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Vom Kleinen ins Kleinste

Davide Giuriato nimmt Walter Benjamins Berliner Chronik und Berliner Kindheit um neunzehnhundert unter die Lupe

  • Davide Giuriato: Mikrographien. Zu einer Poetologie des Schreibens in Walter Benjamins Kindheitserinnerungen (1932-1939). (Zur Genealogie des Schreibens 5) München: Wilhelm Fink 2006. 324 S. 13 farb. Abb. Kartoniert. EUR (D) 39,90.
    ISBN: 978-3-7705-4274-1.
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Das übersprungene Archiv

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In der Literatur über Walter Benjamin wurde die Instanz des Archivs oft übersprungen. Die Forschung ging vom Text der Gesammelten Schriften aus; kaum einmal nahm sie die archivischen Dokumente, namentlich das umfangreiche Manuskript-Material im Nachlass selbst in den Blick. Selten hielt sie sich über die materiale Gestalt der einzelnen Überlieferungsträger auf. Das ist umso verwunderlicher, als Benjamin dem ästhetischen Aspekt der Schrift, ihrer graphisch-materialen Bestimmtheit große Aufmerksamkeit gewidmet hat – theoretisch wie in der Praxis seines Schreibens. Auf die Gestaltung seiner Manuskripte verwandte er oft viel Sorgfalt. Genaue Überlegungen zur Disposition seiner Aufsätze und Bücher waren ihm ebenso wichtig wie die Proportionen, die Architektur einer Seite. Dass Benjamin wählerisch an speziellen Substraten und Substanzen des Schreibens festhielt – an »gewissen Papieren, Federn, Tinten«, wie es in der Einbahnstraße heißt –, das bezeugt, wie bedeutsam ihm die materiale Seite seiner Arbeit war.

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Gegenüber einer materialvergessen eingespielten Philologie wendet Giuriatos Arbeit – das Buch ist die leicht überarbeitete Fassung einer Dissertation an der Universität Basel – sich nun zurück auf das übersprungene Archiv. Hat die bisherige Rezeption der Berliner Chronik und Berliner Kindheit um neunzehnhundert »die materielle Hinterlassenschaft noch nicht genügend zu ihrer Grundlage gemacht« (S. 9), so stützt seine Untersuchung sich systematisch auf die Dokumente im Nachlass: die Aufzeichnungen der Berliner Chronik in einem Notizbuch, die vier großen Konvolute 1 der Berliner Kindheit, besonders aber auch die Entwürfe, Titellisten und Notizen auf einzelnen Blättern und Zetteln (von denen viele noch unveröffentlicht sind).

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Dabei nimmt die Studie vor allem die materialen und graphischen Aspekte der Überlieferungsträger – diese also nicht nur als Textträger – in den Blick. Solche Aspekte gelten im Allgemeinen als sekundär; in den Gesammelten Schriften werden sie in den Apparatteilen knapp beschrieben. Hat die Edition ihre Hauptaufgabe in der Herstellung lesbarer Texte gesehen, so widmet Giuriatos Arbeit sich ebenso individuell eingehend wie theoretisch reflektiert auch den äußeren Gegebenheiten, den visuellen Aspekten: Graphische Ausformung, Schriftbildlichkeit, materiale Qualitäten – wie das Durchscheinen spiegelverkehrter Schrift (S. 121 ff.) oder die Faltung eines Blattes (S. 138 ff.) – rücken in den Fokus des Interesses. 2

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Giuriatos Arbeit sucht eine Darstellung »sowohl der textuellen als auch der materiellen Geschichte des unabgeschlossenen Kindheitsbuches« (S. 9) zu geben. Sie nimmt sich die Notizen und Entwürfe der Berliner Chronik und Berliner Kindheit in doppelter Einstellung vor: als Sichtbares und als Lesbares, als Material und als Text. Philologische Textzentriertheit soll vermieden werden – genauso aber auch jeder Materialfetischismus. Fällt ein starker Akzent aufs Materiale, so ist dies zu sehen als Korrektiv gegen die Einseitigkeit »einer weitgehend text- und werkästhetisch orientierten Philologie«. 3 Die doppelte Betrachtung, das Hin und Her zwischen Äußerlichkeiten und Sprachlich-Bedeutendem, zwischen Graphischem und Textualität – das ist der geübte Pfiff von Giuriatos Interpretationen. Immer wieder versucht er, Korrespondenzen zwischen geschriebenem Text und seiner materialen Grundlage aufzuweisen. »Die Analysen im zweiten Teil dieser Arbeit […] setzen das Geschriebene immer wieder in Bezug zu seinem materiellen Substrat« (S. 116).

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Mikrographie

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Bereits im ersten Teil geben die Mikrographien eine Deutung der Benjaminschen Kleinschrift, des minimalen Schriftgrads, der für viele seiner Manuskripte etwa ab 1918 charakteristisch ist. Bekanntlich hat Benjamin vielfach in enggeführt-kleiner, ja winziger Schrift – dabei fein artikuliert, kaum je nachlässig geschrieben. Giuriato differenziert das Verhältnis zum Kleinen in viererlei Hinsicht: Es äußert sich nicht nur graphisch, sondern auch »formal, stilistisch und thematisch« (S. 94). Die mikrographischen Züge korrespondieren mit einer Poetologie der »kleinen Form«, der Tendenz zu stilistischer Verknappung und der Thematisierung der Kindheit und des Kleinen. In den zwanziger Jahren (nachdem Benjamin 1918 Vater geworden ist) werden Spielzeug und Spielen, Sprachfibeln, Kinderbücher und -theater Themen seines Schreibens. Bestimmend wird die mikrologische Methode, das Interesse fürs Beiläufige und Nebensächlich-Kleine. »Das mikrologische Interesse kommt mikrographisch zur Darstellung« (S. 116). Es ist Benjamins konzentrierte Genauigkeit, der Sinn fürs Detail, der sich in der »Mikrographie« niedergeschrieben hat.

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Auto’graphie

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Seine stückhaft-kleinen Kindheitserinnerungen, die Bilder von Orten, Dingen und Tätigkeiten entwerfen, hatte Benjamin abgehoben von der Autobiographie. Giuriato sucht sie »als auto’graphischen Schreibprozeß zu fassen« (S. 92). Die Schrumpfform »Auto’graphie« reflektiert im Verständnis des Verfassers ein Schreiben, dem das »Leben« (»bios«) gebricht. »Das auto’graphische Schreiben kennt kein ›Leben‹ mehr, dessen es erinnernd habhaft werden könnte« (S. 131). Übrig bleibt das »apostrophische Selbstschreiben«: Die »Auto’graphie« erinnert nur mit einem dürren, kleinen Strich, einem Apostroph an das fehlende Leben.

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In der Konsequenz der »auto’graphischen Dynamik« (S. 202) liegt die fortschreitende Miniaturisierung, die Schrumpfung der Stücke, wie sie für die spätere Arbeitsphase der Berliner Kindheit bezeichnend ist. »Die Weglassung ist nun das prägendste Merkmal für Benjamins Um-Schreibungen seiner Kindheitserinnerungen ab 1933« (S. 155). Im Übergang vom Gießener zum Pariser Typoskript von 1938 wird der Text um etwa ein Drittel kürzer: Bewegung der Mikrographie, die auch in der so genannten »Fassung letzter Hand« – Giuriato lehnt diese Bezeichnung ab –, vom Pariser Typoskript überliefert, nicht zu einem Ende gelangt. Ist Erinnerung unabschließbar, so mussten auch die Kindheitserinnerungen ein unabgeschlossenes Schreibprojekt, work in progress bleiben.

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Dokumentation eines
work in progress

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Im abschließenden dritten, dokumentarischen Teil seiner Arbeit gibt der Verfasser zunächst einen kritischen Überblick »Zur Editionsgeschichte der Kindheitserinnerungen«. Sodann stellt er Überlieferungsbefund und Entstehungsgeschichte der Berliner Chronik und Berliner Kindheit dar. Gestützt auf Recherchen im Walter Benjamin Archiv, erschließt die umfassende Dokumentation »nicht nur die großen Konvolute der Berliner Kindheit und die einzelnen, zu Lebzeiten publizierten Stücke, sondern auch all jene Schriftträger, die Skizzen, Vorarbeiten, Notizen, Entwürfe, einzelne Stücke oder Brouillons der Kindheitserinnerungen enthalten und die erst teilweise bekannt sind« (S. 223). Bei der komplizierten Überlieferungslage ist Giuriatos chronologische Übersicht, die eine detaillierte materiale Beschreibung der einzelnen Schriftträger einschließt, überaus wertvoll. Es ist verzwickt schwer, die fraglichen Entstehungszusammenhänge aufzudröseln; und wenn auch der Verfasser zu keiner absoluten Chronologie gelangen kann, ist seine Zusammenstellung doch von großem Nutzen.

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Im letzten Kapitel des Buches sind einige unbekannte Notizen, Entwürfe und Titellisten zur Berliner Kindheit in Abbildungen und (oder) Transkriptionen gegeben. Was die Zuverlässigkeit der letzteren anlangt – Benjamins Schrift ist manchmal ja nicht leicht zu lesen –, so darf man ihnen gegenüber vielleicht nicht die Ansprüche haben, die an eine kritische Ausgabe zu stellen sind. Da aber der Verfasser mit den Gesammelten Schriften hart ins Gericht geht, sei doch gesagt, dass seine Entzifferungen teilweise flüchtig oder fehlerhaft und im Ganzen weniger verlässlich als Transkriptionen in der Ausgabe von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser sind. 4

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Fazit

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Der Leser von Giuriatos Untersuchung hat an einigen Stellen mit mühsamen Satzkonstruktionen zu tun. Gespreizte und hölzern formulierte Sätze sind in ihr leider nicht selten. 5 Doch trotz dieser Mäkeleien: Die klug konzipierte, profunde Arbeit ist wohl die anregendste zur Berliner Kindheit um neunzehnhundert, die in den vergangenen Jahren erschienen ist. Ihre Qualität liegt in der Verbindung von handschriftenkundiger Betrachtung und ins Kleinste gehender philologischer Deutung, geduldiger Akribie im Blick aufs Material und theoretischer Reflexion. Die Studie, die Fragestellungen der critique génétique und avancierte Methoden der Editionswissenschaft an Benjamins Handschriften heranträgt, hat an den Notizen und Entwürfen zur Berliner Kindheit einen ebenso schwierigen wie lohnenden Gegenstand. Eindrucksvoll belegt sie die Fruchtbarkeit der Arbeit im Archiv.

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Zu Fragen der Benjamin-Edition hat Giuriatos Untersuchung einen wertvollen Beitrag geleistet – allein schon durch die detaillierte Dokumentation der überlieferten Textträger im 8. Kapitel. Eine neue Gesamtausgabe, Werke und Nachlaß Walter Benjamins, wird ab Frühjahr 2008 im Suhrkamp Verlag erscheinen. Davide Giuriatos Mikrographien machen gespannt auf die Neuedition der Berliner Chronik und Berliner Kindheit um neunzehnhundert, die Burkhardt Lindner im Rahmen der Gesamtausgabe vorbereitet.

 
 

Anmerkungen

Das sind zwei Handschriften-Konvolute: das »Felizitas-Exemplar« (1932/1934) und das »Stefan-Exemplar« (1932) – sowie zwei Typoskript-Konvolute: das von Rolf Tiedemann 2000 separat veröffentlichte »Gießener Typoskript« (1932/1933) und das »Pariser Typoskript« (1938), das in Band VII·1 der Gesammelten Schriften als »Fassung letzter Hand« publiziert wurde.   zurück
Vgl. hierzu auch die parallele Publikation von Davide Giuriato und Stephan Kammer (Hg.): Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur. Basel, Frankfurt/M.: Stroemfeld 2006. In ihrem Beitrag »Zur Einleitung« in diesen Band wenden die Herausgeber sich gegen ein Verständnis, das »dem visuellen Aspekt der Schrift allenfalls ornamentale Funktionen zuschreibt« (ebd., S. 18). Das vorrangige Textinteresse verstelle den Blick auf die »graphische Dimension der Literatur«: nicht-buchstäbliche Zeichen, skripturale Bildlichkeit, ästhetische Qualitäten der Manuskripte.   zurück
Ebd., S. 19.   zurück
Auf einer bisher unveröffentlichten Seite des »Felizitas-Exemplars« der Berliner Kindheit liest Giuriato zum Beispiel (S. 272): »Nie wieder können wir Vergessnes ≠ herausziehn« (statt »herausziehn« heißt es richtig: »heraufziehn«); »für jeden gibt es Dinge, die tiefer eingewurzelte Resten in ihm entfalteten als alle andern« (statt »Resten« heißt es richtig: »Reflexe«); »Viel näher ist mir freilich die Luft geblieben, sie […] mir durch und durch zu mischen« (statt »Luft« heißt es richtig: »Lust«); »unenthaltsam aus ihm abströmt« (statt »unenthaltsam« heißt es richtig: »unaufhaltsam«); »So war der Umgang mit den Lettern« (statt »der Umgang« heißt es richtig: »ihr Umgang«); »So mag sich mancher noch erinnern« (richtig heißt es: »So mag sich mancher heute noch erinnern«); »dieses selber« (richtig heißt es: »die׀wir selber«); »jede einzeln vollendet« (richtig heißt es: »jede einzelne vollendet«).   zurück
Zum Beispiel der folgende Satz: »Die Dissoziation von Schreiber, Hand des Schreibers, Schreibwerkzeug und Geschriebenem, wie sie Benjamin in bezug auf das Zeitalter mechanisierten Schreibens artikuliert und wie sie das Selbstverständnis von Benjamins materiell vorgeführter Mikrographie prägt, bestimmt seine Füllfederhalter-Produktion also dahingehend, daß sie sowohl konzeptuell als auch schreibpraktisch auf einer spezifischen Verortung der Handschrift als jenem eigentlichen ›Reich des Kleinen‹ beharrt.« (S. 41 f.)   zurück