
- Wolfram Groddeck (Hg.): Gedichte von Rainer Maria Rilke. (Universal-Biliothek 17510; Literaturstudium: Interpretationen) Stuttgart: Reclam 1999. 248 S. Kart. DM 12,00.
ISBN 3-15-017510-0.
Der in der Reclam-Reihe "Literaturstudium: Interpretationen" erschienene Band Gedichte von Rainer Maria Rilke bietet insgesamt zwölf Texte über zwölf Gedichte Rainer Maria Rilkes, nämlich über Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn (von Marianne Schuller), Fortgehn (von Werner Hamacher), Das Karussell (von Silvia Henke), Orpheus. Eurydike. Hermes (von Thomas Schestag), Archaïscher Torso Apollos (von Wolfram Groddeck), Der Blinde (von Roger W. Müller Farguell), An Hölderlin (von Rainer Nägele), Die achte Elegie (von Wolfram Malte Fues), Die zehnte Elegie (von Barbara Indlekofer), Sieh den Himmel. Heißt kein Sternbild >Reiter<? (von Wolfram Groddeck) und Atmen, du unsichtbares Gedicht! (von Kathy Zarnegin).
Interpretation versus Lektüre
Eine "Vorbemerkung" des Herausgebers macht schon recht deutlich, in welchem Sinne in diesem Band das Stichwort "Interpretationen" verstanden werden soll. Üblicherweise gehört es zur Bedeutung des literaturwissenschaftlichen Ausdrucks "Interpretation", daß der Vorgang der Erklärung, Auslegung oder Deutung eines Textes bzw. das Ergebnis einer Erklärung, Auslegung oder Deutung "keine subjektiv-willkürliche Meinungsäußerung" sei, sondern unterschiedlichen, mehr oder weniger klar umrissenen Regeln folge, "die durch die jeweilige Interpretationstheorie vorgegeben werden", 1 um dabei und dadurch eine Bedeutungszuweisung vorzunehmen, die einen allgemeinen Anspruch auf Gültigkeit oder Adäquatheit erhebt und über das bloße Verstehen ebenso wie über die bloße Paraphrase hinausgeht. 2 Eine >traditionelle Literaturwissenschaft< verbindet mit dem Stichwort "Interpretation" das methodisch kontrollierte und überprüfbare literaturwissenschaftliche Bemühen um ein (allgemeines) >besseres Verständnis< literarischer Texte (und nicht um ein individuelles besseres Verstehen). 3
Um Interpretationen, die auf ein besseres Verständnis ausgerichtet sind, geht es in dem vorliegenden Band nach Ausweis der Vorbemerkung nun allerdings nicht, hier geht es vielmehr um besseres Verstehen wenn überhaupt. Der gemeinsame Ansatz der Autoren des Bandes wird von der Erfahrung im Umgang mit Rilkes Gedichten hergeleitet, "daß jedes Gedicht jedesmal neu in der Lektüre entdeckt werden will und den Leser und seine Kunst des Lesens immer wieder auf die Probe stellt" (S. 7). Die Interpreten des Bandes wollen denn auch zunächst einmal nichts anderes als "Rilkes Gedichte lesen" (ebd.), wobei sich hinter dem emphatisch kursivierten Verb zum einen die theoriegeschichtlich ältere "Kunst des Lesens", zum anderen aber auch die theoriegeschichtlich jüngere "Lektüre" verbergen kann, in vielen Fällen auch eine Mischung dieser beiden Ansätze, die einander ja im Prinzip widersprechen: Ist die "Kunst des Lesens" ein grundsätzlich interpretationsoptimistischer Ansatz, so handelt es sich bei der "Lektüre" um einen interpretationskritischen; ist zum einen von einer Ausprägung der werkimmanenten Interpretationsmethode zu sprechen (als deren wichtigste Vertreter im deutschsprachigen Raum man wohl Emil Staiger oder auch Wolfgang Kayser wird nennen dürfen), so ist im anderen Fall von einem poststrukturalistischen Ansatz zu sprechen (als dessen wichtigste Vertreter, deren Namen im vorliegenden Buch auch mehrfach genannt werden, Jacques Derrida und Paul de Man erscheinen).
Die Vorbemerkung benennt als das Gemeinsame der vorliegenden "Interpretationen", daß "das Gedicht nicht als Beleg für übergeordnete Erkenntnisse verwendet, sondern vielmehr als Medium der literaturästhetischen Selbstbesinnung begriffen" werde (S. 7). Es gehe den Autoren "nicht um allgemeine Feststellungen über Dichter, Werk, Epoche, nicht um Einordnung, sondern um die Suche nach neuen Lektüreverfahren zwischen den Zeilen des Textes, es geht ihnen um Auswege aus der immer drohenden Gefahr einer sterilen Verortung von Literatur" (S. 7f.) Daher erkläre sich auch eine gewisse Vorliebe der Autoren für das Genre des "Interlinearkommentars".
Das muß man wissen, wenn man zu diesem Band in der Reihe "Literaturstudium: Interpretationen" greift: Mit und in ihm ist die literaturwissenschaftliche Postmoderne im Reclam-Verlag angekommen. Der Band präsentiert sich eigentlich unverhüllt als interpretations- und als rationalitätskritisch, und man muß sich fragen, weshalb einen eigentlich die private "literaturästhetische Selbstbesinnung" einiger Damen und Herren sowie ihre "Suche nach neuen Lektüreverfahren" interessieren sollte, wenn man doch etwas wissenschaftlich Haltbares über Gedichte Rilkes erfahren möchte. Mag sein, daß sich manche Leser gerade von diesem Affront gegen einen literaturwissenschaftlichen Zugriff zur >Lektüre< der hier versammelten Beiträge bewegen lassen, mag sein, daß sich manche Leser auch trotz dieses Affronts die Texte etwas genauer ansehen nach Tische liest's sich jedenfalls anders als davor, die Texte halten nicht durchweg alle, was die Vorbemerkung verspricht. Vielmehr ist die Ausrichtung und Qualität der Beiträge sehr unterschiedlich, neben literaturwissenschaftlich gelegentlich sogar vorzüglichen Interpretationen oder Interpretationsansätzen (die man deshalb als vorzüglich bezeichnen kann, weil sie wissenschaftliche Standards keineswegs vermissen lassen, und die man darüber hinaus zu Recht als Interpretationen bezeichnen kann, weil sie auf der Basis literaturwissenschaftlichen Metiers jeweils ein Verständnis des untersuchten Textes anbieten) finden sich auch veritable Lektüren, die einem literaturwissenschaftlich gebildeten Leser manche Schwierigkeit bereiten, sowie Mischformen von Interpretation und Lektüre. Für alle drei Niveaus werde ich im folgenden jeweils ein exemplarisches Beispiel eingehender besprechen.
Interpretation
Ich beginne mit dem Typus "Interpretation". Wer tatsächlich eine Interpretation in einem eher traditionellen Sinn sucht und den Band hier von seiner besten Seite kennenlernen möchte, der sollte Wolfram Groddecks Beitrag mit dem Titel "Kosmische Didaktik. Rilkes >Reiter<-Sonett" lesen (S. 204-228). Dieser Text ist in gewisser Weise der konservativste des Bandes (man könnte auch sagen: handwerklich solideste), und das mag vielleicht auch daran liegen, daß es sich hier um einen leicht überarbeiteten Neudruck eines bereits 1993 erschienenen Kolloquiums-Beitrags von Groddeck handelt. 4 Groddecks Interpretation befaßt sich mit dem elften der Sonette an Orpheus (I.11), dessen erste Zeile lautet "Sieh den Himmel. Heißt kein Sternbild 'Reiter'?".
Den Ausgangspunkt für Groddecks Argumentation bildet August Wilhelm Schlegels Begriff des Sonettes, 5 mit dem das Sonett als regelbestimmte Form und zugleich als "Denkform", wie Groddeck das nennt, erfaßt wird. Kein einziges der Sonette erfülle die nach Schlegel "notwendigen Regeln" des Sonetts genau, das führe aber dazu, daß man leicht übersehe, wie sehr der Schlegelsche Begriff des Sonetts als Denkform in den Sonetten an Orpheus reflektiert werde: "Denn manche Formelemente, die Schlegel zur Bestimmung des Sonetts anführt, erscheinen in den Sonetten an Orpheus als Themen" (S. 206). Insbesondere die von Schlegel dem Sonett zugeschriebene Stellung "auf dem Übergang vom lyrischen und didaktischen" interessiert Groddeck als ein Detailproblem, das er am Beispiel von Sieh den Himmel... behandelt. Mit Hilfe einer metrischen Analyse bestimmt er nun Rilkes Sonett als ein "Lehrgedicht", dessen eigentlicher Gegenstand der "Begriff der Trennung" sei.
Groddecks weiteres Vorgehen besteht in einem minutiösen close reading, das er als "rhetorisch analytische Lektüre des Gedichts" (S. 209) bezeichnet. Diese Lektüre geht von der Annahme aus, daß wir es in dem Sonett mit strikter Autoreferenzialität zu tun haben; erst im Anschluß an seine Lektüre stellt sich Groddeck der Frage, ob das Gedicht über seine "reine Selbstbezüglichkeit hinaus Referenzialität" (S. 209) zulasse.
Immer wieder überschreitet Groddeck die selbstgewählten Grenzen einer genauen metrischen und stilistischen Analyse und zieht Aspekte der Werkumgebung heran. So werde durch den Anfang des im Zyklus unmittelbar folgenden Gedichtes (I.12) "deutlich, daß der Text eines einzelnen Sonetts nur bedingt aus sich heraus verstanden werden kann" (S. 216). Das elfte Sonett, dieses "Lehrgedicht vom Trug der >sternischen Verbindung<" (eine Formulierung aus der zwölften Zeile des Sonettes Sieh den Himmel...) sei nämlich eine "Voraussetzung" für die "not-wendig hymnische Bejahung der >Figur< in der zyklischen Konstellation der Sonette" (S. 216f.; das zwölfte Sonett beginnt mit den Zeilen: "Heil dem Geist, der uns verbinden mag:/ denn wir leben wahrhaft in Figuren.").
Groddeck zählt aus, daß das Wort "Stern" in dem Sonett-Zyklus genau sieben Mal vorkomme. Dies erscheint ihm als ein Effekt der poetischen Selbstorganisation des Zyklus (auch wenn er einräumt, daß es sich um einen puren Zufall handeln könnte). Groddeck ist also bereit, dem Zyklus größte Binnenstrukturierung und Geschlossenheit zuzugestehen, so daß selbst die Vorkommenshäufigkeit des Stichworts "Stern" bedeutungskonstitutiv für den Zyklus als ganzen wie auch für die einzelnen Gedichte ist. Mag man dies als eine wagemutige Hypothese betrachten, die sich an einer Marginalie festmacht, so ist es doch immerhin eine Hypothese, die in aller Klarheit einer literaturwissenschaftlichen Argumentation ausgesetzt wird (und damit weder dem interpretationskritischen noch dem rationalitätskritischen Affekt anderer Beiträge des Bandes nachgibt).
Weil Groddeck nun einmal die Vorkommenshäufigkeit von "Stern" für einen Effekt der poetischen Selbstorganisation des Zyklus halten möchte (der Leser seines Beitrags aber natürlich die Freiheit hat, diese Position etwa mit Blick auf Entstehungsumstände des Zyklus als spekulativ zurückzuweisen), verfolgt Groddeck im weiteren Gang seiner Interpretation "das Erscheinen der Worte >Stern< und >Figur< im Text des Zyklus" (S. 217). Ergänzend greift Groddeck auch auf die Duineser Elegien zurück, insbesondere auf deren neunte, in der ebenfalls von "Sternen" und dem "Reiter" die Rede ist. Groddecks immer eindringliche Textanalysen führen abschließend mit Blick auf den gesamten Zyklus zu der Frage nach der "Referenz" zu einem "Sternbild >Reiter<":
Das Wort >Stern<, stellten wir fest, erscheint in den Sonetten an Orpheus genau sieben Mal. In einer strikten poetologischen Lektüre ließe sich daraus schließen, daß das >namenlose Sternbild< als Teil eines <Siebengestirns< zu begreifen ist. Als >Siebengestirn< wurden von der Antike an entweder die >Pleijaden< oder aber der >Große Wagen< bezeichnet. In der Poesie ist das >Siebengestirn< das literarischste aller Sternbilder (S. 226).
Als Beleg für diese kühne Behauptung wird eine Passage aus Mallarmés Gedicht UN COUP DE DÉS angeführt, nicht jedoch die Frage erörtert, warum etwa der "Große Bär" (der ja bekanntlich für Ingeborg Bachmanns lyrische >Anrufung< eine Rolle spielt), weniger >literarisch< sein soll, warum die Sternbilder >Fische< und >Schütze< und >Steinbock> und >Wassermann<, die von den wallensteinischen Planeten Jupiter und Saturn beherrscht werden, weniger literarisch sein sollen, warum der >Krebs<, an dessen Wendekreis man in literarischen Zusammenhängen denken könnte, weniger literarisch sein soll; die Beispiele für das Vorkommen von Sternen und Sternbildern in der Literatur von der Antike bis in die Gegenwart ließen sich beliebig vermehren, so daß sich die Frage aufdrängt, was Groddeck hier eigentlich mit "literarisch" meint. Weiter ist unklar, warum Groddeck nun von einer "strikten" Lektüre spricht, wo er doch offensichtlich nur auf eine hübsche Idee gekommen ist, schließlich erscheint es mindestens metonymisch schief, von einer "poetologischen Lektüre" zu sprechen, wo es um eine Analyse der Poetik des Zyklus geht.
Wie auch immer, gegen Schluß seines Textes nimmt sich Groddeck Freiheiten, die er sich im Verlauf seiner interessanten und genauen Textanalyse kaum erlaubt hat, um zu der Pointe gelangen zu können, daß der Doppelstern Alkor und Mizar im Sternbild des "Großen Wagens" ein zweites Sternbild bildet, das auch den Namen "Reiterlein" trage. Das ist nun eine Pointe, die 1961 bereits von Beda Allemann gesehen und für das Verständnis des Gedichtes Sieh den Himmel... zurückgewiesen worden ist 6 gleichwohl, eine schöne Pointe, die allerdings den Schein der Lektüre über diese Interpretation wirft. Nicht in allen Punkten wird man der Interpretation Groddecks folgen wollen, seine genaue Analyse der Metrik und des Stils sowie der intelligente Einbezug des Kontextes, auf denen seine Interpretationen beruhen, bieten immerhin die Möglichkeit der literaturwissenschaftlichen Argumentation über die Adäquatheit der vorgelegten Deutung.
Lektüre
Anders verhält es sich bei den Beiträgen, die unzweideutig als Lektüren zu bezeichnen sind, die das Verstehen des Lesers vorführen, nicht aber das Verständnis des Textes erweitern.
Exemplarisch könnte man hier den Text von Werner Hamacher nennen: "Rilkes Fortgehn. Ein Kommentar" (S. 27-57). Der dreißig Seiten lange >Kommentar< führt ungefähr zu dem Ergebnis, daß der "Vers und das Gedicht, das sich in ihm kondensiert, als >Kommentar< zu seinem Verstummen" spreche (S. 57). Auf dem Weg zu diesem Ergebnis konfrontiert Hamacher den Leser immer wieder mit erstaunlichen Feststellungen, oft auch mit geradezu dunklen Formulierungen.
So entdeckt Hamacher etwa in Rilkes Gedicht einen "leeren jambischen Pentameter" (S. 47 u.ö.), der zwischen den Zeilen 18 und 19 liege: "Wie wenn ..../ (bin ichs zu sagen denn imstande"), so lauten die beiden Zeilen. "Leer" bedeutet bei Hamacher wohl so viel wie "im Gedicht nicht repräsentiert", "als Text nicht ausgeführt", "nicht vorhanden". Die fachmännisch klingende Bezeichnung "jambischer Pentameter" hängt wahrscheinlich mit dem Umstand zusammen, daß viele der Verse des Gedichtes fünfhebig jambisch reguliert sind, wie ja auch die beiden Zeilen 18 und 19 zusammengenommen als fünfhebig jambisch zu betrachten wären (und die Aufteilung dieses fünfhebig jambischen Verses als lyrische oder monologische Antilabe interpretiert werden könnte). Bei dem Stichwort "Pentameter" handelt es sich allerdings wohl um eine Verwechslung mit dem englischen "pentameter" bezeichnet man zwar einen fünfhebig jambischen Vers, "Pentameter" in der deutschen literaturwissenschaftlichen Terminologie bezeichnet hingegen einen sechshebigen daktylischen Vers. Möglicherweise hat Hamacher den Ausdruck "Pentameter" auch nur wörtlich genommen die Rede von einem "leeren jambischen Pentameter" erscheint jedenfalls so sinnvoll wie die Behauptung, zwischen den Zeilen der Hamacherschen Lektüre finde man "leere Prosa".
Viel zu denken geben auch die zahlreichen Anagramme, die Hamacher in Rilkes Gedicht entdeckt. So seien in den Zeilen "Draußensein im Grauen/ mit Augen, eingeschmolzen, heiß und weich" die Wörter "Augen" und "Grauen" einander nahezu perfekte Anagramme (S. 30f) aber eben nur nahezu; in dem Wort "Erde" entdeckt Hamacher ein "Anagramm der Rede" (S. 40, ein Wort, das in dem Gedicht nicht vorkommt, es handelt sich also gewissermaßen um ein >leeres Anagramm<), zudem haben "Erde" und die Wörter "Gärten" und "Gebärde", wie Hamacher richtig sagt, "die dominante Phonemgruppe gemein" (S. 40). Interessant erscheint auch bei näherer Betrachtung der Wörter "Vergleich" und "ist" in dem Gedicht Fortgehn, daß der Name von Rilkes Mutter "Entz" war. Das läßt sich nun ohne Frage "als das lateinische >ens<, als >Sein< verstehen"; und ">Rilke< konnte sich dem Übersetzer aus dem Englischen, der er war, ohne Aufwand in ein >like<, ein >gleich< und vielleicht >Leich< verwandeln" (S. 55).
Die Sensibilität für Anagramme geht einher mit einer entschiedenen Neigung zu Allegoresen: ">Fortgehn< heißt deshalb Fortgehn aus allem, was darüber gesagt werden könnte, in dies, daß es gesagt wird. >Draußensein im Grauen< heißt Draußensein in einer Sprache ohne Origo und ohne Objekt, ohne vorgängigen Sprecher, der ihre Bewegungen dirigieren, und ohne kognitiven Gegenstand, der ihr Anhalt bieten könnte", so heißt es gleich zu Beginn (S. 28), später dann wird ausgeführt: "Die Sprache dieser Verse stottert. Daß sie nicht von der Stelle kommt, heißt, daß das einmal Gesagte noch nicht hinreichend gesagt und im Sagen noch keine Wirklichkeit geworden ist. Wer stottert, spricht von einer Verwundung seiner Sprache, die sich mit jedem Heilungsversuch wiederholt" (S. 42f); sodann "Mit den Augen ist zugleich die Augen-Sprache der Reflexion, mit ihr die spekulare Sprache der Lyrik verletzt" (S. 44); und auch: ">Aus wie das Wie der Lieder< heißt: aus, wie das Wie aus ist" (S. 45). Ohne Frage: Hamachers Lektüre ist furios, und immerhin belegt sie den Einfallsreichtum ihres Verfassers.
Nicht anders verhält es sich etwa auch bei dem Text von Thomas Schestag über Orpheus. Eurydike. Hermes. Der Titel des Beitrags lautet "versi-" (S. 74-86), und er verblüfft sogleich mit den einleitenden Worten: "In Versen lesen. Wie geht das vor sich? Wie vor sich?" Schestag führt dies nun vor, meint, daß der "versierte Blick ["versi-"!] ins Gedicht, Wendung um Wendung" absteige "zum Grund, die Bedeutung des Ganzen, von dorther, zutage gebracht zu haben, begegnet in Orpheus, Eurydike und Hermes dem Emblem des Vorsatzes, der ihn bewegt und teilt" (S. 76), um schließlich die Frage zu lösen, warum >Eurydike< "zur Mitte des Titels" aussetze (S. 85, was immer diese Frage auch bedeuten mag). Die Antwort verbindet Schestag durchaus mit Hamachers Beitrag, denn er findet sozusagen >spekulare Anagramme<. Schestag schreibt: "In ihr [also Eurydike] passieren, unterbrechen zwei Namen, Anagramme fast, einander: RILKE und LYRIK. Sie ist, von dieser Mitte her, aufs Spiel gesetzt. Wer? Sie." (S. 85). Darauf wäre ich nicht gekommen.
Die mutwillige Dunkelheit mancher Formulierungen Schestags, die zur Deutbarkeit seines Beitrags nicht unwesentlich beiträgt, wird nur noch von dem Beitrag von Wolfram Malte Fues übertroffen (S. 157-180). Fues befaßt sich in seinem Text mit der achten der Duineser Elegien. Darin finden sich die schwierigen Zeilen: "Immer ist es Welt/ und niemals Nirgends ohne Nicht:/ das Reine, Unüberwachte, das man atmet und/ unendlich weiß und nicht begehrt". Solcher lyrischen Dunkelheit steht Fues nun nicht nach, wenn er erläutert:
Was man auch wahrnimmt, worauf man sich auch richtet: Immer ist es etwas, Inbegriff und Moment von Verneinung, Unterscheidung und Beziehung, Welt also, und niemals jenes ortlose Überall einer allseitigen und damit unüberwachbaren Augenblicklichkeit, in der die Negativität selbst nichtig wird. Niemals jenes unendliche Wissen, von dem das Wissen weiß, daß es nicht gewußt werden kann (weil Wissen aus Unterscheidung entsteht), um das es aber in allem Wissen letztlich geht, weil es jenseits des Begehrens liegt (Begehren setzt Verneinung, Versagung voraus) und alle Vermittlungsprozesse in reiner Unmittelbarkeit zuletzt wieder auflöst und beruhigt (S. 160f).
Ein schöneres Beispiel für ein verdunkelndes Polyptoton wird man so schnell wohl nicht finden.
Weitere Belege für die ambitiöse, verdunkelnde Manier in dem Text von Fues ließen sich so viele bringen, wie der Beitrag Sätze umfaßt. Es handelt sich vielfach um ein Raunen, bei dem sich nur schlecht sagen läßt, was hier an Substanz vorhanden ist. Nun ist es immer interessant, geistreichen und scharfsinnigen Leuten bei ihrer Arbeit respektive >Lektüre< zuzusehen, doch muß man sich darüber im klaren sein, daß man hier eben etwas über diese scharfsinnigen und geistreichen Leute, sozusagen über ihre kognitiven Strukturen erfährt, nichts oder nicht viel dagegen über Rilke (außer eben, zu welchen scharfsinnigen und geistreichen Assoziationen seine Gedichte manche Leute bringen können, was ja auch literaturwissenschaftlich nicht uninteressant ist).
Interpretation mit Lektüre
Einige Beiträge des Bandes verbinden auch die Manier der >Lektüre< mit dem Verfahren der werkimmanenten Interpretation, etwa so, wie dies Groddeck gegen Schluß seines Textes macht, nur gewissermaßen mit ausgewogenerem Mischungsverhältnis. Ein Beispiel hierfür bietet etwa der Beitrag von Marianne Schuller mit dem Titel "Gedicht Körper" (S. 12-25), der sich mit Rilkes Gedicht Lösch mir die Augen aus befaßt. An ganz solide metrische und stilistische Analysen knüpft Schuller eine ganze Reihe von Assoziationen, die sie allerdings auch ganz offen als "Assoziationen" (S. 16) bezeichnet. Diese machen gewissermaßen den Part der >Lektüre< aus, die sie zu dem Ergebnis führt, daß Rilke in seinem Text von der Unfaßbarkeit des Lebendigen im Gedicht schreibe (S. 25). Schullers Lektüre steht dabei also auf festen Füßen, und daß bloße Assoziationen angeschlossen werden, verbirgt sie immerhin nicht hinter allegorisch identifizierenden Prädikationen.
Daß das Verfahren einer Mischung von close reading und Lektüre nicht unbedingt zu immerhin diskutablen Ergebnissen führen muß, zeigt der Beitrag von Silvia Henke mit dem Titel "Kindheitsschwindel" (S. 59-70). Er befaßt sich mit Rilkes Gedicht Das Karussell, bleibt jedoch im werkimmanent-analytischen Part der ganzen Angelegenheit so unbedarft, daß man auch fast die fehlende Spekulationsfreude bei der >Lektüre< beklagen möchte.
Literaturstudium
Der Band, der mit "Bibliographischen Hinweisen" schließt (und dessen überwiegende Zahl der Beiträge ebenfalls "Literaturhinweise" bieten) ist nun insgesamt ganz ohne Frage interessant. Denn erstaunlicher Weise kann man sich nach dem Lesen der >Lektüren< nicht dem Eindruck verschließen, man verstehe die jeweils besprochenen Gedichte irgendwie besser. Die Frage, warum das so ist, gehört doch wohl auch in den Bestand einer eher traditionellen Literaturwissenschaft. Ich vermute, daß es die hohe Intensität ist, mit der allemal in einer Mischung von vermeintlich oder tatsächlich literaturwissenschaftlichem Zugriff und Assoziationen, die häufig von Marginalien ausgehen, die Gedichte in Augenschein genommen werden. Die Assoziationen werden so zu eigenen Verstehensmöglichkeiten oder bieten doch Sichtweisen, mit denen man sich als denkender Leser auseinandersetzen muß. Das angesprochene bessere Verstehen bleibt jedoch diffus und sozusagen ungesichert, eben weil es sich bei den >Lektüren< um private Selbstvergewisserungen der Autoren handelt, die zwar mit Signalen von Wissenschaft ausgestattet sind, letztlich aber in ihrem literaturwissenschaftlichen Zugriff viel zu unsicher bleiben.
Die Lektüren und Interpretationen selbst sind als solche lohnend, weil sie nun auch in einer >Volksklassiker-Reihe< einen Anlaß zur Reflexion über die Frage bieten, was Literaturwissenschaft eigentlich ist und was sie soll. Als Beiträge zur Rilke-Forschung sind sie jedoch nur mit Vorsicht zu nehmen. Studienanfänger und auch viele fortgeschrittenere Studenten dürften die problematische methodische Mischung der Beiträge nicht leicht durchschauen. Als Hilfen im Literaturstudium sind die Beiträge eigentlich nicht zu gebrauchen, denn sie gehen in vielen Fällen und an vielen Stellen zu weit; sie sind eigentlich nur einem fachlich schon versierten, einem fachlich schon urteilsfähigen Leser zuzumuten, und der dürfte sie nicht benötigen, weil nicht zuletzt auch das Verhältnis zwischen dem >Lektüre<-Aufwand der Beiträge und ihrem literaturwissenschaftlichem Ertrag nicht stimmt.
Prof. Dr. Rüdiger Zymner
Allgemeine Literaturwissenschaft
BUGH Wuppertal
Gaußstr. 20
D-42097 Wuppertal
Ins Netz gestellt am 24.07.2001

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Anmerkungen
1 Axel Spree: Interpretation. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2. Hg. v. Harald Fricke u.a. Berlin, New York 2000, S. 168-172, hier S. 169; siehe auch: Ders., Kritik der Interpretation. Analytische Untersuchungen zu interpretationskritischen Literaturtheorien. Paderborn 1995. zurück
2 Siehe Klaus Weimar: Text, Interpretation, Methode. In: Lutz Danneberg u. Friedrich Vollhardt (Hg.): Wie international ist die Literaturwissenschaft? Stuttgart, Weimar 1995, S. 110-122. zurück
3 Siehe hierzu Werner Strube: Die literaturwissenschaftliche Textinterpretation. In: Paul Michel u. Hans Weder (Hg.): Sinnvermittlung. Studien zur Geschichte von Exegese und Hermeneutik I. Zürich 2000, S. 43-69; siehe auch schon Ders.: Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft. Definition, Klassifikation, Interpretation, Bewertung. Paderborn 1993, bes. Kap. 5, 6 u. 7. zurück
4 Wolfram Groddeck: Kosmische Didaktik. Rilkes Orpheus-Sonett I 11: "Sieh den Himmel...". In: Jürgen Söring u. Walter Weber (Hg.): Rencontres Rainer Maria Rilke. Internationales Neuenburger Kolloquium 1992. Frankfurt a.M. 1993, S. 113-139. zurück
5 Vorlesung von A.W. Schlegel über das Sonett (1803/04). In: Heinrich Welti: Geschichte des Sonettes in der deutschen Dichtung. Leipzig 1884, S. 241-250. zurück
6 Beda Allemann: Zeit und Figur beim späten Rilke. Ein Beitrag zur Poetik des modernen Gedichts. Pfullingen 1961, S. 72. zurück
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