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Das Dilemma der Definition

Die literarische Phantastik zwischen
Gattung, Genre und Struktur

  • Clemens Ruthner / Ursula Reber / Markus May (Hg.): Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur. Tübingen: Francke 2006. 261 S. Broschiert. EUR (D) 59,00.
    ISBN: 978-3-7720-8127-9.
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Todorov und die Unzufriedenen

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1972 erschien die deutsche Übersetzung der Introduction à la littérature fantastique (Frz: Paris 1970) von Tzvetan Todorov, der Phantastik darin als »verschwimmende Gattung« 1 fasste und damit ein Problem bezeichnete, das zumindest die deutsche Literaturwissenschaft bis heute beschäftigt: Wie soll man eine klare, allgemeingültige und unzweideutige Definition von Phantastik finden, wo diese sich doch gerade in ihrer Mehrdeutigkeit und Ambiguität zu konstituieren scheint? Todorov sieht die Unschlüssigkeit der Leser, ob die geschilderten Ereignisse tatsächlich einen übernatürlichen Ursprung haben oder nur Wahngebilde und somit aus den Gesetzen der rational-empirischen Wirklichkeit ableit- und begründbar sind, als Vorbedingung phantastischer Literatur an.

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Zwar war Todorov weder der einzige noch der erste, der sich dieses Themas annahm, doch ohne Zweifel ist es seine Theorie, die im deutschsprachigen Raum am stärksten rezipiert wurde. In der Folge entspann sich eine Debatte, die ihren Niederschlag in einer Fülle von Publikationen fand, die sich auf unterschiedliche Weise des Themas annahmen und zu einer konsensfähigen Definition zu kommen suchten. Exemplarisch seien hier nur die von Rein A. Zondergeld herausgegebene Phaïcon-Reihe sowie die Monographien von Florian Marzin und Marianne Wünsch genannt (letztere vor allem, da sie im vorliegenden Band nicht zu Wort kommen). 2

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Dabei wurde von verschiedenen Seiten durchaus heftige Kritik an Todorovs Modell geübt. Drei Dinge standen hier besonders im Mittelpunkt der Kritik. Erstens, dass Todorov durch sein Kriterium der absoluten Unschlüssigkeit, die bis über den Schluss des Werkes hinaus aufrecht erhalten sein müsse, eigentlich kaum Werke vorweisen kann, die überhaupt noch unter seine Definition fallen. Zweitens, dass seine Gegenüberstellung von empirischer und übernatürlicher Wirklichkeit unterkomplex sei und den Wirklichkeitsbegriff zu wenig problematisiere. Und drittens seine These, dass die Phantastik mit dem Aufkommen der Psychoanalyse obsolet werde (da diese das Übernatürliche im Symbolischen aufgehen lasse).

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30 Jahre später:
Quo vadis, Phantastik?

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Der vorliegende Sammelband stellt nun dreißig Jahre nach Todorov die Frage erneut: Was ist eigentlich phantastische Literatur? Versammelt sind Beiträge von »namhafte[n] Phantastik-Experten« (Klappentext) ebenso wie von Nachwuchswissenschaftler/innen, die aus den jeweiligen Vorträgen auf einem der Publikation vorangegangenen Workshop entstanden sind, der im Juni 2002 stattfand (so Clemens Ruthner in seinem Vorwort, S. 13). Clemens Ruthner, der selbst schon mehrere Bücher zum Thema veröffentlicht hat, 3 skizziert in seinem Vorwort die grundsätzliche Herangehensweise, auf die sich die Beiträger/innen geeinigt haben. So sei es aufgrund der Ausdifferenzierung der verschiedenen Phantastikdefinitionen und der daraus resultierenden kaum überschaubaren Diversität der Ansätze sinnvoll, sich »auf ein Referenzkorpus literarischer Texte« zu einigen, »auf die die vorgetragenen theoretischen Ansätze exemplarisch angewandt werden sollen« (S. 13). Dieser Korpus besteht aus fünf kanonischen Phantastiktexten, von E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann (1816) bis zu Jorge Luis Borges’ Tlön, Uqbar, Orbis Tertius (1940). Leider wird der Vorsatz, sich auf diese fünf Primärtexte zu beziehen, nicht konsequent eingehalten. So beschäftigt sich zum Beispiel Ursula Reber in ihrem Beitrag (der auch stilistisch durch seine extrem langen und komplexen Sätze auffällt) mit Metamorphosen bei Ovid, ohne Bezug auf die Referenztexte zu nehmen. An und für sich ist das natürlich keineswegs verwerflich, es ist im Grunde eher begrüßenswert, dass das thematische Spektrum historisch in die Antike verlängert (und medial auf Sprach- und andere Bilder ausgeweitet) wird. Es stellt sich aber doch die Frage, warum überhaupt eine solche Begrenzung eingeführt wurde, wenn sie dann doch nicht durchgehalten wird.

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Definitionen und
Dekonstruktionen

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Der Band wird eröffnet von Hans Richard Brittnacher, der in seinem Beitrag »an einige Unhintergehbarkeiten der phantastischen Literatur« erinnern möchte. Damit meint er erstens die körperliche Dimension der Phantastik, die im Gegensatz zur »sinnliche[n] Abstinenz« (S. 17) der Aufklärungsästhetik beabsichtige, bei den Leser/innen körperliche Reaktionen hervorzurufen. Zweitens, so Brittnacher, sei sie geprägt von der internen Spannung zwischen ihrer konventionellen – und damit tendenziell eher beruhigenden als subversiven – Erzählform und ihrem Sujet, dem Tod. Die dritte Eigenschaft der Phantastik, die Brittnacher in der besonderen Hervorhebung der Kontingenz ausmacht, steht im Widerspruch zum soeben behaupteten Traditionalismus des Erzählens. Dieser Widerspruch wird durch die Postulierung einer zeitlichen Abfolge aufgelöst, in der die Novelle als »das Genre, das sich kompromisslos dem Unbegreiflichen verschrieben hat,« das Erzählen, »das vorgibt, die Welt sei in Ordnung,« (S. 21) ablöst. Damit ist aber eine Historizität der »Unhintergehbarkeiten« eingeführt, die deren Anspruch auf universelle Gültigkeit untergräbt. Der Wechsel zwischen historisierenden Argumenten und als allgemeingültig behaupteten Charakteristika prägt dann auch die beiden weiteren von Brittnacher aufgezählten Merkmale: die misslungenen Initiationen der Protagonisten, die statt in gesellschaftlicher Integration in Wahnsinn und Tod enden und somit eine Absage an das Entwicklungsmodell der Aufklärung darstellten und dem unstillbaren und wahllosen Lesehunger der Rezipient/innen phantastischer Literatur, dem Brittnacher subversive, weil anti-kanonische Qualitäten zubilligt.

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Der Theologe und Religionswissenschaftler Marco Frenschkowski stellt in seinem Aufsatz die Frage »Ist Phantastik postreligiös?« und untersucht die komplexen Beziehungen zwischen Religion(en) und phantastischer Literatur. Davon ausgehend, dass Phantastik ein Phänomen der Moderne ist, das »als Kunstform nur entstehen [kann], wo ein Bruch in traditionellen religiösen Bezügen eingetreten ist« (S. 47), kommt Frenschkowski zu dem Schluss: »Das Phantastische ist jene Dekonstruktion von Wirklichkeit im Medium von Kunst, in der sich das Religiöse in der einen oder anderen seiner Facetten konstituierend in die dekonstruierte säkulare Normalität einmischt, ohne sich als Religiöses zu offenbaren« (S. 51). Eine Camouflage, so Frenschkowski weiter, die das Religiöse jedoch nur für eine begrenzte Zeit aufrecht erhalten könne.

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In seinem Beitrag unternimmt Niels Werber unter dem Titel »Phantasmen der Macht« eine Dekonstruktion der klassischen Unterscheidungskategorien von Todorov (Traum oder Realität, natürliche oder übernatürliche Erklärung der Ereignisse). Todorovs Definition setze die Möglichkeit einer klaren Unterscheidung zwischen Realem und Irrealem voraus und spreche ein ›Allegorieverbot‹ aus (da die allegorische Lesart die Frage nach der Wirklichkeit des Erzählten obsolet macht). Unter Berufung auf Poetiken der Antike und des 18. Jahrhunderts, die Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius von J. L. Borges und die Systemtheorie Luhmanns argumentiert Werber gegen solche ontologischen Kriterien und streicht heraus, wie sehr phantastische Texte in der Gegenüberstellung verschiedener Realitätskonstruktionen auf die Kontingenz ihrer (und somit aller) Realität verweisen. Nachdem er solchermaßen den linguistic turn in die Phantastiktheorie eingeführt hat, fällt Werber jedoch hinter seine eigenen Vorgaben zurück, wenn er über phantastische Romane der NS-Zeit schreibt, sie seien deswegen phantastisch, weil sie die sich am Ende in ihnen durchsetzende »Ordnung des Realen [...] als alternativlos darstellen« (S. 66). Denn letztendlich verweist doch gerade die Vorführung des Prozesses, in dem sich eine Ordnung gegenüber anderen, alternativen Varianten durchsetzt, auf deren vorläufigen und zwangsläufig nicht unhintergehbaren (und somit kontingenten) Charakter.

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»Jenseits und zurück« – so der Titel des Beitrags von Evelyne Jacquelin – meint in diesem Fall überraschenderweise nicht das Jenseits des Styx, sondern das Jenseits des Rheines: Frankreich. Es gelingt Jacquelin in der vergleichenden Betrachtung des Umgangs der französischen und der deutschen Literaturwissenschaft mit der Problematik einer Phantastikdefinition einen erfrischenden Blick auf die endlos scheinende Debatte zu werfen und die Aporien eines solchen Unterfangens klar und deutlich aufzuzeigen. Sie beginnt ihren Aufsatz mit der Feststellung, dass sich die französische Literaturwissenschaft im Gegensatz zur Germanistik nicht allzu schwer damit tut, das Phantastische als eigenständige und wissenschaftlich satisfaktionsfähige ›Gattung‹ anzuerkennen. Von diesem Befund ausgehend zeichnet Jacquelin die unterschiedliche Rezeption der Begrifflichkeiten im Umfeld des »Phantastischen« seit der französischen und deutschen Romantik nach und zeigt auf diese Weise die literatur- und kulturhistorischen Wurzeln dieser Differenz auf. Gerade durch diesen transdisziplinären Blick kann sie in bemerkenswerter Klarheit den Finger auf die internen Widersprüche einer Diskussion legen, die trotz aller Kritik an Todorov im Grunde dem impliziten Strukturalismus ihres eigenen Unterfangens auf den Leim gegangen ist: eine eindeutige und klare Definition zu finden, dem sich ein historisch und kulturell völlig heterogener Textkorpus unterzuordnen habe. Jacquelin traut sich, die ›Sinnfrage‹ noch einmal zu stellen und der Suche nach einer universalen Definition, die im Lichte poststrukturalistischer Theorien kaum noch zeitgemäß erscheint, eine deutliche Absage zu erteilen:

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Texte lassen sich eben nicht nach einem einheitlichen Schema klassifizieren, sondern können [...] dieser oder jener schon bestehenden, literaturhistorisch tradierten, aber auch pragmatisch oder analogisch bestimmten Richtung zugeschlagen werden. [...] Einen Text als phantastisch anzusehen, bedeutet in dieser Hinsicht nicht dessen rechthaberische Fixierung auf ein einengendes Muster; es stellt nur eine mögliche Lesart dar, die andere Analysen und Zuordnungen keineswegs ausschließt. (S. 83–84)
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Damit ist natürlich keineswegs einer totalen Beliebigkeit das Wort geredet, sondern lediglich einer methodischen Pragmatik, die eben nicht ein monolithisches Urteil fällen, sondern ihren Gegenstand vielmehr stets neu konturieren muss. Ein solcher pragmatischer Zugang wird der Heterogenität des Gegenstands gerechter, da er die interpretatorischen Aussagen auf die jeweils untersuchte historisch und kulturell spezifische Ausprägung beschränkt, deren Grenzen der jeweiligen Fragestellung entsprechend von Fall zu Fall neu zu ziehen sind.

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Clemens Ruthner schlägt in seinem Aufsatz vor, die Phantastik auf »Imaginierte Referenzen« (so auch der Titel des Beitrags) zurückzuführen. Damit schließt Ruthner an Theorien Jan Christoph Meisters an, die in der Phantastik eine mythische Identität von Signifikat und Signifikant am Werk sehen. Ruthner schlägt vor, Phantastik als Resultat einer konkreten Ausgestaltung von Abstrakta zu verstehen und zieht zur Demonstration Hoffmanns Der Sandmann heran, wo die eponyme Figur in der kindlichen Phantasie Nathanaels konkrete Gestalt annehme. »Personifizierung, Hypostasierung, wilde Referenzialisierung« (S. 143) sind Ruthner zufolge die Prinzipien, die den Urgrund des Phantastischen bilden. Ruthner kommt zu dem Schluss, das Phantastische hätte als »Denkverfahren [...] auch über seine Wortetymologie hinaus mit dem ›Phantasieren‹ zu tun: als universale Kulturtechnik beziehungsweise als Sprachspiel, das mit den Mitteln der Einbildungskraft zu Wörtern ein referens sucht, um das Skandalon zu überbrücken, dass es ein Solches möglicherweise nicht gibt« (S. 144).

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Historische Aspekte
und Genregrenzen

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Renate Lachmann untersucht in »Schlüssiges – Unschlüssiges (Nach und mit Todorov)« die Herkunft des Todorov’schen Unschlüssigkeitspostulats aus den Poetologien der Romantik. Ihre »Konzeptgeschichte der ›hésitation‹« (S. 93) führt als Kronzeugen E.T.A. Hoffmann und seine Kritiker Puschkin, Maupassant und Henry James auf, an deren Texten Lachmann (der Argumentation ihrer 2002 erschienenen Studie Erzählte Phantastik 4 folgend) das In- und Gegeneinander aufklärerischer und gegenaufklärerischer Deutungsmuster aufzeigt. Bezüglich der Neophantastik des 20. Jahrhunderts stellt Lachmann fest, dass sie – an die Phantastik der menippeischen Satire anknüpfend – »Concettismus und Gedankenexperiment an die Stelle der Mirakel und Ekstasen« setzt (S. 96) und sich somit der »semantische[n] Struktur der Unschlüssigkeit« (S. 97) entzieht. Während also – so Lachmanns Fazit – die romantische und nachromantische Phantastik »aus dem Zusammenstoß der konträren Signifikate – Irrealität-Realität« entstehe und den Zweifel mit einschließe, sei es in »der einpolig konstruierten Neophantastik [...] die Katapultierung in das ganz ›Andere‹, die [...] eine Art kognitiven Schock« hervorrufe, ohne »auf Bezweiflung angewiesen« zu sein (S. 97).

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Die Bedeutung der Romantik für die phantastische Literatur steht auch im Mittelpunkt des Beitrages von Thomas Grob. Unter dem Titel »Phantastik, Phantasie, Fiktion: Autoreflexive Phantastik und ihr romantisches Erbe« weist er auf die Notwendigkeit einer historischen Kontextualisierung des Phantastikbegriffs hin und leistet dies, indem er »einige Aspekte des ›Fiktionalitätsproblems‹ phantastischer Literatur mit Blick auf das diesbezüglich für die ›moderne‹ Phantastik prägende romantische Umfeld« diskutiert (S. 147).

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Dass der Unterschied zwischen literarischer Phantastik, Schauerliteratur und Science-Fiction vor allem in einem unterschiedlichen Modus des Erzählens zu suchen ist, demonstriert Roland Innerhofer in seinem Beitrag beispielhaft am Motiv des künstlichen Menschen. Während die Phantastik (und Innerhofer bezieht sich hier offensichtlich auf die Zeitspanne zwischen ca. 1800 und 1930) sich besonders durch eine konstitutive »Verunsicherung der Wahrnehmung« (S. 120) aufgrund einer Unterminierung der Erzählinstanz auszeichne, erzählten Schauerliteratur und Science-Fiction oft einsinniger. Letztere zielt, so Innerhofer, auf einen sprachlich erzeugten »Realitätseffekt« (S. 133); die Schauerliteratur dagegen neige im Gegensatz zur Phantastik zur Psychologisierung. Als Beispiele dienen Innerhofer hier Hoffmanns Der Sandmann (Phantastik), Shelleys Frankenstein (Schauerliteratur) und Jules Vernes Le château des carpathes (Science-Fiction). Innerhofer verliert dabei jedoch nie aus dem Blick, wie fließend die Übergänge sind und dass klare Genregrenzen immer rein fiktive Idealformen sind, die mit der Realität der Einzeltexte kaum etwas gemein haben. Denn »[g]erade im generischen Feld von Schauerliteratur, Phantastik und Science-Fiction zeigt sich, dass die einzelnen Texte ästhetischen Reiz gewinnen, wenn Übergänge und Überlappungen sichtbar, Gattungsmuster und Erwartungen unterlaufen werden« (S. 120). Genau dies zeigt Innerhofer an seinem vierten Textbeispiel, Villiers de l’Isle-Adams L’Ève future.

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Markus May dagegen greift in einem Aufsatz »Die Zeit aus den Fugen« den Bachtinschen Begriff des Chronotopos auf, um ihn für die Analyse phantastischer Texte fruchtbar zu machen, und versucht dies anhand dreier Chronotopoi, des Traumes, der Metamorphose und des gothic castle, zu exemplifizieren.

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Neo-Phantastik

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Die drei den Band beschließenden Beiträge setzen sich mit der Neo-Phantastik des 20. Jahrhunderts auseinander und weiten abschließend den Blick über das Medium Literatur hinaus auf visuelle Darstellungsformen wie Film und bildende Kunst.

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Der Aufsatz von Jörg Dünne geht unter dem Titel »Borges und die Heterotopien des Phantastischen« den medialen Umbrüchen der Moderne nach, welche die Neo-Phantastik von Borges in besonderer Weise reflektiere. Seine von Foucaults Ordnungen des Wissens inspirierte Analyse von Borges’ Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius zeigt, wie sich die dort generierte »enzyklopädische Phantastik« (S. 201) aus medialen Heterotopien speist, also zum Beispiel aus den Orten, »die in der alphabetischen Ordnung einer Enzyklopädie prinzipiell durchaus existieren, aber nicht von Wörtern in der natürlichen Sprache besetzt sind« (S. 201). So befindet sich der lexikalische Eintrag zum phantastischen Land »Uqbar« eben in jenem imaginären Bereich, der weder von einem Lexikonband »Tor-Ups« noch von seinem Nachfolger (der zum Beispiel mit »Ura« fortfährt) abgedeckt wird. In seiner Buchversessenheit setzt sich Borges, so Dünne, von seinen den neueren visuellen Medien aufgeschlossenen Kollegen (wie Bioy Casares) deutlich ab.

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»Wie die phantastische Hand neo-phantastisch wird« führt der gleichnamige Beitrag von María Cecilia Barbetta aus. Barbetta zufolge ist die Neophantastik besonders dadurch gekennzeichnet, dass sie spielerisch-ironisch mit dem Schrecken umgeht. So auch mit dem Horrormotiv der abgetrennten Hand, das den Kontrollverlust des Subjekts in der Moderne versinnbildliche. Während die ›klassische‹ Phantastik des 18. und 19. Jahrhunderts einem positivistisch-empirischen Realitätsbegriff der Aufklärung verpflichtet sei, dem jeglicher Bruch mit den wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten als zutiefst suspekt gelten müsse, könne die Neophantastik des 20. Jahrhunderts von einer Wirklichkeitsauffassung ausgehen, »die reicher an Schattierungen ist« (S. 218). In ihren selbstreflexiven Sprachspielereien offenbare sich eine stärkere Berücksichtigung der »mediale[n] Komponente der Phantastik« (S. 223).

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Den Abschluss des Bandes bilden einige Überlegungen des Kunsthistorikers Peter Assmann zum Verhältnis von »Wort und Bild« in der Phantastik, welche zu einer übergreifenden Phantastikdefinition beitragen wollen, die für Literatur und Kunst gleichermaßen gelten könne. Leider bleiben die Ausführungen doch wieder auf Literatur beschränkt und kommen über eine Reformulierung des Befundes, dass Phantastik aus Konflikten widersprechender Wahrnehmungen entsteht, nicht hinaus. Durch die von Assmann vorgenommene Beschränkung des Wahrnehmungsbegriffs auf das Visuelle ist noch dazu längst keine wirkliche Transmedialität gegeben; sie führt im Gegenteil zu einer unproduktiven Reduktion des Phänomens.

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Fazit

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Der Band demonstriert, wie sehr sich die Phantastikforschung in den letzten dreißig Jahren diversifiziert hat. Anstatt auf Homogenität der Beiträge zu setzen und dafür eine perspektivische Verengung in Kauf zu nehmen, leistet es sich der Band, die ganze Bandbreite der Ansätze in ihrer Heterogenität aufzuzeigen. Eine zweischneidige Sache: denn einerseits (und das ist eine Stärke des Bandes) wird damit das Forschungsfeld nicht einseitig in seiner Komplexität reduziert. Andererseits wird damit auch keinerlei Orientierungshilfe geleistet und die Leser/innen werden mit den teilweise in Zielsetzung, Gegenstand und Argumentation arg auseinanderklaffenden Beiträgen allein gelassen. Einen grundlegenden Beitrag, der mehrere Ansätze diskutiert und vielleicht sogar zusammenführt, sucht man hier leider vergebens (am nächsten kommen diesem Desiderat die Beiträge von Renate Lachmann und Evelyne Jacquelin). Wer sich von dieser Einstiegsschwierigkeit nicht abschrecken lässt, bekommt dafür allerdings in einer Art Proceedings der Phantastikforschung einen interessanten Einblick in die verschiedensten ›Labore‹ der theoretischen Auseinandersetzung mit phantastischer Literatur.

 
 

Anmerkungen

Tzvetan Todorov: Einführung in die fantastische Literatur. München: Hanser 1972, S. 40 f.   zurück
Rein A. Zondergeld (Hg.): Phaïcon 1–5. Frankfurt/M.: Insel/Suhrkamp 1974–1982; Florian F. Marzin: Die phantastische Literatur. Eine Gattungsstudie. Frankfurt/M. u.a.: Lang 1982; Marianne Wünsch: Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890–1930). Definition. Denkgeschichtlicher Kontext. Strukturen. 2., unveränderte Auflage. München: Fink 1998.   zurück
Zuletzt seine Monographie Am Rande. Kanon, Kulturökonomie und Intertextualität des Marginalen am Beispiel der (österreichischen) Phantastik im 20. Jahrhundert. Tübingen: Francke 2004.   zurück
Renate Lachmann: Erzählte Phantastik. Zu Phantasiegeschichte und Semantik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002.   zurück