Wischmann über Bogdal:Historische Diskursanalyse der Literaturwissenschaft

Antje Wischmann

Unverdrossen weitergedacht –
Werkstattberichte zwischen Literaturtheorie und Literaturdidaktik

  • Klaus-Michael Bogdal: Historische Diskursanalyse der Literatur. Theorie, Arbeitsfelder, Analysen, Vermittlung. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999. 256 S. Kart. DM 59,80.
    ISBN 3-531-12216-0.


Mit dieser Aufsatzsammlung meldet sich ein bekannter Herausgeber, Forscher und Literaturdidaktiker in eigener Sache zu Wort. Wer die von Klaus-Michael Bogdal herausgegebenen Bände Neue Literaturtheorien (1990; 2., neu bearbeitete Auflage 1997) und Neue Literaturtheorien in der Praxis. Textanalysen von Kafkas >Vor dem Gesetz< (1993) mit Gewinn gelesen oder in literaturwissenschaftlichen/-didaktischen Seminaren und Colloquien diskutiert hat, sollte auch diesen "persönlicheren" Sammelband des Herausgebers nicht versäumen, obwohl es sich publikationstechnisch um einen ausgesprochenen Nachzügler handelt.

Elf der fünfzehn Beiträge bzw. deren Vorfassungen sind nämlich bereits vor 1999 in verschiedenen Zeitschriften oder anderen Anthologien veröffentlicht worden. Doch machen gerade die Zusammenschau und die Bündelung von literaturwissenschaftlichen und literaturdidaktischen Artikeln den Reiz dieses Bandes aus, der sich in dieser Hinsicht wie eine abwechslungsreiche Zeitschrift darbietet.

Der Vorsatz des Autors, "produktive Anschlüsse zwischen neuen Theoriebildungen und bewährten literaturwissenschaftlichen Methoden herzustellen", wird im Rahmen der anregenden "Werkstattberichte" (Bogdal, S.7) zweifellos eingelöst. Gleichzeitig werden überzeugende Vorschläge für ein handhabbares Begriffsinventar unterbreitet. Wie der Untertitel verrät, sind die Beiträge vier Themenbereichen zugeordnet (Theorie, Arbeitsfelder, Analysen, Vermittlung), wobei in dieser Besprechung nach dem Erscheinungszeitpunkt der Beiträge gewichtet werden soll.

Bewährte und aktualisierte Beiträge

Der erste Block besteht aus drei theoretischen Arbeiten: "Hermeneutische Selbstverständlichkeiten und poststrukturalistische Herausforderungen" (vorher: "Problematisierungen der Hermeneutik im Zeichen des Poststrukturalismus", 1996), "Kann Interpretieren Sünde sein? Literaturwissenschaft zwischen sakraler Poetik und profaner Texttheorie" (1995) und "Symptomale Lektüre und historische Diskursanalyse (Louis Althusser)" (1997).

Der erstgenannte Beitrag dürfte vielen Lesern aus dem dtv-Band Grundzüge der Literaturwissenschaft (hg. v. Heinz-Ludwig Arnold und Heinrich Detering) bekannt sein, ebenso der letztgenannte Artikel, der auch in Bogdals eigenen Sammelband Neue Literaturtheorien (1990) eingegangen ist. Gerade an diesem Beitrag lässt sich jedoch erkennen, dass Bogdal umfassende Überarbeitungen vorgenommen hat, so dass die erste Fassung, die noch den Titel "Symptomatische Lektüre und historische Funktionsanalyse" trug, heute als beinahe spröder Entwurf erscheint. Insofern lässt der "Nachweis der Erstdrucke" im hier besprochenen Sammelband die Einzelbeiträge mitunter viel älter erscheinen als es die überarbeiteten Versionen sind. Die Einführung über die "Hermeneutik im Zeichen des Poststrukturalismus" (1996) wurde allerdings unverändert abgedruckt.

Literaturbetrieb mit Klimatisierung

Der zweite, sehr heterogene Block "Arbeitsfelder" besteht aus zwei "gender"-bewussten Beiträgen über literarische Männerbilder, wobei Vorfassungen von ">Männer ohne Eigenschaften<: Identitätskonstruktionen durch Abwehr von Alterität" bereits 1993 und 1995 in pädagogischen Zeitschriften publiziert worden sind. Die angeführten Romanbeispiele zur literarischen Identitätskonstruktion (Joseph Roth: Das Spinnennetz 1923, Ödon von Horvarth: Jugend ohne Gott 1937, Hermann Broch: Die Schuldlosen 1950, Christoph Hein: Horns Ende 1985) erscheinen für die Bearbeitung der Fragestellung sehr vielversprechend und fordern zur eingehenderen Analyse auf.

Besondere Bekanntheit hat inzwischen die literatursoziologische Metapher der >Klimaanlage< erlangt, die Bogdal in seinem Beitrag "Der diskursive Raum der Gegenwartsliteratur" (1998 unter dem Titel "Klimawechsel" erschienen) lanciert. Hier stellt der Autor die lebensweltlichen Sozialmilieus in West und Ost gegenüber und kommt zu dem Ergebnis, dass die "Selbstzuschreibungen des Literatursystems" die gesellschaftliche Bedeutung von Literatur nicht länger beeinflussen, sondern dass eine pluralisierte, gesamtgesellschaftlich nicht repräsentative Lektürepraxis entstanden sei (ebd., S.109).

Die metaphorische >Klimaanlage< besteht aus fünf Gängen, die zu bestimmten Milieus und Lesergruppen mit spezifischem Lebensstil führen, und löst Bogdal zufolge die Auffassung von einer bürgerlichen und zivilen Öffentlichkeit ab. Literatur sei erst "warenförmig" und dann "milieuförmig" geworden.

Unter den fünf Gängen erscheint besonders der dritte Gang literaturpädagogisch relevant: Die Autoren bzw. Verlage, die sich dieses dritten Gangs der Klimaanlage bedienen, sind sich bewusst, dass sie zwar nur bestimmte Lesergruppen erreichen, dafür aber "milieuspezifische Identitäten" verstärken können (vgl. ebd., S.112). Die besonders vielfältige "Literatur des dritten Gangs" bestimmt Bogdal als zeittypisch für die 1980er und 1990er Jahre, "ein neuer Realismus in einer neuen Gründerzeit" (ebd., S.114). 1 Den milieuspezifischen Identitätsentwürfen auf Rezipientenseite stehen in Bogdals Werkstatt die in Frage gestellten Autor-Instanzen auf Produzentenseite gegenüber. 2

Das Autor-Subjekt aus diskursanalytischer Sicht

Die vier gänzlich neuen Beiträge sind in der zweiten Hälfte des Bandes enthalten (III, 2, 3, 5; IV, 1), die daher an dieser Stelle ausführlicher behandelt werden soll. Ausgangspunkt ist die Darlegung der verschiedenen "Autorfunktionen im literarischen Diskurs" (Beitrag III, 1, E: 1995). Untersuchungsvoraussetzung ist hier natürlich Foucaults Spezifizierung des Autors als "Subjektposition" im Verhältnis zum Diskurs-Ensemble der Aussagen.

Bogdal weist darauf hin, dass der emphatische Autorbegriff, der die individualisierte Dichter-Leitfigur des 18. Jahrhunderts und das "geniale" Vorbild des 19. Jahrhunderts umfasst, nicht allein mit diskursanalytischen Kategorien erfasst werden könne (vgl. ebd., S.137f.). Dagegen lasse sich die Krise des Autor-Selbstbildes um 1900 und die Entmystifizierung des Dichters in exemplarischer Weise diskursanalytisch beleuchten:

Mit dem Naturalismus beginnt eine Dauerkrise der Selbstbilder. Dies hängt mit einem Terrainverlust der Literatur um 1900 zusammen, die zunehmend gezwungen ist, mit anderen Diskursen um Sinndeutung, Wahrheitsproduktion und Kreativität zu konkurrieren (ebd., S.141). 3

Obwohl Bogdal hier Fragen der Konkurrenz und der Überschneidung von Diskursen berührt, wird weder auf Interdiskursivität noch auf Eigenschaften der Literatur als "elaborierte[m] Interdiskurs" (Jürgen Link) eingegangen, wie überhaupt eine gewisse Fixierung auf die klassischen Begriffsgrössen Autor, Werk und Leser festzustellen ist, die allerdings im Sinne der Diskursanalyse problematisiert, wenn nicht sogar unter Berufung auf Derridas Schriften dekonstruiert werden.

Literatursoziologisch und rezeptionsgeschichtlich aufschlussreich sind Bogdals Ausführungen zum Buchmarkt und zur Literaturkritik und -vermittlung, da sie deutlich werden lassen, wie Autorfunktionen gleichsam vom Textproduzenten "abgezogen" und in den Literaturbetrieb integriert werden. Im Gegensatz zum individualisierten Autor ist der Leser "ein Kollektiv-Singular" (ebd., S.146) geblieben. Dadurch fehlt der Leser-Funktion auch eine mit der Autor-Funktion vergleichbare Autonomie, so dass bestimmte Profile, beispielsweise die Unterhaltungslektüre-Leser, bis heute nicht anerkannt sind.

Die neuesten Artikel des Bandes

Hiermit sind wir in den Teil der Anthologie vorgedrungen, der ausschliesslich Aufsätze aus dem Jahr 1999 enthält. An die systematische Darstellung der Autor-Funktionen schliessen sich zwei veranschaulichende Textanalysen an (II, 2 und II, 3).

Wer war Wilhelm Arent?

Das erste Beispiel ist mit der übersteigerten "Stil- und Epochenproklamierung" und der Krise der Autoren-Selbstbilder um 1900 assoziiert. Der kurze Aufstieg und lange Fall des heute unbekannten Dichters Wilhelm Arent (1864 geboren, Todesdatum nicht ermittelbar) veranschaulicht, wie ein Autor aus dem literaturgeschichtlichen Kanon "herausfallen" kann.

Arent "diffundierte" aufgrund des selbstauferlegten Innovationszwangs in multiple Identitäten, publizierte unter verschiedenen Pseudonymen und nahm Selbstkommentierungen vor, um sich zu profilieren in einer "vom Fieber des Egoismus rastlos allgemeiner Vernichtung zutreibenden, wild-genusssüchtigen >Übergangsepoche<, von derem Hexembrodem wir Alle [...] mehr oder weniger infiziert sind" (Arent, 1891; zitiert nach Bogdal, S.165).

Bogdal benennt drei wiederkehrende Muster der "Paradigmatisierung von Autor und Werk" für das 18. und 19. Jahrhundert, die um die Jahrhundertwende ausser Kraft gesetzt werden: "Singularisierung", "Marginalisierung" und "Nobilitierung" (vgl. ebd., S.140). Arent betrieb in geradezu verzweifelter Weise

  1. eine aussichtslose Singularisierung inmitten einer chaotischen Schriftstellerszene, weil seine vielfältigen und sich im fliegenden Wechsel ablösenden literarischen Stilexperimente keine Anerkennung fanden, sondern als epigonal abqualifiziert wurden;

  2. eine erfolgreiche Marginalisierung zum "Dichter-Aussenseiter";

  3. eine zynische Selbstnobilitierung, die sogar Selbstmordversuche mit einschloss.

Eigentlich im besten Sinne "modern zerrüttet", bleibt es Arent und vielen anderen Autoren um 1900 vorenthalten, eine stabile Autoridentität zu erlangen (vgl. ebd., S.167). Bogdal bestimmt Arent als einen typischen >Modernen<, der von den Prozessen gesellschaftlicher Modernisierung überfordert war und wie Kafka als ein "Übergangsautor" schliesslich an einer "entsozialisierten Literatur" zerbrach (ebd., S.171). Dass Arent psychisch erkrankte, weil der dem Innovationsstreben blind folgte und sich unablässig zu einer literarisch innovativen "Beschleunigung" und "Ausdifferenzierung" zwang (ebd., S.167), mag vielleicht als eine etwas zu stark psychologisierende (fast unfreiwillig nobilitierende!) Ausdeutung der diensteifrigen Marktanpassung Arents erscheinen.

Thomas Bernhards auto(r)biographische Verweigerung

Anhand von Thomas Bernhards Auto(r)biographie aus den Jahren 1975 bis 1982 zeigt Bogdal, dass jener die vier >Ideologeme< oder >Mythen< der Autobiographie sabotiert. Die Ideologeme Sozialisation, Psychologie, Identität und Selbsterkenntnis fasst Bogdal dabei vereinfachend mit der Bezeichnung "Bekenntnis-Modell" zusammen, das an einen veralteten Subjektbegriff gekoppelt sei. Was nach Sozialisation klingen könnte, werde von Bernhard "wegerzählt" (ebd., S.176).

Unter Berufung auf Derridas Die Schrift und die Differenz (1972) deutet Bogdal den Ursprung des schreibenden Ich bei Bernhard als dessen Ursprungslosigkeit (vgl. S.179), was zur Erstattung der Psychologie durch den Akt des Schreibens führe. Identität setze bei Bernhard Todesüberwindung, also Nicht-Leben und Nicht-Identität voraus (vgl. ebd., S.180 f.). Die Selbsterkenntnis des geschriebenen Ich sei in Bernhards Selbstzeugnissen ohnehin nicht sprachlich vermittelbar, sondern lediglich privatsprachlich begrenzt und damit solipsistisch. Indem die erzählerischen Elemente dargestellten Lebens systematisch dekomponiert würden, hätten sich die autobiographischen Texte Bernhards rückhaltlos zur fiktionalen Literatur bekannt. Bezugnehmend auf das Titelbild der Anthologie, das Trompe-l'oil-Gemälde einer Treppe, 4 vergleicht Bogdal Bernhards Autobiographie mit einer Blindtür, die vermeintlich ins Leben, in Wahrheit aber in die Textwelt führe.

Die ästhetisch-erotische Blendung bei Klaus Mann

Das letzte Beispiel der Artikelserie zum Autoren-Subjekt trägt die Überschrift "KUNSTMACHTEROTIK" und behandelt die Relation dieser Titelbegriffe in Texten Klaus Manns, insbesondere im Roman Mephisto (1936) und in den Erinnerungen Der Wendepunkt (1942). Diese gründlichste "Text-" und "Autor-Subjekt"-Analyse des Bandes fragt nach dem ästhetischen Zusammenhang zwischen erotischer und banal-böser Verführung und nach dem Verhältnis der Moderne zu Faschismus respektive Antifaschismus.

Bogdal resümiert:

Antifaschismus, das wird in Mephisto erzählt, vermag zwar zu einer Ethik zurückzuführen und die Kunst vor der Banalität und dem falschen Rausch bewahren. Aber als Tendenz zur Homogenisierung [als Normalisierung des Heterogenen, AW] droht er sie von ihrem Ursprung, der Erotik, zu entfremden. Für Klaus Mann stellt sich nur die Alternative, weiterhin mit der Gefährdung zu leben oder das Terrain der Moderne zu verlassen (ebd., S.209).

Damit ist der vorläufige Höhepunkt in der Entwicklungsreihe des in Frage gestellten modernen Autor-Subjekts bzw. der allgemeinen Krise der Subjektkonstituierung erreicht.

Literaturvermittlung unter veränderten Voraussetzungen

Im letzten Themenblock über literaturdidaktische Applikationen hält Bogdal in "Bildungsprozesse und Literatur: Subjektwerdung in der Moderne" (ebenfalls 1999) ein Plädoyer für die Revision der Literaturdidaktik. Die "kulturelle Leistungsfähigkeit" von Literatur sei keineswegs erschöpft, aber die "altbewährten Individualisierungsversprechen" (ebd., S.225), die eine literaturgestützte Persönlichkeitsbildung bei "richtiger Lektüre" in Aussicht stellten, seien obsolet geworden. Sie würden in verschiedenen elitären Topoi einer selbstverwirklichenden Lektüre weiterhin gepflegt, insbesondere von der kleinen, bildungstragenden Lesergruppe, die über Gang 1 der >Klimaanlage< mit Texten beliefert werde und den Kanon mitkontrolliere.

Interessanterweise setzt sich der von Bogdal und Clemens Kammler herausgegebene Band (K)ein Kanon. 30 Schulklassiker neu gelesen (München: Oldenbourg 2000) mit dem schulischen Kanon von Emilia Galotti bis Das Parfüm sowohl kritisch als auch affirmativ auseinander. Verwunderlich allerdings, dass kein Text aus dem Zeitraum 1985 bis 2000 besprochen wurde. Nicht kanonwürdig oder in der literarischen Beliebigkeit nicht mehr auffindbar? Sitzen die 29 Kanonanalytiker womöglich in Gang 1 der >Klimaanlage< fest? Beinahe alle Besprechungen der Klassiker enden nämlich mit einer Empfehlung zur Schullektüre.

"Diskursbewusst" lesen und unterrichten

Ein auf die Bildung einer kritikfähigen und lesemündigen Gemeinschaft abzielender Literaturunterricht droht Bogdal zufolge anachronistisch zu werden. Schwierig zu erschliessen ist allerdings, wie die Historische Diskursanalyse für den Literaturunterricht jenseits des Kanonverzichts im einzelnen und konkret fruchtbar gemacht werden soll.

"Keine Scheu vor dem Duplikat", wird verkündet, Offenheit und Sensibilität für populärkulturelle Phänomene – diesen Forderungen wird mit einer Lobpreisung von Patrick Süskinds Roman Das Parfüm (1985) als Unterrichtslektüre Nachdruck verliehen (">Mein ganz persönlicher Duft<. Individualisierung als literaturdidaktisches Programm?" IV, 2). Weltanschauliche und ethische Orienterierungen könnten höchstens implizit im Rahmen des Literaturunterrichts vermittelt werden, und der "Geständnis-Imperativ der Interpretation" (ebd., S.237) als zählebige Konsequenz des hermeneutischen Zugangs sei nachdrücklich abzulehnen.

Bogdal fragt polemisch, ob nicht die Schule selbst zu einem ">Simulacrum< einer in dieser Form nicht mehr existenten demokratischen Gesellschaft" geworden sei ("Literaturunterricht im Zeichen der Postmoderne", E: 1993, S.238). Hier mündet die theoretisch-terminologische Konsequenz vielleicht doch in einen koketten oder resignativen (?) Zirkelschluss, der nicht gerade Hoffnung in Seminarräumen und Klassenzimmern, sondern den trendgerechten >Duft< fröhlicher Beliebigkeit verbreitet.

Dennoch spricht sich der Pädagoge Bogdal im Schlussabschnitt seines Sammelbandes für eine Individualität der "lesenden Subjekte" aus, die Beliebigkeit verhindere, und für eine Kollektivität, die der Gleichgültigkeit entgegenwirke (vgl. ebd., S.245). Hiermit würde das Projekt der "Subjektwerdung in der Moderne" transformiert in eine konstruktions- und geschichtsbewusste Positionierung der Leserin/des Lesers als "individuelles und kollektives Subjekt" (ebd.) in der Postmoderne.

Es ist also weniger eine Methode der Historischen Diskursanalyse selbst, die Bogdal auf den Unterricht übertragen will, sondern eher ist ihm als Wissenschaftler und Pädagoge daran gelegen, das Bewusstsein für die Diskursregulierung, -grenzen, -praktiken sowie die Problematisierung der Begriffe Autor, Werk und Biographie dem Neuentwurf einer Literaturpädagogik als Präambel voranzustellen. Ebenso wie in der Literaturwissenschaft müssen auch im Unterricht die "historischen Konstituierungsbedingungen von Sinn und Repräsentation" (ebd., S.37) reflektiert werden. Diese guten Vorsätze machen gespannt auf Bogdals im September 2001 bei dtv erscheinenden Band Grundzüge der Literaturdidaktik.

Im Gebläse

Den Unterrichtenden kann also – so weit die persönliche Schlussfolgerung der Rezensentin – empfohlen werden, den dritten Gang der Klimaanlage auf die lesenden Schüler und Studierenden zu richten und und für eine gute Belüftung mit verschiedenartigsten Texten zu sorgen.

Als vereinfachtes Fazit für die Literaturvermittlung im Sinne der Historischen Diskursanalyse lässt sich aus Bogdals Darstellung ableiten: Literarische Texte sind als Diskursfragmente zu "interpretieren" und zu "deuten", ohne dass dabei überkommene hermeneutische Positionen einzunehmen wären.

Dass eine Autorin oder ein Autor heutzutage keine selbsterwählten Dichter sind, und dass der aktuelle Literaturbetrieb im Zeitalter der Intermedialität und Intertextualität keine geschlossenen Werke hervorbringt, wird Lesenden und Lernenden rasch einleuchten. Es bleibt allerdings die Frage, ob die Unterrichtsteilnehmer nicht einen – von der >Klimaanlage< festgelegten, individuellen oder kollektiven Kanon mitbringen, der als Massstab der individuellen oder kollektiven Diskurserwartung ebenfalls berücksichtigt und thematisiert werden sollte.

Auf diesen Aspekt nimmt der erwähnte Interpretationsband (K)ein Kanon ebensowenig Rücksicht – nicht zuletzt aus kommerziellen Gründen, weil der Oldenbourg-Verlag seine Erläuterungen, Lehrer-Handreichungen und Interpretationshilfen zu den Schulklassikern natürlich werbewirksam vermarktet. Die Diskursinstitution Schulbuchverlag hat sich dabei nicht unwesentliche Anteile der "Autor-Funktion" angeeignet.


Antje Wischmann
Södertörns högskola
Box 4101
S-14104 Huddinge
Schweden

Ins Netz gestellt am 29.05.2001

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Anmerkungen

1 Der erste Gang wird mit den in den Bereichen Bildung und Kultur tätigen Lesern assoziiert. Der zweite Gang liefert eine sensationsheischende Literatur, die dem Enthüllungsjournalismus verwandt ist. Der vierte Gang umfaßt eine hedonistische Lektüre im Zeichen der >Erlebnis-Industrie< und wird besonders stark ausgebaut, und der vierte Gang liefert gewaltverherrlichende Literatur wie neonazistische Texte. Gang 4 und 5 haben nichts mehr mit dem »>Klima< einer literarischen Öffentlichkeit« (ebd., S.114) gemeinsam.   zurück

2 Eine zum Teil unterhaltsame Re-Lektüre der DDR->Produktionsliteratur< bietet der Beitrag »Technikliebe – Liebestechnik. Die >Produktivkraft Mensch< in der frühen DDR-Literatur» (E: 1998), dies einer der eher feuilletonistischen Texte. Auch der knappe Beitrag »Wer darf sprechen? Schriftsteller als moralische Instanz« (E: 1991) befaßt sich mit der DDR-Literatur und variiert eines der Leitthemen des Bandes, die Legitimierung der Autorinstanz.   zurück

3 Zu diesem Themenkomplex siehe Rolf Parr: Interdiskursive As-Sociation. Studien zu literarisch-kulturellen Gruppierungen zwischen Vormärz und Weimarer Republik. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Band 75) Tübingen: Niemeyer 2000.   zurück

4 Dieses Titelbild ist insofern interessant und vielsagend für Bogdals Sammelband, weil es die mehrfach angesprochene postmoderne Simulationsthematik historisch auf den Illusionismus zurückführt. Indem diese Kontinuität aufgezeigt wird, deutet sich bereits das Postulat einer Vereinbarkeit von (revidierter) Hermeneutik und Diskursanalyse an.   zurück