
- Jacques Bouveresse: La voix de l'âme et les chemins de l'esprit. Dix études sur Robert Musil (Coll. Liber) Paris: Editions du Seuil 2001. 456 S. Kart. EUR (D) 21,50.
ISBN 2-02-036289-9.
Inhalt des Sammelbandes
Introduction (S. 11–84) | 1. "La science sourit dans sa barbe" (S. 85–122) | 2. La science, la technique et la culture (S. 123–146) | 3. Robert Musil ou l'Anti-Spengler (S. 147–172) | 4. Musil, l'homme exact (S. 173–188) | 5. Robert Musil, la philosophie de la vie et les illusions de l'Action parallèle (S. 189–226) | 6. Robert Musil et le destin de l'Europe" (S. 227–258) | 7. "Robert Musil et le problème du déterminisme historique (S. 259–284) | 8. Musil, Taylor et le malaise de la modernité (S. 285–322) | 9. Robert Musil, le >sens du possible< et la tâche de l'école (S. 323–372) | 10. Précision et passion: le problème de l'essai et de l'essayisme dans l'oeuvre de Robert Musil (S. 373–442) | Choix bibliographique; Index des notions; Index des noms (S. 443–456).
Robert Musils philosophisches Anliegen
Hat Robert Musils Werk bereits eine angemessene philosophische Würdigung erfahren? Diese – vor dem Hintergrund einer überwältigenden Masse an Musil-Titeln philosophischen Interesses – überraschende Frage beantwortet Jacques Bouveresse in der Einleitung (S. 11–84, hier: S. 11ff.) seiner Robert Musil gewidmeten Aufsatzsammlung "La voix de l'âme et les chemins de l'esprit" negativ. 1 Bouveresse behauptet, daß Musils philosophische Entdeckung noch aussteht: "Cette découverte [...] commence à peine à être faite" (S. 12). Für den Autor, Philosoph am Collège de France, sind drei Gründe dafür ausschlaggebend, daß Musil, seines großen Rufes als Essayisten zum Trotz, auch heute noch kaum als Philosoph im Sinne des Fachs wahrgenommen wird (vgl. S. 12f.):
Der philosophische Hintergrund des "Mannes ohne Eigenschaften" sei nicht leicht erkennbar;
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die Zugehörigkeit zu der zu Unrecht unbekannten oder gar verkannten österreichischen Universitätsphilosophie verstelle den an deutsche Traditionen gewöhnten Lesern den Blick auf den Kontext, in den Musil gehöre;
und vor allem seine Bescheidenheit, sich nirgends – und folglich auch nicht in der Philosophie – Kompetenzen anzumaßen, die seinen tatsächlichen Wissensstand überschritten hätten, mindere seine Chancen, als Philosoph wahrgenommen zu werden.
Diese dritte Eigenschaft, Musils Bescheidenheit, habe verhindert, daß er "eine Philosophie" entwickelt habe:
Il lui manque [...] à bien des égards la chose principale à laquelle les philosophes reconaissent habituellement l'un des leurs, à savoir, justement, une philosophie que l'on pourrait songer à lui attribuer. (S. 13f.)
Weil Musil keine >Philosophie< entwickelt habe, werde er nicht als Philosoph angesehen; weil er sie nicht habe entwickeln wollen (aus den genannten Kompetenzgründen), habe er sich der Dichtung zugewandt, die ihm als das geeignete Instrument für jene Form der Weltergründung erschienen sei, die eher mit offenen Fragen als der Prätension erzielter Antworten arbeite (S. 14f.)
Musils intellektuelle Statur und seine Position zwischen Dichtung und Philosophie habe dazu geführt, daß er heutzutage gleichsam doppelt isoliert sei: Einer größeren Öffentlichkeit bleibe sein Werk verschlossen, weil es im Grunde zu schwierig sei, während die Fachphilosophie es nicht wahrnehme, weil es als essayistisch gelte (vgl. S. 15). Vor dem Hintergrund dieser Darlegung von Musils einsamer Position ist Bouveresses Studie zu Musils philosophischer Bedeutung als eine Entscheidung zu verstehen, die Musils Anliegen zu ihren eigenen macht. Vorrangiges Ziel des Verfassers ist es dabei, Musils Fragestellung für die Diskussion in der Fachphilosophie nutzbar zu machen (S. 16f.).
Das Buch versammelt neben einer langen und gründlichen Einführung zu Musils Bedeutung für die Gegenwart (dort sieht ihn Bouveresse als mögliches, nützliches >Gegengift< zu postmodernen Elogen des Unklaren oder der These vom Ende der Geschichte; vgl. z. B. S. 23–29) zehn Aufsätze aus den Jahren 1978 bis 1997, die zum Teil einführenden Charakter, zum Teil sehr genau umgrenzte Themen haben (vgl. hierzu das vorangestellte Inhaltsverzeichnis). Im folgenden konzentriere ich mich, nach einleitenden Bemerkungen zum Titel und zur Thematik der >Seele<, auf zwei – besonders innovative – Aufsätze: über Musils Beziehungen zur >Lebensphilosophie< (S. 189–226) sowie über "Musils >Möglichkeitssinn< und die Aufgabe der Schule" (S. 323–372). Im Anschluß werde ich den von Bouveresse vor allem im Schlußkapitel erörterten Mittelweg des >Essayismus< zum Ausgangspunkt für die Diskussion allgemeinerer Fragen auswählen.
Die Wege zwischen Seele und Geist
Bouveresse wandelt für den Titel seines Bandes eine Formulierung ab, die im "Mann ohne Eigenschaften" als ein Resümee eines Gedankenganges von Paul Arnheim, Ulrichs Widersacher, wiedergegeben wird. An der entsprechenden Stelle im "Mann ohne Eigenschaften" münden Arnheims Gedanken in die Feststellung, "[...] daß alle Wege zum Geist von der Seele ausgehen, aber keiner zurückführt". 2 Die Entscheidung für Arnheim als Stichwortgeber für ein Buch, das sich so explizit in den Dienst Musils stellt, muß zunächst überraschen, wird doch Arnheims Versuch, "Geist" und "Seele" zu vereinen, im Roman sofort auch als "Interessenfusion Seele-Geschäft" 3 beschrieben und vom Erzähler als Verstellung gewertet. Bouveresse begründet den Titel aber gerade damit, daß Arnheims Diagnose die gültige Beschreibung seiner Epoche liefere. Wie Arnheim spürten die meisten kultivierten Menschen in ihrem Erwachsenenleben, daß sie sich auf irgendeine Weise von den Idealen ihrer Jugend entfernt hätten; wie er reagierten sie mit kompensatorischer (falscher) Romantik (vgl. S. 45) und dem (inhaltsleeren) Kult der >Seele<.
In Bouveresses Titel ist aber eben jene Korrektur enthalten, die Arnheim selbst nicht mehr gelingt: Nicht nur solle die >Stimme der Seele< vom Verstand oder Geist angehört werden, sondern auch umgekehrt solle der Geist auf die >Seele< zurückwirken, und diese an den Leitkriterien des Geistes – nämlich Klarheit des Denkens, adäquates Erfassen der Welt und Abstinenz von einer nicht-begründeten Spekulation – sich ausbilden (vgl. S. 63f., S. 81). Diese Abwandlung zeigt auch, daß Bouveresse bereit ist, die relative Richtigkeit all jener Positionen anzuerkennen, die im breiten Spektrum von Personen und Positionen von Musils Hauptwerk repräsentiert werden (vgl. S. 191). Seiner Meinung nach werde an all jenen Versuchen, die >Seele< wiederzufinden, ein von Musil anerkanntes Grundbedürfnis deutlich (vgl. S. 49).
Gleichwohl sei Musil darum bemüht, dieses berechtigte Grundbedürfnis nach dem Seelischen richtig zu situieren – und das heißt, es in ein Verhältnis zum Geist oder Intellekt zu setzen, in dem keiner der Begriffe den anderen ersetze, und immer sei die intersubjektiv verständliche Begründbarkeit für Musil das entscheidende Kriterium geblieben, wie das folgende von Bouveresse wiedergegebene schöne Zitat Musils (vgl. S. 213) zeige:
Ich lese jeden Tag die Worte Seele und Intuition und begegne ihnen niemals im Leben. Ich habe noch nie einen Menschen eine moralische Entscheidung treffen gesehn [!], zu deren Verteidigung er sich darauf berufen hätte, daß er klar ihre Notwendigkeit, aber auf eine unklare Weise erkenne.4
Musils Kritik an Arnheim, der Lebensphilosophie und der Inexaktheit
Robert Musils Kritik an seiner Figur Arnheim geht über die romaninterne Bedeutung – hier kommt Arnheim die Rolle einer Kontrastfigur zu Ulrich zu – hinaus; an ihm illustriert Musil die (geringe) Leistungsfähigkeit, aber vor allem die Grenzen der >Lebensphilosophie<. Auf Arnheim, der bekanntlich Walther Rathenau nachempfunden ist, geht Bouveresse darum zu Recht ausführlich in jenem Kapitel ein, das der >Inexaktheit< der >Lebensphilosophie< gewidmet ist (S. 189–226). Wie erwähnt, ist es Bouveresses Überzeugung, daß sich an der Figur Arnheims – und allen anderen Figuren des "Mannes ohne Eigenschaften" – nicht nur die Relativität von Ulrichs Meinungen und seiner Versuche, eine Verbindung von Geist und Seele zu schaffen, zeige, sondern auch umgekehrt die relative Richtigkeit der Anliegen aller anderen Figuren. Musil interessiere sich wie seine Figuren für die seelische Seite des Lebens und wolle auch zeigen, warum es diese – letztlich aber inexakten – philosophischen Entwürfe gebe.
Der Lebensphilosophie wirft Bouveresse mit Musil nicht ihr Thema, sondern ihre diffuse und unklare Positionierung und Begründung vor; die Unklarheit darüber, was der Begriff >Leben< bedeute, sei auch der Grund für die Vielzahl philosophischer Entwürfe, die sich alle auf das >Leben< beriefen:
Musil remarque, par exemple, que, sous la bannière de la vie, on exalte, comme si elles étaient identiques, des choses qui ne vont pas forcément ensemble et qui pourraient même être tout à fait contradictoires. Pour certains, comme Whitman, ce qui est en question est plutôt la plénitude de la vie, pour d'autres, comme Thoreau, la simplification, pour d'autres encore, des choses aussi différentes que l'harmonie, la confiance, la naïveté, le recueillement contemplatif, l'intensité, la puissance, la santé, l'ivresse, l'agressivité, etc., de la vie. (S. 199 f.)
An der historischen Vielfalt popularphilosophischer Entwürfe – Bouveresse kommt im Laufe seines Aufsatzes außer auf Rathenau, Whitman und Thoreau auf Klages, Ellen Key, Novalis, Maeterlinck, Nietzsche und Emerson zu sprechen – wird also bereits ein systematischer Mangel deutlich, der die Beschränktheit jedes einzelnen Entwurfs enthüllt: Weil der Begriff des >Lebens< inhaltliche Füllungen allenfalls evoziere, ließen sich mit ihm so verschiedene Vorstellungen wie >Harmonie< oder >Naivität<, aber auch >Aggressivität< verbinden; Lebensfülle wie >Einfachheit< seien gleichermaßen propagierte Ideale.
Die philosophische Durchdringung solcher aus dem >Leben< stammenden Begriffe tue, Musil zufolge, gleichwohl not. Sie könne freilich nicht auf der Basis solcher nur Appellcharakter besitzenden Wörter gelingen, sondern müsse gedanklich erfolgen. Als solche mögliche, reflektierte Auseinandersetzung mit dem, was die Lebensphilosophie nur umschreibe, führt Bouveresse Musils Unterscheidungen zwischen >Motivation< und >Kausalität< einerseits, zwischen >lebendigen< und >toten Gedanken< andererseits ein:
Musil n'a pas rejeté les intuitions fondamentales de la philosophie de la vie, mais s'est efforcé plutôt de leur rendre justice en introduisant ses propres formulations plus adaptées comme, par exemple, sa distinction de la causalité et de la motivation, dont il remarque qu'elle correspond à la différence que l'on fait ailleurs entre la connaissance morte et la connaissance vivante [...]. (S. 224) 5
Mit diesen Begriffen gehe es Musil um die Möglichkeit, >Wahrheit< nicht als etwas >Abgeschlossenes< (und darum Erstarrtes) zu denken, sondern – durch die Bezüge auf ihre Entstehung oder ihre mögliche Veränderung – an die Lebensläufe zu binden; somit widerspreche Musil einer mechanistischen Tendenz, als Lösung sehe er nicht das >spontane Erwachen der Seele< ("un réveil spontané de l'âme", S. 224), sondern den Einsatz des >Geistes<, der die >Gedanken< mit dem >Leben< verbinde (vgl. auch S. 397–399).
Robert Musil als Pädagoge
Wieviel Neuland noch zu entdecken ist, wenn man an Musils Gesamtwerk eine philosophische Fragestellung heranträgt, beweist Bouveresses Studie zu Musils pädagogischer Bedeutung. In diesem Kapitel, das den Titel "Robert Musil, le >sens du possible< et la tâche de l'école" (323–373) trägt, gelingt es dem Verfasser, die verschiedensten Gedankenstränge und Themen zur Philosophie der Pädagogik und zu Musils Werk zu bündeln und miteinander zu verknüpfen: Grundsätzliche Überlegungen zur heutigen Situation der Schule, 6 Reflexionen Musils über die Ideale der Erziehung und die Axiome gesellschaftlichen Fortkommens, Darstellung der Kritik an der Schule in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts, die der Schule gewidmeten Partien in Musils literarischem Werk und endlich Musils "Möglichkeitssinn" fließen in den Text ein. Diese, systematisch jeweils auf sehr verschiedenem Niveau anzusiedelnden Ausgangspunkte werden so miteinander verknüpft, daß man gleichermaßen Neues über die Bedeutung des Themas für Musils Romane erfährt, wie man auch Anregungen für eine tiefere, im besten Sinne philosophische Durchdringung der Debatte um die Schule erhält.
Bouveresse weist zu Beginn seiner Studie den Grundwiderspruch zwischen Schule und Gesellschaft nach, der sich bereits Musils Analyse offenbarte: der Widerspruch zwischen einer offiziellen, gesellschaftlichen Nachfrage nach Idealen schulischer Erziehung – wie z. B. Wahrheitsliebe, Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit – und der tatsächlichen, gesellschaftlichen Förderung all jener anderen Verhaltensweisen, die den "Erfolg um jeden Preis" ("la réussite à tout prix", S. 325) garantieren, wie Berechnung ("le calcul et la ruse", S. 325), Wettbewerbsfähigkeit ("la compétivité", S. 325) und die "Kunst, sich seines Widersachers leicht und wirksam zu entledigen" ("l'art de se débarasser proprement et efficacement de l'adversaire," S. 325). So sei das Mißverständnis zwischen Schule und Gesellschaft grundsätzlicher Natur und im Selbstwiderspruch der Gesellschaft begründet:
La société exige de l'école qu'elle continue à promouvoir un système de valeurs intellectuelles et morales et un type d'homme qui ont cessé depuis un certain temps déjà d`être ceux qu'elle cultive, honore et récompense dans les faits. (S. 325)
Schon Musil habe sich dieser Widerspruch aufgedrängt; bei ihm erscheine er in dem Nachweis, daß sich das Ideal eines aufrechten Menschen, der im moralischen Bereich Mut beweise, in seiner Epoche in ein >Gespenst< ("fantôme", S. 323) 7 aufgelöst habe. Bouveresse arbeitet den Graben, der sich zunehmend zwischen der Schule bzw. zwischen dem ihr abverlangten Idealismus und der Gesellschaft mit ihrem Erfolgsdenken auftut, philosophisch geistreich heraus. Geistreich, weil er, von einigen wenigen Beobachtungen ausgehend, Fäden und Netze spinnt, die den Leser zu neuen Erkenntnissen führen,
welche das problematisch werdende Verhältnis der Schule zu ihren Idealen erklären: unter den genannten Bedingungen muß die Rhetorik der Lehrer wie die des Mathematiklehrers im "Törleß" oder Professor Lindners im "Mann ohne Eigenschaften" hohl klingen (vgl. S. 336 u. S. 363);
welche die Gründe für die Frustration der Schüler dem Unterricht gegenüber schonungslos benennen: diese erkennen, was auch der "Törleß" illustriert, daß der Pausenhof und sein Unterrichtsziel der Durchsetzungsfähigkeit das elementare Bildungserlebnis der Schule ist (vgl. S. 339);
und welche schließlich die kritische Reaktion der Gesellschaft auf die Schule – die zunehmend darauf drängen wird, auch noch die letzten Überbleibsel humanistischer Bildung zugunsten einer wahren Schule für das Leben zu kappen – als konsequente Weiterentwicklung der genannten Fehlentwicklung vorhersagen (vgl. S. 342).
So erscheinen die aktuelle Diskussionen und das Drängen auf eine Anpassung der Schule an die gesellschaftliche Wirklichkeit als erwartbare Folge einer Fehlentwicklung, die bereits Musil erkannt habe.
Philosophisch ist der Aufsatz, weil er zeigen kann, wie sich die Diskussion – die in der Praxis an Kriterienkatalogen wie berufs- oder allgemeinbildende Schulen, Zeugnisse mit Noten oder ausführlichen Beschreibungen, Verteilung von Unterrichtsstunden zwischen allgemeinbildenden und praktischen Fächern wie Recht oder Wirtschaft, Gesamtschule oder gegliedertes Schulsystems entlang verläuft (S. 344) – im Prinzip auf eine einzige grundsätzliche Frage bezieht: was >gesellschaftliche Bildung< sei? Die Frage nach dem Menschenbild einer Gesellschaft, ja mehr noch, die Frage nach dem Bild der Gesellschaft, das die Gesellschaft von sich selbst entwirft, konturiert sich als das zentrale Problem aller Pädagogik – und Musils scharfe und ironische Beschreibung >Kakaniens< rückt somit in den Mittelpunkt einer pädagogischen Diskussion, die nicht mehr von sozialen und politischen Fragen isoliert bleibt.
Der "Törleß" als Schulroman
Hat sich Robert Musil aber nicht selbst gegen die Inanspruchnahme seines Romandebüts – und in gewisser Weise damit seines ganzen Werkes – durch die Reformpädagogik verwahrt? Es gehört zu Bouveresses argumentativer Akkuratesse, diesen naheliegenden Einwand antizipiert und entkräftet (S. 326–332) zu haben. Denn wenn Musil im autobiographischen Rückblick den "Törleß" nicht als Schulroman, wie er für diese Zeit beinahe typisch war, verstanden wissen will, verkennt er die Reichweite seiner Überlegungen gleichsam selbst. Musil nämlich besteht auf der >tieferen< Intention seines Buches, den erkenntnistheoretischen und ästhetischen Aspekten von Törleß' Entwicklung (vgl. S. 328). So verstanden, wäre das Etikett >Schulroman< eine Reduktion des Buches auf seinen Stoff.
Bouveresse hingegen geht es nicht primär um die Darstellung der Schule, wie sie Musils erster Roman erkennen läßt, und also auch nicht primär um jene vermutete spezifische Seite der Schulkritik Musils, die etwa die österreichische Militärerziehung und Musils eigene Schulerfahrung betrifft. Vielmehr beschäftigt er sich mit den Wechselbeziehungen zwischen Individuen und ihren sozialen Umgebungen und wirft dann die Frage auf, welche Ideale, Normvorstellungen und Leitbilder für beide Größen, Individuen und Gesellschaft, entworfen werden. Diese Ideale und Normen werden in verschiedenen Lernprozessen erworben, und tatsächlich ist der Lernprozeß, der den behaupteten Vorrang des schulischen Humanismus durch die faktische Dominanz des Konkurrenz- und Erfolgsdenkens im Alltagsleben widerlegt, nicht der unbedeutendste Moment in einer jeden Übergangsphase von der Schule zur >Welt der Erwachsenen<.
Diese Darstellung des Kontrastes zwischen schulischer Lehre und tatsächlich geförderten Verhaltensweisen erfaßt den "Törleß" in einer Weise, die Musils grundsätzlichen Intentionen gerecht wird. Die Kluft, die sich zwischen den eigentlichen neuen Erfahrungen Törleß' und der völligen Irrelevanz der schulischen Unterrichtsgegenstände und dem Unverständnis der Lehrer für Törleß' metaphysische Fragen auftut, kann man als einen Sonderfall des Auseinandertretens von individuellen Lernprozessen (Törleß), verordnetem Lehren und Lernen (Lehrer) und der gesellschaftlichen Lehre der Aggression (Beineburg, Reiting) begreifen. In dieser Hinsicht ist Musils Werk also durchaus schulkritisch, ohne daß man darum den Unterschied zur realistischen Schulliteratur einebnen muß.
Wie Ellen Key und wie die Romanciers der schulkritischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts 8 kritisiert Musil die Schule als Institution und wie diese mit dem Ziel, der tatsächlichen Aufgabe der Schule wieder Gehör zu verschaffen. Daß sich Musil dabei aber von der engeren Thematik einer Darstellung der Schule in seinem Werk löst und von den Positionen der Jahrhundertwende, dem diffusen Wunsch nach >Seele< bald weit entfernt, liegt an seiner Fähigkeit, die Aufgabe der Schule grundsätzlich zu überdenken und deren ambivalente Verankerung in der Gesellschaft darzustellen.
Philosophie, Dichtung und Essayismus
An den beiden Studien über Musils Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie und über seine (implizite) Kritik gängiger Erziehungswissenschaften lassen sich die Leistungen einer philosophischen (historischen und systematischen) Lektüre Musils ermessen. Die philosophiehistorische Kontextualisierung bestimmt Musils Werk genauer, weil sie auf systematische Argumente und Kriterien (wie den Unterschied zwischen >Gründen< und >Motiven<) bezogen ist. Daß man Musils Werk neu kennenlernen kann, wenn man zunächst einen eigenen, systematischen Rahmen und eigene Fragen entwirft, zeigt Bouveresses systematisch angelegte Studie zu Musils Pädagogik. Dennoch stellt sich die Frage: Ist Musil tatsächlich in diesem Ausmaße als Philosoph zu lesen?
Wenn der Autor in seiner Einleitung behauptet, daß Musil immer noch als Philosoph und für die Philosophie zu entdecken sei, reagiert er auf die genau entgegengesetzte Einschätzung Philippe Chardins, den er in seiner ersten, langen Fußnote zitiert (S. 11f.). Chardin zufolge habe Musils literarisches Werk bei weitem nicht den ihm gebührenden Rang in der Öffentlichkeit erlangt – aufgrund einer Disposition der Forschung für philosophische und wissenschaftshistorische Fragen. 9 Die Gegenüberstellung beider Bücher profiliert freilich vor allem eine Leitfrage, die die Musil-Forschung weiterhin beschäftigen wird: In welchem Maße war Musil Dichter, in welchem Umfang Philosoph?
Jacques Bouveresse spricht diese Fragestellung in seinem Buch mehrfach direkt an (S. 11 ff., S. 81 f., S. 89–91, S. 373, S. 440 f. u. ö.). Musils Entscheidung zur Dichtung liegt, Bouveresse zufolge, darin begründet, daß die Literatur den experimentellen Charakter habe, der seinem Denken und seiner Abneigung gegen Systementwürfe entspreche. Mit ihr allein sei es darum auch möglich, denkerisch Zukünftiges zu ergründen. In diesem Zusammenhang beschreibt der Verfasser Musils Philosophiekritik auch als Ideologiekritik (vgl. S. 90 f.), und zwar als Kritik an dem definitiven Charakter, der einer (ab-)geschlossenen Weltsicht zukomme.
Wie aber verträgt sich diese Entscheidung mit Musils Existenz als Dichter – und welche Dichtung kann der philosoph-poetischen Zielsetzung und Doppelbegabung gerecht werden? Bouveresse definiert – mit Kevin Mulligan 10 – in gewisser Weise Mindeststandards für eine Dichtung, die den Ansprüchen Musils genügen kann: Sie müsse sich das jeweils das beste verfügbare Wissen einer Epoche aneignen und über es hinausgehen, um als gültige "theoretische und praktische Handlung" (vgl. S. 441 f.) anerkannt werden zu können. Damit bestimmt Bouveresse das Verhältnis von Philosophie und Dichtung in zwei Richtungen:
Zum einen wird erkennbar, daß sich die Dichtung nicht durch einen unklaren Appell an das vermeintlich >Andere< der Vernunft oder durch die Berufung auf die Intuition von der Philosophie abgrenzen dürfe; philosophische Strenge und Kenntnis der Welt seien auch für die Dichtung unabdingbar.
Zum andern wird die Leistung der Dichtung in ihrer Verknüpfung von Form und Inhalt bestimmt. Diese Verbindung von Form und Inhalt bedeute auch eine Verbindung zwischen Fühlen und Denken: in dem Maße, in dem eine ästhetisch erfahrene Form auch konzeptuell sei ("intellectuelle", S. 431).
Originell ist an diesen Ausführungen die Beobachtung, daß Musils Entscheidung – im Kontext der österreichischen Tradition mit der ihr eigenen Hochschätzung der theoretischen Philosophie – als Entscheidung zur praktischen Philosophie zu werten sei (S. 441 f.): Literatur erscheint hier als explizit praktisches Unternehmen. In diesem Sinne stuft Bouveresse auch Musils >Essayismus< als Verbindung von Theorie und Praxis ein. Dieser >Essayismus< sei das literarische Ergebnis der Verknüpfung von Gedanke und Kunst, drücke aber auch Musils Lebenseinstellung aus (S. 404 ff., S. 409). Diese Beschreibung von Musils >Essayismus< wird auf Zustimmung stoßen, vermag man doch unter dem Titel des >Versuchs< die experimentelle Seite seiner Dichtung und seines Stils sowohl in ihrer utopisch-inhaltlichen als auch formellen Ausprägung zu fassen.
Dennoch bleibt die – z. T. biographische – Frage offen; immerhin wendet Bouveresse – wie Musil selbst – die Entscheidungsfrage nach dem Verhältnis von Philosophie und Dichtung mit einer Vermittlungsfigur ab, die Musil gelegentlich auch als eigenen Kompromiß wahrnahm (S. 405). 11 Auch wäre die immanente Kritik, die vom Ist-Zustand des Werkes ausgeht, hier vielleicht mit dem Kontext fremder Überlegungen sinnvoll zu konfrontieren: Kann die Philosophie anders nicht praktisch und aussagekräftig werden? Hätte Musil nicht, denselben Kriterien folgend, doch auch Philosoph werden können? Und welche Rolle spielen die traditionellen Brücken zwischen Philosophie und Kunst wie etwa Ästhetik und Poetologie? Hier wirft Bouveresses interessanter Ansatz – Dichtung als praktische Philosophie zu begreifen – ja auch ein neues Licht auf die klassischen Einteilungen der philosophischen Fächer: Kurz, an diese Überlegungen zum Werk Musils von seinen eigenen Voraussetzungen her sollten sich bald andere – kontextualisierende – Studien anschließen, die auch Musils Besonderheit durch den Vergleich mit anderen Schriftstellern erörtern könnten.
Fazit: Robert Musil als Philosoph
Jacques Bouveresse gelingt eine Darstellung von Robert Musils philosophischem Denken, die durchgängig durch stupende Textkenntnis beeindruckt. Dabei werden einzelne historische und systematische Fragen – wie Musils Beziehungen zur Lebensphilosophie und zur österreichischen Universitätsphilosophie oder zum Essayismus – ausführlich behandelt, ohne daß jeweils Vollständigkeit (aller historischen Beziehungen) angestrebt wird. Musils rationaler Anspruch, der auf einem Verständnis des Geistes als kritischer Esprit beruht, wird genau konturiert. Musils Nähe zu einer kritisch–analytischen Haltung, deren erstes Ziel die – auch polemische – Klärung von Gedanken (und nicht der Aufbau eines Systems) ist, tritt deutlich hervor. Damit wird Musils Werk, wie Bouveresse es beabsichtigt, für die analytische Richtung der Philosophie gewonnen und, historisch gesehen, an die österreichische Universitätsphilosophie angeschlossen.
Es mag bedauerlich sein, daß die Grenzen einer Aufsatzsammlung den Verzicht auf eine genauere und umfangreichere historische Einordnung Musils (z. B. abgrenzende Erläuterungen zu den bekannteren Traditionen seiner Epoche) mit sich bringen, aber dieser Verzicht ist wohl auch damit zu erklären, daß der Autor im Philosophieren die eigentliche Aufgabe der Philosophen sieht: Robert Musil erscheint ihm dabei als ein Denker, der immerzu an einzelnen Fragen sein Denkvermögen geübt und präzise Antworten auf diese einzelnen Fragen gesucht habe. Im besten Sinne des Wortes kann Bouveresses Studie darum als eine Fortführung Musils gelten, die dessen >Geist< und Sinn für das intellektuelle Abenteuer ("aventure intellectuelle", S. 11) weiterzureichen vermag.
Armin Westerhoff, M. A.
Université de Genève
Département de langue et littératures allemandes
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Anmerkungen
1 Diese Studien ergänzen die Monographie von Jacques Bouveresse : L'homme probable. Robert Musil, le hasard, la moyenne et l'escargot de l'histoire. Paris: L'éclat 1993. zurück
2 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978. Bd. I, S. 393. zurück
3 Robert Musil (Anm. 2), S. 389. zurück
4 Robert Musil: Tagebücher. 2 Bde. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978. Bd. 2, S. 1168 [Anhang zu Heft 25]. zurück
5 Hinweis auf: GW 8, S. 1052. zurück
6 Das Kapitel geht aus dem Eröffnungsvortrag für die dritte "Biennale de l'éducation et de la formation" in Paris (1996) hervor; vgl. Bouveresse, S. 79. zurück
7 Bouveresse zitiert die französische Übersetzung von Philippe Jaccottet: Robert Musil. "L'Homme sans qualités". Paris: Editions du Seuil 1956, S. 52; Vgl.: Robert Musil: "Der Mann ohne Eigenschaften". Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, S. 45. zurück
8 Vgl. als Übersicht z. B.: York-Gothart Mix: "Die Schulen der Nation: Bildungskritik in der Literatur der Moderne". Stuttgart u.a.: Metzler 1995. zurück
9 Philippe Chardin: Robert Musil et la littérature européenne. Paris: Presses universitaires de France 1998, S. 1: "Musil [...] se considérait avant tout comme un écrivain. Or, aussi bien dans la critique en langue allemande que dans la critique en langue française, cette dimension spécifquement littéraire a été quelque peu négligée, alors que par exemple le rapport des >Désarrois de l'élève Törless< ou de >L'Homme sans qualitès< au savoir contemporain a déjà été en revanche étudié de manière approfondie." zurück
10 Kevin Mulligan: Post-Continental Philosophy: Nosological Notes. In: Stanford French Review 17 (1993, 2–3), S. 148. zurück
11 Vgl. Robert Musil: Tagebücher (Anm. 4), Band 1, S. 931: "[...] Was man rational besser ausdrückt, ja überhaupt so ausdrücken kann, soll man nicht dichten. Es scheint, daß ich darin etwas kompromißlich geworden bin". zurück
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