Wizisla über Yun: Benjamin als Zeitgenosse Brechts

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Erdmut Wizisla

Paradox bleibt paradox.
Studie über Benjamin und Brecht
trägt nicht zur Aufhellung bei

  • Mi-Ae Yun: Walter Benjamin als Zeitgenosse Bertolt Brechts. Eine paradoxe Beziehung zwischen Nähe und Ferne (Palaestra; 309) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000. 150 S. Kart. € 44,00.
    ISBN 3-525-20582-1.


Kommentar als Distanzierung

Bereits der Titel der Studie – eine leicht überarbeitete Göttinger Dissertation aus dem Jahr 1997 – zeigt die Perspektive an: Es ist Benjamins Position, die anhand seiner Texte über Brecht genauer konturiert werden soll. Und der Untertitel liefert mit dem Stichwort >paradox< auch gleich eine Lesart der Beziehung zwischen Benjamin und Brecht.

Die Verfasserin geht von der Selbstinterpretation Benjamins aus, wie dieser sie etwa in einem Brief an Gretel Adorno von Anfang Juni 1934 formuliert hat. Sein Leben und Denken, hatte Benjamin dort gesagt, bewege sich "in extremen Positionen"; er könne "Dinge und Gedanken, die als unvereinbar gelten, neben einander" bewegen. 1 "Benjamins Denkverfahren, auseinanderstrebende Motive zu verknüpfen", schließt Yun daran an, "erschwere einen systematischen Zugriff" (S.9). Die Arbeit stellt sich dieser Herausforderung. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, "dem schwer auflösbaren Zusammentreffen von scheinbar entlegenen Denkmotiven nachzugehen, das sich in Benjamins Texten je spezifisch niedergeschlagen hat" (S.16). Im Zentrum der Arbeit stehen Benjamins Brecht-Kommentare (ebd.).

Mi-Ae Yuns Ausgangsthese akzentuiert Benjamins Eigenständigkeit, ja seine Distanz zu Brecht. Das ist angesichts der immer noch verbreiteten, auf Adorno zurückgehenden Vorurteile, Benjamin habe im Hinblick auf Brecht auf jede Kritik verzichtet, durchaus vielversprechend, wenn auch nicht neu:

Benjamin betrachtet Brechts Werk vom Standpunkt seiner eigenen Fragestellungen aus. Daraus hat sich eine Interpretation ergeben, die mit den Intentionen des Dichters schwer zu vereinbaren ist. [...] Insgesamt zeugen Benjamins Brecht Kommentare weniger von einer kritiklosen Aneignung von Brechts Denken und Schreiben als vielmehr von einer Distanznahme. (S.17)

Freilich verhindert die Methode der Arbeit, daß die These bewiesen werden kann.

Anlage und Ergebnisse

Mi-Ae Yun konzentriert sich auf folgende Problemstellungen:

  • "Technisierung der literarischen Produktion" (Kapitel 2)

  • "Geste und Mimesis" (Kapitel 3)

  • "Forschrittskritik und Dialektik" (Kapitel 4)

  • "Kommentare zu Gedichten von Brecht" (Kapitel 5)

Damit nimmt sie Untersuchungsgegenstände der jüngeren Forschung zu Benjamin und Brecht auf und setzt auch partiell neue Akzente. 2

Im dritten Kapitel konfrontiert Yun ertragreich Benjamins Aufsatz "Was ist das epische Theater?" (1931) mit der "Lehre vom Ähnlichen" und dem Text "Über das mimetische Vermögen". Benjamins Interesse an der Geste lasse sich sprachtheoretisch erklären (S.50). Ob freilich Benjamin mit der Einsicht in die gesellschaftsanalytische Qualität des Gestischen dem Stückeschreiber vorausgegangen sei, wie die Verfasserin annimmt (cf. S.56), darf bezweifelt werden. Aufschlußreich ist die Darstellung der Beziehungen zwischen Benjamins Kafka- und seiner Brecht-Interpretation. Bei beiden falle die gestische Prägnanz auf (cf. S.66). Mit Begriffen wie "Versuchsanordnung" bemühe sich Benjamin, einen Brückenschlag zwischen Kafka und Brecht zu vollziehen (cf. ebd.).

Yun analysiert die Differenzen zwischen den Erkenntnisformen Benjamins und Brechts. Die Abweichung zeige sich besonders dort, wo die Art und Weise der Vermittlung zur Diskussion stehe: "Bei Benjamin kommt eine dialektische Erkenntnis im Zuschauer durch Schock zustande, während es Brecht um kritische Reflexion geht" (S.89). Indem Benjamin die Erkenntnisform, die auf der Traumdeutung beruhe, auf die Interpretation des epischen Theaters übertrage, gelange er "zu einer Interpretation, die der Intention des Stückeschreibers nicht ganz kompatibel erscheint" (cf. ebd.). Mag man das noch anregend finden, so wirkt die Definition der benannten Differenz der Erkenntnisformen schematisch: Es handele sich um einen "Unterschied zwischen operativer, mit Reflexion verbundener Dialektik und konstellativer, geschichtsphilosophisch motivierter Dialektik, der Dialektik als Erkenntnisform" (S.98).

Problematische Methode

Hier wie an anderen Stellen treiben allerhand Klischees ihr Unwesen. Mi-Ae Yun hat es leider versäumt, sie zu destruieren. So sollte in einer solchen Arbeit einfach nicht mehr davon die Rede sein, Brecht habe sich den Arbeiten Benjamins gegenüber "nur wenig aufgeschlossen" gezeigt (S.18, ähnlich auch S.109). Das kann man nur behaupten, wenn man Dokumente ignoriert oder mißverstehen will. Ebenso wenig trifft es zu, daß Benjamins Schriften davon zeugten, ihm habe "Wirkung im Sinne von Resonanz in der Öffentlichkeit" fern gelegen (S.9). Abstrus ist schließlich – die Beispiele ließen sich fortsetzen – die Aufnahme des Urteils, Brecht sei der dialektische Denker im Sinne von Adornos Negativer Dialektik (S.80) – das wird auch nicht besser, wenn Yun sich dabei auf Hans Mayer und Jan Knopf bezieht.

Was aber die Lektüre des Buches insgesamt unerquicklich macht, ist ein grundsätzliches methodologisches Defizit: Die Arbeit beschränkt sich über weite Strecken aufs Paraphrasieren, wobei Zitate aus Benjamin, Brecht und der Sekundärliteratur oft nicht aufeinander bezogen sind. Die Verfasserin läßt im unklaren, wer spricht, warum etwas referiert, wie es akzentuiert wird (cf. S.27ff.). Sie deckt ihre Erkenntnisinteressen nicht auf. Darüber hinaus finden unmotivierte Perspektivwechsel statt und zuweilen ändern sich mitten im Abschnitt Thema, Fragestellung, Blickwinkel oder Zeit. Häufig sind dann die Ergebnisse selbstreferentiell: Eine These wird statt durch Belege durch Folgerungen aus der ursprünglichen Annahme gestützt. Auf diese Weise verliert vor allem das eigentlich zentrale fünfte Kapitel an Gewicht, auch in der Schlußbemerkung (Kapitel 6) überwiegen Floskeln.

Diesen grundsätzlichen Mängeln korrespondieren zahllose Ungenauigkeiten und Fehler sachlicher, biographischer und bibliographischer Art. Sie sind hier nicht zu berichtigen. 3 Das Verhältnis von Text und Fußnote ist häufig problematisch, indem unzulässige Einschränkungen gemacht oder Ergänzungen vorgenommen werden, die in den Text gehörten. 4 Zur Zitierweise nur so viel: Brecht sollte heute in einer wissenschaftlichen Arbeit nicht mehr nach der Werkausgabe von 1967 zitiert werden. 5 Ebenso hätte eine 1997 verteidigte und 2000 erschienene Dissertation die Ausgabe der "Gesammelten Briefe" Benjamins (1995–2000) heranziehen müssen.


Dr. Erdmut Wizisla
Stiftung Archiv der Akademie der Künste
Bertolt-Brecht-Archiv
Chausseestraße 125
10115 Berlin

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Anmerkungen

1 Walter Benjamin: Gesammelte Briefe (Theodor W. Adorno Archiv; IV, Hg. v. Christoph Gödde u. Henri Lonitz) Frankfurt / M.: Suhrkamp 1996, S.440 (Brief Nr. 873).   zurück

2 Inez Müller: Walter Benjamin und Bertolt Brecht. Ansätze zu einer dialektischen Ästhetik in den dreißiger Jahren (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft; 40) St. Ingbert: Röhrig 1993; Rainer Nägele: Lesarten der Moderne. Essays. Eggingen: Isele 1998; Detlev Schöttker: Konstruktiver Fragmentarismus. Form und Rezeption der Schriften Walter Benjamins (stw; 1428) Frankfurt / M.: Suhrkamp 1999; Alexander Honold: Der Leser Walter Benjamin. Bruchstücke einer deutschen Literaturgeschichte. Berlin: Vorwerk 8 2000. [Vgl. die Rezension von Claudia Albert in IASLonline: http://www.iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/albert3.html]; Nikolaus Müller-Schöll: Das Theater des "konstruktiven Defaitismus". Lektüren zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller (nexus; 59) Frankfurt / M. u.a.: Stoemfeld 2002. – Im nächsten Jahr erscheint die Buchausgabe meiner Dissertation aus dem Jahr 1993: Walter Benjamin und Bertolt Brecht. Die Geschichte einer Freundschaft (stw; 3454) Frankfurt / M.: Suhrkamp (in Vorbereitung).   zurück

3 Drei von vielleicht drei Dutzend Beispielen:

  • Yun führt aus, daß die Gegenüberstellung von Brecht und Kästner, die Benjamin in "Linke[r] Melancholie" vornimmt, "nicht ursprünglich auf Benjamin", sondern auch Karl Thieme zurückgehe (S.108). Nun erschien jedoch Thiemes Aufsatz "Des Teufels Gebetbuch?", den Yun als Beleg anführt, erst im Februar 1932, während Benjamins Besprechung bereits am 11. Oktober 1930 vorlag.

  • Brechts Journal-Notiz "alles Mystik, bei einer Haltung gegen Mystik" wird erneut als Urteil über den "Kunstwerk"-Aufsatz bezeichnet – und damit als Beleg dafür, daß Brecht sich Benjamins Arbeiten gegenüber "nur wenig aufgeschlossen" gezeigt habe (S.18). In der Forschung besteht mittlerweile Konsens (Kambas, Hartung, Fürnkäs), daß diese Zuschreibung, die auf die Herausgeber der "Gesammelten Schriften" zurückgeht, falsch ist. Ein entscheidendes Indiz für Brechts positive Haltung zu Benjamins Studie dürfte die gemeinsame redaktionelle Arbeit sein, die im August 1936 in einer kritischen, aber produktiven Atmosphäre in Skovsbostrand stattfand.

  • Die Publikation der "Kommentare zu Gedichten von Brecht" im "Wort" sei "aus einem Honorargrund" unterblieben (S.109). Tatsächlich hatte die Zeitschrift, als Benjamin das Manuskript am 20. März 1939 an Steffin und Brecht sandte, sein Erscheinen bereits eingestellt.   zurück

4 Cf. etwa S.18 (Fn 47), S.23 (Fn 74) oder S.96 (Fn 81). Die Fußnote 6 auf S.109 gibt einen Verweis auf eine nicht existierende Anmerkung 46.   zurück

5 Das ist zulässig, wenn die Werkausgabe sich für eine andere Fassung als die Berliner und Frankfurter Ausgabe entschieden hat. Andernfalls entstehen vermeidbare Fehler, da auf einen veralteten Forschungsstand zurückgegriffen wird. Ein Beispiel: Das nach den "Gesammelten Werken" zitierte "Interview" sei "nicht datierbar", heißt es auf S.22 (Fn 65), obwohl es schon dort zumindest einem Zeitraum, nämlich den Jahren 1933 bis 1939, zugeordnet war. Der Berliner und Frankfurter Ausgabe zufolge ist das "Interview" vermutlich 1933 entstanden.   zurück