisch zu verurteilende Verirrung" gesehen,
nehme Gottsched dagegen die ordnungsdienliche Art der Abweichung als
Nebenfabel in das poetologische System auf. Dort erhalte sie wichtige
Funktionen wie die "Beförderung der Wahrscheinlichkeit der
Hauptfabel, die Steigerung des Vergnügens und der Lebendigkeit der
Darstellung" (ebd.). Die Abweichungskritik werde indessen als Kritik der
"ästhetischen Abweichung" (besonders als Abweichung vom
Wahrscheinlichkeits- beziehungsweise Ähnlichkeits-Gebot) und als Kritik
der "moralischen Abweichung" formuliert (S. 138).
Vor allem aber deckt Härter wie schon bei Opitz elementare
Widerspruchstendenzen, argumentative und begriffliche Verschiebungen
innerhalb der Gottschedschen Poetik auf. Erörtert werden dazu unter
anderem die Erzählungen über den Ursprung der Poesie,
Nachahmungslehre und Naturbegriff, Bedingungen von Wahrscheinlichkeit oder
Eindeutigkeit und die Rückübersetzbarkeit poetischer Schreibart.
Gottscheds Poetik werde durch ein grundlegendes "argumentatives
Muster" bestimmt, in dem zunächst eine unzweideutige Absicht
erklärt werde, die dann jedoch mit einem "nicht ganz
zuverlässigen, da Eindeutigkeit nicht gewährleistendem,
Mittel" umgesetzt werde (S. 207). Diesem Muster erwachse im Textverlauf
implizit eine "Gegenästhetik des poetischen Einfalls oder der
>poetischen Freiheit<", die sich digressiv zu der explizit vertretenen
"Ästhetik der Textbeherrschung" verhalte (S. 212).
Stelle nun die explizite Poetik eine Theorie der "Text- und
Rezeptionsbeherrschung" auf, welche die poetische Sprache im Sinne einer
Belehrungsabsicht instrumentalisiere, komme es in der gegenläufigen
ästhetischen Tendenz zu einer "Aufwertung der poetischen Sprache
und ihrer Bildhaftigkeit" (S. 219). Dies liest Härter als
"Verabschiedung der Produktionsästhetik" und Entwurf einer
rezeptionsorientierten "Werkästhetik", welche die
"Textlichkeit des poetischen Texts" in den Blick nehme und auf die
"Feier der Autonomie" des Dichtergenies im 18. Jahrhundert
vorausweise (S. 213); zugleich antizipiere sie letztlich Ansätze wie New
Criticism, Formalismus, Strukturalismus, Dekonstruktivismus und Hermeneutik.
Friedrich Schlegels "Poetik der progressiven Universalpoesie"
Im Einleitungskapitel, das dem Schlegel-Komplex vorangestellt ist,
erörtert Härter zunächst die Relation zwischen Mimesis und
Figuralität. Hervorgehoben wird dabei besonders, dass dem
Mimesis-Konzept wesentlich die Vorstellung einer "Zeitverschiebung
zwischen dem Vorher des Übertragens [von Zeichen] und dem Nachher des
Übertragenseins und der Rückübertragung" zu Grunde liege,
während in der "genuin figural orientierten Vorstellung der
poetischen Sprache" diese "Zeitkluft" fehle (S. 221). Für
letztere vollziehe sich die Übertragung in einem "offenen
Jetzt" (ebd.). Sei dieses "Jetzt der figuralen Bewegung" nur
"als Jetzt einer Lektüre zu denken" (ebd.), erschließe
sich die genuine Figuralität poetischer Rede allein aus der
Textrezeption. Als Konsequenzen einer Verschiebung von der
Mimesis-Vorstellung hin zur Figuralität des poetischen Textes in der
Poetik versteht Härter daher den "Untergang der persuasiven
Rhetorik" sowie das "Ende der produktionsästhetischen
Orientierung der Literaturtheorie" (S. 222).
Mit den beiden Grundformen der Abweichung (egressio und digressio
) verbänden sich dabei wiederum differente Zeitvorstellungen.
Impliziere die Vorstellung der egressiven Abweichung ein "Vorher",
von dem ausgehend abgewichen werde ("Autorität des
Primären", S. 224), vollziehe sich die digressive Abweichung nicht
als "Rückkehr" oder "Rückgang", sondern als
"Prozeß der Verschiebung" bzw. als "Fortgang"
(ebd.).
Obwohl sich für Härter schon bei Gottsched in der im Text implizit
erwachsenden >Ästhetik des poetischen Einfalls< eine "grundlegende
Um- und Aufwertung des Figuralen" ankündige (S. 219), werde sie in
dieser noch streng rhetorisch-nachahmungstheoretisch orientierten Poetik
nicht wie schließlich bei Schlegel konsequent durchgeführt.
An diese Vorüberlegungen knüpfend geht Härter dem
Verhältnis von Ordnung und Abweichung auf der Basis von Fragmenten,
Aufsätzen und Dialogen Schlegels nach, die um den Komplex der
progressiven Universalpoesie kreisen. Herangezogen werden dabei Texte, die
zeitlich von den Lyceums-Fragmenten (1797) bis zum
Gespräch über die Poesie (1800) reichen.
Auch wenn es bei Schlegel an der systematischen Geschlossenheit fehle, wie
sie die Poetiken von Opitz oder Gottsched beanspruchen, zeichne sich so
eine Grundannahme Härters im Zusammenhang der Einzeltexte jedoch auch
bei Schlegel eine geschlossene poetologische Konzeption ab. Härter
erörtert innerhalb dieser Konzeption poetologische
Schlüsselbegriffe wie >Unendlichkeit&l6;, >Progression<, >Ironie<,
>Sentimentalität<, >Mimik<, >Parekbase<, >Liebe< (vor allem in einem
Abschnitt zu Schlegels Lucinde) >Idee< oder >Scene<.
Im Hinblick auf Abweichungen ergibt sich dabei als Problem, dass Schlegel
grundsätzlich keine dem Einzeltext vorgelagerte Textordnung postuliert,
von der in der Praxis abgewichen werden kann.
Der spezifische Zusammenhang von Digression und Progression erschließt
sich bei Schlegel daher vor allem aus dem romantischen Konzept der
Universalpoesie. Aufgezeigt wird dabei, wie das "Postulat der poetischen
Progression nur mit der gleichzeitigen [...] Setzung einer
Digressionsbewegung" etabliert werden könne (S. 228), sofern jeder
poetische Einzeltext einerseits Teil der unendlichen Progression sei, die auf
die Universalpoesie ziele, andererseits als Teil des Ganzen von dem
erstrebten Ziel abweiche. Im poetischen Einzeltext ergebe sich damit eine
Grundspannung zwischen "Textindividualität" und seiner auf die
Ganzheit der Universalpoesie gerichteten "progressiven
Verweisungsbewegung" (S. 295).
Befreie Schlegel die "Poesie aus Mimesisansprüchen", werde sie
auf "genuine Figuralität hin entgrenzt" (S. 308). Die
Bestimmung des "Figuralen als Kern der poetischen Sprache" (S. 311)
negiere produktionsästhetische Textordnungsmuster und impliziere die
Perspektive des Lesens oder der rezeptiven Sinnerschließung im
permanenten Prozess der "figuralen Sinnverschiebung" (S. 310).
Schlegels "Theorie des poetischen Texts" (S. 294) erweist sich
dabei für Härter abschließend als grundlegend für die
"Literaturwissenschaft der Moderne", die poetische Texte als
"Interpretationswissenschaft" grundsätzlich innerhalb ihrer
"eigenen textlichen Bedingungen, ohne mimetisch bestimmte Referenz auf
Außertextliches, zu lesen und zu untersuchen" habe (S. 311).
Fazit
Zwar erschließt Härters Untersuchung keine neuen Quellen, doch ist
sie zunächst in der Fragestellung innovativ. >Digressionen<,
>Egressionen< oder einfach textinterne Widersprüche werden in
allerdings ungewöhnlicher Übersetzung der lateinischen Begriffe
als >Abweichungen< zusammengefasst und in theoretischen Texten untersucht,
Textordnungen und Abweichungen als relationale Begriffe betrachtet und die
spezifischen Bezüge zwischen beiden Polen exemplarisch aufgearbeitet.
Auch in methodischer Hinsicht setzt die Studie neue Schwerpunkte; zum einen
in der ausdrücklich auf textinterne Widersprüche zielenden
immanenten Lektüre, zum anderen, da Härter ausführlich auch
auf die jeweilige Machart bzw. Systematik der Poetiken eingeht. Besonders der
letzte Punkt wird in vielen poetikgeschichtlichen Untersuchungen
vernachlässigt, da diese zumeist auf die poetologischen Inhalte von
Poetiken fixiert bleiben.
Der Umfang der Untersuchung ist überschaubar; die vier Einzelstudien
lassen sich weitgehend unabhängig voneinander nachvollziehen und
für historische Forschungen auf den jeweiligen Teilgebieten heranziehen.
Namens- und Sachregister erleichtern den Textzugang. Die Darstellung bleibt
verständlich, wenngleich Textaufbau und einzelne Formulierungen
gelegentlich umständlich wirken und sich an manchen Stellen verwirrende
Redundanzen ergeben.
Der historisch gewendete Dekonstruktivismus Härters, für den
letztlich auch am Ende der Untersuchung auf der Basis der
Schlegel-Lektüren plädiert wird, analysiert die Texte weitgehend
unabhängig von ihren sozialhistorischen Voraussetzungen. Hinzuweisen ist
daher auf die engen Grenzen der exemplarischen Studie. Versuchte man etwa
Bezüge zwischen Textordnungskonzepten und literarischen Gegen-Ordnungen,
Lizenzen, Abweichungen oder Spielräumen zu bestimmen, die beispielsweise
im literarischen Feld des 17. Jahrhunderts ausgeprägt sind, wäre
freilich nicht nur die Poetik zu untersuchen. Ist der sozialhistorisch
orientierte Leser beispielsweise auch an der Frage interessiert, wie die in
Opitz' Poetik gesehenen Abweichungstendenzen auf das >Ordo<-Denken der
Barockzeit zu beziehen sind oder welche Ursachen sich für den Umstand
benennen lassen, dass die historische, kanonbildende Rezeption dieser Poetik
stark von der Textwahrnehmung Härters im Sinne einer "Poetik im
Widerspruch" abweicht, lässt sich festhalten, dass die Untersuchung
auf solche Fragen keine Antworten bietet.
Kritisch anzumerken ist, dass die Beschränkung auf nur wenige Arbeiten
der jeweils einschlägigen Forschung zwar die Lesbarkeit erhöht,
jedoch gelegentlich zu überzeichneten Bewertungen führt.
Beispielsweise konstatiert Härter, dass die Normierungslücke, die
bei Opitz bezüglich der Disposition besteht, in der Barockforschung
bisher nicht als systematische Schwäche wahrgenommen wurde (vgl. S. 88,
Anm. 99) und übergeht damit insbesondere die
Untersuchung Conrad Wiedemanns zu Freiräumen der dispositio im
Barock 1.
Bleibt man im Forschungskontext des 17. Jahrhunderts, fällt auf, dass
Härter in seiner Textauswahl eine streng >opitzianistische< Perspektive
einnimmt . Diese methodische Einschränkung wird in der
neueren Barockforschung zunehmend kritisch gesehen
2 , nicht zuletzt da gerade Opitz' Poetik vergleichsweise gut erforscht
ist. Fragt man nach dem Zusammenhang von Ordnung und Abweichung im gesamten
poetologischen Diskurs des 17. Jahrhunderts, ist auf eine Vielzahl
unberücksichtigter Poetiken hinzuweisen, die im Gegensatz zu Opitz auf
Fragen der Disposition poetischer Texte eingehen
3. Möglicherweise eröffnen sich auch von
hieraus neue Perspektiven im Hinblick auf spezifische Widerspruchstendenzen
der Opitz'schen Poetik.
Regt Härters Untersuchung also zu vertiefenden Studien an, liest sie
sich nicht zuletzt auch als historisch fundierter Gegenentwurf zu der
systematisch entwickelten Abweichungspoetik Harald Frickes, die in ihrer
Reformulierung und Erweiterung aktuell wieder zur Diskussion steht 4. Leider nimmt Härter
nur beiläufig auf Frickes Abweichungs-Konzept Bezug (vgl. S. 10, Anm. 4
oder S. 224 Anm. 10), so dass auch hier eingehendere Überlegungen
sinnvoll gewesen wären.
Jörg Wesche
Universität Göttingen
Seminar für deutsche Philologie / Lehrstuhl Professor Barner
Käte Hamburger Weg 3
37073 Hamburg
Ins Netz gestellt am 4.09.2001
Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is
given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.
Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten PD Dr. Dirk Niefanger. Sie finden den
Text auch angezeigt im Portal Lirez - Literaturwissenschaftliche Rezensionen.
Weitere Rezensionen stehen auf der Liste
neuer Rezensionen und geordnet nach
zur Verfügung.
Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen?
Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte
informieren
Sie sich hier!
[ Home | Anfang |
zurück ]
Anmerkungen
1 Conrad Wiedemann:
>Dispositio< und dichterische Freiheit im Barock. In: Walter Haug / Burghart
Wachinger (Hg.): Innovation und Originalität. Tübingen: Niemeyer
1993 (= Fortuna vitrea 9), S. 239-250. zurück
2 Vgl. etwa Herbert Jaumann: Barock. In: Klaus Weimar (Hg.):
Reallexikon der Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der
deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1. Berlin, New York: de Gruyter 1997, S.
199-204. zurück
3 Vgl. beispielsweise Albrecht Christian Rotths Poetik
Vollständige Deutsche Poesie (1688), die Anleitung zur Deutschen
Poesie von Johann Hübner (1696), Conrad Dunckelbergs Zur Teutschen
Prosodi Vierstuffichte Lehr-Bahn (1703), Gottfried Ludwigs Deutsche Poesie
dieser Zeit (1703), Johann Friedrich Rottmanns Lustiger Poete (1711) oder
Johann Georg Neukirchs Anfangs-Gründe zur reinen Teutschen Poesie
Itziger Zeit (1724). zurück
4 Vgl. Harald Fricke: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur.
(Beck'sche Elementarbücher) München: Beck 1981 und H.F.: Gesetz und Freiheit.
Eine Philosophie der Kunst. München: Beck 2000. zurück
|